Faust.
Der Tragödie erster Theil
Johann Wolfgang von Goethe
Studirzimmer II. (4)
Faust.
1651 Nein nein! der Teufel ist ein Egoist
Faust antwortet hier entschieden, fast erschrocken, mit einer doppelten Verneinung: »Nein nein!« – eine rhetorische Verstärkung, die seine Ablehnung oder seine Überraschung verdeutlicht. Inhaltlich entlarvt er Mephisto als Egoist, als ein Wesen, das ausschließlich auf das eigene Wohl und den eigenen Vorteil bedacht ist. Der Begriff »Egoist« hat im 18./19. Jahrhundert eine klare moralisch-negative Konnotation: ein Egoist verstößt gegen die Prinzipien von Mitgefühl, Altruismus und christlicher Nächstenliebe. In diesem Sinn widerspricht Faust hier möglicherweise einem Gedanken Mephistos oder einer Täuschung, in der der Teufel als hilfreich oder gar gut gemeint erscheinen könnte. Die Charakterisierung Mephistos als Egoist verweist auf dessen grundsätzliche Unfähigkeit zur echten Empathie – und gleichzeitig auf Fausts zunehmende Klarheit über dessen wahres Wesen.
1652 Und thut nicht leicht um Gottes Willen
Faust vertieft seine Einschätzung: Der Teufel handelt nicht »um Gottes Willen«, also nicht aus frommen oder höheren Motiven heraus. Die Redewendung »um Gottes Willen« bedeutet hier nicht nur »aus Güte« oder »aus Mitgefühl«, sondern verweist auch auf eine göttliche Ordnung, ein moralisches Weltgesetz, dem Mephisto sich nicht unterwirft. Mit dem Einschub »nicht leicht« wird angedeutet, dass es zwar theoretisch möglich wäre, dass auch der Teufel einmal etwas Gutes täte – aber das geschähe dann widerwillig, aus Zufall oder in Täuschung. Der Teufel bleibt also außerhalb des göttlichen Heilsplans – oder wirkt allenfalls paradoxerweise in ihm, wie es spätere Stellen (z. B. Prolog im Himmel) andeuten.
1653 Was einem andern nützlich ist.
Hier klärt Faust die eigentliche Stoßrichtung: Mephisto wird nichts tun, »was einem andern nützlich ist«, also nichts, was dem Wohle des Anderen dient. In dieser Formulierung liegt eine grundsätzliche Kritik an der Natur des Teufels als Anti-Altruisten: Nutzen, Hilfe, Gemeinschaft, Aufbau, Förderung – all das liegt außerhalb seines Wesens. Er ist der Prinzipien-Gegner alles Positiven, der Destrukteur. Interessant ist, dass Faust hier ganz im Sinne eines ethischen Utilitarismus argumentiert – das Gute ist das, was einem anderen nützt. Mephisto hingegen ist das Gegenteil dieser Haltung: sein Tun ist, wie er selbst im »Prolog im Himmel« sagt, »stets verneinend«, destruktiv, selbstbezogen.
Zusammenfassend 1651-1653
In diesen drei Versen verdichtet sich Fausts vorläufige theologische und anthropologische Einschätzung des Teufels. Es ist ein moralisch-ethisches Urteil über das Wesen Mephistos – mit drei wesentlichen Tiefenschichten:
1. Theologie des Bösen:
Faust erkennt in Mephisto die Personifikation eines metaphysischen Egoismus. Der Teufel tut nichts »um Gottes Willen« – das Böse steht außerhalb der göttlichen Ordnung, ist das Prinzip der Selbstbezogenheit. Diese Sicht korrespondiert mit klassischen christlichen Auffassungen, etwa bei Augustinus, der das Böse als Mangel an Gutem (»privatio boni«) begreift. Fausts Urteil verweist damit auf einen theologischen Subtext: Der Teufel steht jenseits von Liebe, Gemeinschaft und Heilsordnung.
2. Ethik des Nutzens (Frühaufklärung):
Die Aussage »was einem andern nützlich ist« deutet auf eine aufklärerisch geprägte Ethik, wie sie z. B. bei Christian Wolff oder in der französischen Aufklärung (Rousseau, Voltaire) zum Tragen kommt. Moralisch gut ist, was dem anderen dient – also sozial, nützlich, vernunftgemäß ist. Fausts Kritik an Mephisto ist also nicht nur metaphysisch, sondern auch rational-moralisch fundiert.
3. Selbsterkenntnis im Dialog mit dem Bösen:
In einer tieferen dialektischen Bewegung erkennt Faust in der Spiegelung Mephistos auch etwas über sich selbst. Wenn der Teufel der Egoist ist, wird implizit die Frage aufgeworfen, worin Faust sich von ihm unterscheidet – oder ob er selbst nicht bereits durch seinen Pakt einen Teil des Egoismus angenommen hat. Die Aussage gewinnt so eine doppelte Bewegung: sie grenzt Mephisto ab – und führt zugleich Faust an die Schwelle zur Selbsterkenntnis.
Fazit
Fausts dreizeilige Charakterisierung des Teufels als egoistischen und nicht-nützlichen Geist verdichtet auf engstem Raum zentrale theologische, ethische und existenzphilosophische Einsichten. Es ist eine Warnung vor dem Schein des Bösen, das sich in Nutzen tarnt, aber in Wahrheit nur sich selbst dient. Gleichzeitig ist es eine Selbstaussage: Faust, der sich auf Mephisto eingelassen hat, muss sich fortan fragen, ob und wie weit auch er selbst von diesem egoistischen Prinzip betroffen ist. So wird aus diesen drei Versen ein Moment existenzieller Selbsterhellung im Spiegel des Anderen.
1654 Sprich die Bedingung deutlich aus;
Faust fordert von Mephistopheles Klarheit über den Pakt, der sich zwischen ihnen abzeichnet. Die Formulierung ist nüchtern und direkt – Faust verlangt nach Transparenz und rechtlicher Genauigkeit, beinahe juristisch: »deutlich« verweist auf einen bewussten Willensakt, die Bedingungen des Vertrags explizit zu formulieren. Dieser Vers markiert eine entscheidende Schwelle in der Szene – Faust beginnt, die Verlockung Mephistos ernsthaft in Betracht zu ziehen, aber er zeigt noch eine gewisse Vorsicht. Die Forderung nach Klarheit hat zwei Dimensionen: erstens erkennt Faust die Tragweite dessen, was sich hier anbahnt; zweitens offenbart sich bereits eine Ahnung davon, dass das vermeintlich Angebotene an Bedingungen geknüpft ist, die gefährlich sein könnten. Hier schwingt eine uralte, theologisch-philosophische Frage mit: Inwiefern ist ein freier Wille noch frei, wenn er in einem bindenden Pakt handelt?
1655 Ein solcher Diener bringt Gefahr ins Haus.
Die zweite Zeile verleiht dem ersten Vers eine ambivalente Tiefe: Faust erkennt Mephistopheles als einen potenziell gefährlichen Bundesgenossen. Der Ausdruck »ein solcher Diener« ist doppeldeutig. Einerseits nimmt Mephisto die Rolle eines dienenden Geistes an – was eine Anspielung auf die biblische Dämonologie und die johanneische Vorstellung von diabolischer Knechtschaft sein kann. Andererseits ist die Aussage ironisch: Mephisto gibt zwar vor zu dienen, verfolgt aber eigene Ziele. Das Motiv des »Gefährten als Gefahr« findet sich in der mittelalterlichen Literatur ebenso wie in antiken Tragödien. Faust antizipiert die Doppelbödigkeit Mephistos – er erkennt, dass die scheinbare Dienstbarkeit eine Form der Herrschaft ist. In Goethes Sprachgebrauch ist »Gefahr ins Haus bringen« nicht nur ein idiomatischer Ausdruck – das »Haus« kann auch als Bild für die innere Welt Fausts verstanden werden: Mephisto tritt nicht nur in Fausts äußere Lebenswelt, sondern auch in dessen Seelenhaus ein.
Zusammenfassend 1654-1655
In diesen beiden Versen verdichtet sich ein zentrales Thema des »Faust«: das Verhältnis von Freiheit und Bindung, Erkenntnis und Verführung, Dienst und Herrschaft.
1. Freiheit im Pakt
Faust steht an der Schwelle zu einem Teufelspakt – einem der ältesten literarischen und theologischen Motive überhaupt. Doch Goethe bricht mit der traditionellen Dämonologie, indem er Faust nicht in naiver Verblendung, sondern in reflektierter Skepsis sprechen lässt. Faust will die Bedingungen kennen – er will wissen, womit er sich bindet. Damit steht er exemplarisch für die neuzeitliche Figur des selbstbestimmten Subjekts, das nicht blind glaubt, sondern wissen will, was es tut. Doch gerade diese Form des Willens zur Autonomie macht ihn angreifbar.
2. Diener – Herr – Spiegelung
Die Konzeption Mephistos als »Diener«, der Gefahr bringt, evoziert das dialektische Spiel von Macht und Unterwerfung. Mephisto verspricht Dienstbarkeit, doch in Wirklichkeit geht es um Kontrolle. Das wirft die Frage auf, inwiefern ein Mensch, der absolute Erkenntnis und Erfahrung sucht, sich notwendig einem Prinzip unterwerfen muss, das diese Erfahrungen ermöglicht – sei es Gott oder Teufel, Natur oder Technik. Der Pakt ist somit nicht nur ein moralisches, sondern ein metaphysisches Problem.
3. Hausherr und das Innere
Die Metapher vom »Haus« lässt sich tiefenpsychologisch deuten. In die eigene Existenz tritt ein »anderer« ein – ein Alter Ego, ein Schatten, ein Unbewusstes. Mephisto ist nicht nur äußerer Verführer, sondern Ausdruck der inneren Spaltung Fausts. Die Gefahr ist nicht nur eine Bedrohung von außen, sondern eine von innen: Mephisto bringt die Dunkelheiten ans Licht, die schon in Faust wohnen. Die Gefahr, die Faust erkennt, ist also auch seine eigene.
Fazit
In diesen zwei Versen verdichtet Goethe auf subtile Weise ein anthropologisches Grundproblem: Der Mensch als Suchender will Klarheit und Erkenntnis, aber die Mittel, mit denen er sie erlangt, sind ambivalent und gefährlich. In Fausts Drang nach Wissen liegt die Verlockung zur Selbstüberhebung, zur Grenzüberschreitung – doch gerade diese Haltung macht ihn zum exemplarischen modernen Menschen.
Mephistopheles.
1656 Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden,
Mit diesem feierlich klingenden Vers erklärt Mephistopheles seine Bereitschaft, Faust in dieser Welt zu dienen. Das Wort »verbinden« hat einen juristisch-vertraglichen Klang und verweist auf den Pakt, der zwischen den beiden geschlossen werden soll. Doch während Mephisto scheinbar Unterwerfung signalisiert (»zu deinem Dienst«), schwingt in der Wortwahl bereits ein doppelter Boden mit: Das »Ich will« legt nahe, dass Mephisto letztlich selbstbestimmt handelt. Seine »Dienstbereitschaft« ist eine List – sie dient dem Ziel, Fausts Seele zu gewinnen.
1657 Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn;
Diese Zeile verstärkt Mephistos scheinbare Unterwürfigkeit. Der »Wink« – eine kleinste Bewegung – soll ausreichen, Mephisto in Bewegung zu setzen. Die doppelte Negation »nicht rasten und nicht ruhn« evoziert eine unermüdliche, fast dämonisch-fleißige Bereitschaft. Doch auch hier schwingt Ironie mit: Diese Überbietung menschlicher Treue dient weniger Fausts Glück als vielmehr dessen Verführung. Der Vers kann als Persiflage auf die christliche Vorstellung eines dienstbaren Engels gelesen werden – hier jedoch ins Diabolische verkehrt.
1658 Wenn wir uns drüben wieder finden,
Dieser Vers ist der entscheidende Wendepunkt: Mephisto denkt bereits an das »Drüben«, das Jenseits. Im scheinbar unterwürfigen Dienstversprechen versteckt sich ein transzendenter Anspruch. Der Konjunktiv »wenn« gibt sich offen, doch Mephisto arbeitet gezielt auf diesen Moment hin. Der Pakt ist nicht nur auf die Lebenszeit beschränkt, sondern auf eine jenseitige Konsequenz angelegt. Der Teufel denkt stets über das Irdische hinaus – er spekuliert auf die Ewigkeit.
1659 So sollst du mir das Gleiche thun.
Die Bedingung wird offengelegt: Mephistopheles fordert Reziprozität – ein spiegelbildliches Verhalten im Jenseits. Das scheinbare Dienstversprechen entpuppt sich als Teufelspakt im eigentlichen Sinne: Die Seele Fausts wird eingefordert. Das »Gleiche« ist nicht bloß symbolisch gemeint – Mephisto will im Jenseits, dass Faust ihm dient, was eine Umkehrung der göttlichen Ordnung bedeutet. Der Vers stellt die Verkehrung des christlichen Heilsplans dar: Nicht Gott, sondern der Teufel soll der Herr sein.
Zusammenfassend 1656-1659
Diese vier Verse entfalten eine dichte theologische und metaphysische Struktur, die zentrale Fragen der frühneuzeitlichen Anthropologie, Theodizee und Freiheit reflektiert:
1. Teuflischer Pakt als Umkehrung des Bundes mit Gott
Mephistos »Dienstversprechen« parodiert das neutestamentliche Liebesgebot und die christliche Hingabe. Statt Gnade steht Berechnung im Vordergrund. Die Reziprozität ersetzt die einseitige göttliche Gabe – ein Rationalismus des Bösen.
2. Zeitlichkeit und Ewigkeit
Faust will das Jetzt erleben, Mephisto denkt ans Jenseits. Damit treffen zwei radikal unterschiedliche Zeitverständnisse aufeinander: Das hedonistische Streben nach momentaner Erfüllung kollidiert mit der theologischen Vorstellung ewiger Konsequenz. Mephistos Kalkül ist es, Fausts Lebensdrang gegen dessen Seelenheil zu tauschen.
3. Ironie und Verstellung
Goethes Mephisto ist kein primitiver Höllendämon, sondern ein Ironiker. Seine Sprache bedient sich der rhetorischen Maskerade: Er bietet scheinbar Unterwerfung an, um sich Erhebung zu verschaffen. Die Ironie wird so zum Werkzeug diabolischer Macht.
4. Freiheit und Schuld
Faust wird nicht gezwungen, sondern entscheidet sich – formal – frei für den Vertrag. Doch diese Freiheit ist ambivalent: Sie ist getrieben vom inneren Mangel. Goethes Tragik liegt in dieser »verblendeten Autonomie«: Faust glaubt, sich zu befreien, während er sich in Wahrheit bindet.
5. Reziprozität als teuflisches Prinzip
Im Gegensatz zum christlichen Gnadenprinzip, das asymmetrisch ist (»Liebe deine Feinde«), operiert Mephisto nach dem Gesetz der Spiegelung: Was ich tue, sollst du mir tun. Diese Ethik der Gegenseitigkeit offenbart den moralischen Nihilismus des Bösen – ohne Transzendenz, ohne Gnade, nur Tausch.
Fazit
Diese vier Verse sind somit der Brennpunkt des gesamten Dramas: Die Entscheidung, das Weltliche zu ergreifen, trägt bereits das Jenseitige in sich. Fausts Trieb nach Erkenntnis und Erfüllung mündet in eine Wette, deren Einsatz die Seele ist – und deren Gegner kein Geringerer als der »Geist, der stets verneint«.
Faust.
1660 Das Drüben kann mich wenig kümmern,
Faust äußert sich hier radikal gegen das »Jenseits«, also gegen eine metaphysische oder religiöse Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Der Ausdruck »Das Drüben« verweist auf die transzendente Sphäre, wie sie im christlichen Denken – Himmel, Hölle, Auferstehung – prominent ist. Doch Faust entzieht sich dieser Vorstellung. Die Wendung »kann mich wenig kümmern« signalisiert eine innere Abkehr, beinahe Gleichgültigkeit oder Verachtung gegenüber jener jenseitigen Welt. Im Subtext schwingt eine existenzielle Haltung mit, die das Diesseits, das Hier und Jetzt, über jede spekulative Hoffnung stellt. Dies ist Ausdruck eines aufklärerischen Skeptizismus – Faust sucht Wahrheit, Erfüllung und Sinn nicht im metaphysischen »Drüben«, sondern in der erfahrbaren Wirklichkeit.
1661 Schlägst du erst diese Welt zu Trümmern,
Diese Zeile ist an Mephistopheles gerichtet – in der Struktur des Pakts zwischen Faust und dem Teufel spielt die Zerstörung eine zentrale Rolle. Der Gedanke, die Welt könne zu Trümmern geschlagen werden, ist drastisch: Er evoziert Bilder von Apokalypse, Revolution oder metaphysischem Zusammenbruch. Faust sagt implizit: Wenn du diese Welt vernichtest, dann kannst du tun, was du willst – es zeigt, wie sehr er an der Welt hängt und gleichzeitig wie wenig Wert er auf ein mögliches Jenseits legt. Auch steckt hier ein beinahe titanisches Moment: Der Mensch stellt sich gegen die Ordnung, will sie stürzen, um etwas Neues zu schaffen – eine Geste der Selbstermächtigung, aber auch der Hybris.
1662 Die andre mag darnach entstehn.
Faust relativiert hier endgültig das Jenseits. Wenn überhaupt, so kann es »entstehn« – nicht als vorgegebene, göttliche Offenbarung, sondern als Folge der Auflösung der bestehenden Welt. Er unterwirft selbst das Jenseits dem Prozess der Veränderung, dem Werden und Vergehen. Es ist nicht ewige Wahrheit, sondern kontingentes Resultat. Damit negiert Faust das teleologische Weltbild der christlichen Tradition: Die andere Welt ist nicht Zielpunkt oder Lohn des sittlichen Lebens, sondern ein hypothetischer Zustand, der vielleicht nach dem Zusammenbruch der Welt »entsteht«. Die Formulierung »mag entstehn« unterstreicht zudem den Zweifel, die Unsicherheit, das Fehlen jeder metaphysischen Gewissheit. In dieser Perspektive ist sogar das Jenseits dem Wandel und der Konstruktion unterworfen – es gibt keine fixierte Wahrheit mehr.
Zusammenfassend 1660-1662
Diese drei Verse markieren eine der radikalsten Passagen in Goethes Faust I und stehen im Zentrum der existenziellen, erkenntnistheoretischen und theologischen Problematik des Dramas:
1. Ablehnung der Jenseitsverheißung:
Faust wendet sich explizit vom christlichen Jenseitsglauben ab. Er interessiert sich nicht für himmlische Belohnung oder metaphysische Trostsysteme. Dies ist Ausdruck eines radikalen Diesseitsdenkens, das sich an der Wirklichkeit und Erfahrbarkeit orientiert – ein Zug, der Faust mit existentialistischen Denkern wie Nietzsche oder Camus verbindet.
2. Apokalyptisches Denken als Bedingung für Neuanfang:
Die zweite Zeile evoziert eine dialektische Struktur: Nur durch die Zerstörung der bestehenden Ordnung kann eine neue Realität »entstehn«. Das hat revolutionäre Züge und erinnert an gnostische oder auch hegelianische Denkmuster, in denen das Alte vergehen muss, um Raum für das Neue zu schaffen.
3. Konstruktion statt Offenbarung:
Das »Drüben« ist nicht gegeben, sondern möglicherweise zu konstruieren. Faust erkennt keine absolute Wahrheit an – nicht Gott, nicht Himmel, nicht Hölle. Alles ist dem Prozess, der Möglichkeit und dem menschlichen Zugriff unterworfen. Dies weist auf ein modernes, postmetaphysisches Weltverhältnis hin.
4. Skepsis und Unsicherheit:
Trotz aller Entschlossenheit bleibt eine Leerstelle. Faust ist kein reiner Nihilist – er verneint nicht alles, sondern hält die Möglichkeit offen, dass etwas Neues »entstehn« mag. Doch das Neue ist ungewiss, ohne Offenbarung, ohne Heilsgewissheit. Es bleibt die Utopie des Werdens, nicht die Gewissheit des Seins.
Fazit
Diese Passage ist somit ein Schlüssel zur faustischen Grundhaltung: Unruhe, Skepsis, Streben nach Wirklichkeit – und radikale Offenheit, aber auch Gefährdung durch Sinnentleerung und Hybris.
1663 Aus dieser Erde quillen meine Freuden,
Dieser Vers formuliert eine tiefe Verankerung Fausts in der sinnlich-materiellen Welt. Das Verb »quillen« evoziert das Bild eines natürlichen Quellflusses – etwas Ursprüngliches, Lebendiges und Unaufhaltsames. Fausts »Freuden« entströmen der »Erde«, also nicht einem metaphysischen Jenseits oder einer transzendenten Idee, sondern der irdischen, sinnlich erfahrbaren Welt. Damit wird eine existentielle Wendung deutlich: Faust sucht Erfüllung nicht länger im Geist oder in der abstrakten Wahrheit, sondern im Diesseits.
Die Formulierung betont eine pantheistische oder zumindest diesseitig gerichtete Weltbejahung – im Gegensatz zur christlichen Abkehr von der Welt als Ort der Versuchung und Schuld. Gleichzeitig bleibt darin eine gewisse Ambivalenz: Wenn die Erde die Quelle der Freuden ist, verweist das implizit auch auf deren Begrenztheit und Vergänglichkeit. Die Freude ist an die Erde gebunden – und damit letztlich auch dem Tod unterworfen.
1664 Und diese Sonne scheinet meinen Leiden;
In diesem Vers verdichtet sich das Spannungsverhältnis, das Fausts Existenz bestimmt. Die Sonne – traditionell ein Symbol des Lebens, des Lichts, der Klarheit und der göttlichen Ordnung – scheint hier nicht den Freuden, sondern den »Leiden«. Das ist eine doppelte Umkehrung: Einerseits erwartet man, dass die Sonne die Freuden erleuchtet; andererseits steht »scheinet« in distanzierender Form – als ob Faust die Sonne als gleichgültige Zeugin seiner Qualen empfindet.
In der Kombination mit dem vorhergehenden Vers ergibt sich eine tragische Dialektik: Die Erde ist die Quelle der Freude, aber die Sonne scheint auf das Leiden. Faust lebt zwischen diesen beiden Polen – seine Freude ist irdisch, sinnlich, aber sein Leiden ist ebenso unausweichlich gegenwärtig. Er ist der zerrissene Mensch der Moderne, der in der Welt Erfüllung sucht, aber auch immer wieder an deren Begrenzungen, Enttäuschungen und Widersprüchen leidet.
Die »Sonne« kann zudem metaphorisch für ein höheres Prinzip stehen – sei es die Wahrheit, Gott oder das Ideal. Dann ließe sich der Vers auch so deuten: Faust fühlt sich von der höchsten Instanz (symbolisiert durch die Sonne) nicht getröstet oder erlöst, sondern vielmehr durchleuchtet in seinem Leiden, bloßgestellt, unerhört. Dies könnte ein Hinweis auf die tieferliegende Gottesferne oder eine existenzielle Verlassenheit sein.
Zusammenfassend 1663-1664
In diesen beiden Versen kristallisiert sich eine zentrale Spannung der faustischen Existenz: die Immanenz des Glücks und die Transzendenz des Leidens. Faust kehrt der reinen Geisteswelt den Rücken und bekennt sich zur Welt, zur Erde, zum Leben – aber das Leiden ist damit nicht überwunden. Das »Glück der Erde« bleibt nicht ungetrübt; vielmehr wird das Leiden in eine neue Helligkeit gerückt.
Diese Verse spiegeln ein Weltverhältnis, das stark von Goethe geprägt ist: die Ablehnung einer weltfeindlichen Askese zugunsten einer Bejahung des Lebens – bei gleichzeitiger Einsicht in seine Tragik. Die Erdgebundenheit des Menschen ist nicht bloß Verhängnis, sondern auch die einzige Möglichkeit, Erfüllung zu erfahren. Insofern tragen diese Verse eine tiefe Resonanz mit stoischem, pantheistischem und sogar existentialistischem Denken.
Fausts Haltung oszilliert hier zwischen Spinozistischer Naturfrömmigkeit (Freude aus der Erde) und Schopenhauerischer Weltverneinung (Leiden unter der Sonne). Seine existentielle Lage bleibt unerlöst, solange das Erdenleben beides bedeutet: Lustquelle und Leidensfeld zugleich.
Fazit
Die Verse sind somit ein dichter Ausdruck jenes Grundmotivs, das Fausts ganze Entwicklung durchzieht: der unstillbare Durst nach Leben – und die unentrinnbare Konfrontation mit Schmerz, Scheitern und Endlichkeit.
1665 Kann ich mich erst von ihnen scheiden,
Faust spricht hier über den Moment der inneren Befreiung von den »Geistern«, den Elementarwesen oder auch den metaphysischen Kräften, mit denen er zuvor Kontakt hatte. Der Ausdruck »von ihnen scheiden« bedeutet ein endgültiges Loslösen, eine Art metaphysischer Trennung. Dies verweist nicht nur auf eine Abwendung von den übersinnlichen Erscheinungen, sondern auch auf einen existenziellen Wendepunkt in Fausts innerem Prozess: Er will sich von jenen Kräften lossagen, die ihn zuvor faszinierten und vielleicht auch bedrängten. Diese Entscheidung markiert einen Übergang vom geistigen Streben in eine Welt der Tat. Die Trennung ist jedoch nicht rein äußerlich – sie ist symbolisch für eine Transformation seines Selbstverständnisses. Faust will keine bloß kontemplative Existenz mehr führen, keine Erleuchtung durch Geisterbeschwörung – er strebt nach einer anderen Daseinsweise.
Zugleich klingt in »scheiden« auch eine gewisse Tragik mit. Das Verb trägt in der deutschen Sprache eine tiefe Schwere, es hat eine Nähe zum Tod, zur endgültigen Trennung, zum Verzicht. Es zeigt, dass dieser Schritt kein leichter ist und eine existentielle Tiefe besitzt.
1666 Dann mag was will und kann geschehn.
In dieser Zeile äußert Faust eine fast stoische oder prometheische Haltung gegenüber dem Schicksal: Sobald er sich befreit hat, will er dem Weltgeschehen – was auch immer kommen mag – offen und unerschrocken begegnen. Die Formulierung »mag was will und kann geschehn« ist eine radikale Öffnung gegenüber dem Unvorhersehbaren, sie entwirft eine Haltung der Bereitschaft gegenüber jeder Möglichkeit – seien es Prüfungen, Gefahren oder Wunder. Es ist eine Absage an metaphysische Kontrolle und ein Bekenntnis zur aktiven, wagnisreichen Teilhabe an der Welt.
Damit kündigt sich Fausts Übergang in das aktive Leben an. Der Weg führt weg vom isolierten Forscherdrang hin zur Lebenspraxis – und in der Perspektive des Stücks auf die kommende Wette mit Mephistopheles. Die Offenheit dieser Haltung ist ambivalent: Sie kann als Ausdruck innerer Freiheit verstanden werden, aber auch als Hybris, als gefährliche Selbstüberhebung des Menschen.
Zusammenfassend 1665-1666
Diese beiden Verse berühren zentrale Motive der existenziellen Philosophie, insbesondere den Gedanken der Freiheit als Selbstbestimmung und der radikalen Offenheit gegenüber dem Weltgeschehen. Fausts Wunsch, sich zu »scheiden« von den Geistern, evoziert ein fundamentales Moment der Autonomie: Der Mensch befreit sich von transzendenten Autoritäten, um seiner eigenen Wahrheit entgegenzugehen – ein Akt, der an den Existenzialismus eines Kierkegaard oder Sartre erinnert. Es geht um die Bereitschaft, das eigene Dasein ohne metaphysische Rückversicherung zu gestalten.
Zugleich zeigt sich in der Wendung »Dann mag was will und kann geschehn« ein stoisches Ethos: die Annahme des Unverfügbaren. Diese Haltung erinnert an die amor fati-Idee Nietzsches – das Bejahen dessen, was geschieht, als Ausdruck innerer Stärke.
Doch Goethes Faust geht weiter: Er will nicht nur passiv annehmen, sondern sich in das Geschehen hineinwerfen. Die Formel lässt eine tiefe Ambivalenz spüren zwischen Selbstermächtigung und Selbstpreisgabe – Faust stellt sich mutwillig dem Ungewissen, der Welt in ihrer Gefährlichkeit. Damit beginnt der ethisch-philosophische Abstieg in jene Sphäre, wo Erkenntnis nicht mehr im bloßen Schauen, sondern im Tun, im Irrtum und in der Erfahrung liegt.
Fazit
In diesem Moment öffnet sich ein Abgrund zwischen klassischer Erkenntnis und moderner Existenz: Faust, der universal gebildete Mensch, verabschiedet sich vom Denken als letzter Instanz und tritt ein in das Reich des Handelns – mit all seiner Schuld, seinem Schmerz und seiner Hoffnung.
1667 Davon will ich nichts weiter hören,
Faust weist hier mit Entschiedenheit eine bestimmte Diskursrichtung zurück. Das »Davon« verweist auf das vorher Gesagte oder allgemein auf metaphysische Spekulationen, die sich nicht als existentiell tragfähig erwiesen haben. Es ist eine Ablehnung weiterer theoretischer oder theologischer Erörterungen. Dies markiert eine Ermüdung gegenüber allem bloß Gedanklichen, Abstrakten, das nicht zur »Tat« oder unmittelbaren Erfahrung führt.
Faust hat genug vom Reden, vom Meinen, vom Für-und-Wider – das Wort wird machtlos. Diese Abwendung ist charakteristisch für seine geistige Krise: Er verlangt nach etwas »wirklich Wirklichem«, nicht nach spekulativen Konzepten.
1668 Ob man auch künftig haßt und liebt,
Dieser Vers spielt auf die ewigen Gegensätze menschlicher Leidenschaft an – Hass und Liebe –, zugleich aber auch auf ihre Dauerhaftigkeit und Wiederkehr. Faust stellt deren Bedeutung infrage oder negiert zumindest deren metaphysische Relevanz. Es ist, als wäre es ihm gleichgültig geworden, ob Menschen künftig weiter diesen Affekten unterliegen.
Dies weist auf eine tiefe Entfremdung hin: Fausts Sehnsucht richtet sich nicht mehr auf das menschlich Emotionale, sondern auf etwas Höheres oder Ursprünglicheres, das jenseits solcher Dualismen liegt. Das bloß Menschliche erscheint ihm klein, belanglos, kreisend im Immergleichen.
1669 Und ob es auch in jenen Sphären
Die »jener Sphären« sind klar als transzendente Räume zu deuten – möglicherweise himmlisch oder kosmologisch, wie sie etwa in der scholastischen Philosophie oder der christlichen Kosmologie verstanden wurden (z. B. die Sphären der Planeten, der Engel, der fixen Sterne). Faust nimmt auf diese übergeordneten Ordnungen Bezug, doch nicht im Sinne einer religiösen Bewunderung, sondern eher in resignativer Ablehnung.
Das Wort »ob« verrät seine Skepsis: Die Frage nach einer höheren Ordnung verliert für ihn ihren Reiz oder ihre Gültigkeit.
1670 Ein Oben oder Unten giebt.
Dieser Schlussvers bringt die Ablehnung auf den Punkt: Die Kategorien von »Oben« und »Unten« – moralisch, kosmisch oder hierarchisch gedacht – sind Faust gleichgültig geworden. Er verwirft die Vorstellung einer festen metaphysischen Ordnung, in der alles seinen »Platz« hat. Auch religiöse oder moralische Orientierungssysteme, die zwischen »höher« und »niederer«, zwischen Himmel und Hölle unterscheiden, scheinen ihm bedeutungslos.
Es ist eine radikale Form der Orientierungslosigkeit oder auch des nihilistischen Zweifels: Die metaphysische Topographie verliert ihre Struktur, ihre Autorität. Faust scheint an einem Nullpunkt der Bedeutung angekommen zu sein.
Zusammenfassend 1667-1670
Diese vier Verse enthalten eine dichte philosophische Resignation, die tief in die Moderne hineinweist:
1. Kritik der Metaphysik:
Faust lehnt die traditionellen Konzepte einer hierarchisch geordneten Welt ab. Er zweifelt an festen Strukturen und fragt nicht mehr nach Wahrheit in Begriffen von »Oben« oder »Unten«. Dies lässt sich im Sinne einer proto-existentialistischen Geste deuten – ähnlich wie bei Kierkegaard oder Nietzsche, die später das »System« bzw. die »Ordnung« des Seins verwarfen.
2. Absage an moralische Teleologie:
Die Frage, ob »man künftig haßt und liebt«, betrifft nicht nur individuelle Emotionen, sondern auch die Frage nach einem moralisch geleiteten Geschichtsverlauf. Faust glaubt offenbar nicht mehr an ein Ziel, eine Höherentwicklung, eine Geschichte im Sinne einer Heilsgeschichte. Dies entspricht einem Denken nach dem Verlust des Absoluten.
3. Ontologische Gleichgültigkeit:
Fausts Aussage impliziert, dass die Existenz an sich nicht mehr durch duale Prinzipien strukturiert ist. Es gibt kein »Oben« oder »Unten«, kein qualitatives Maß mehr – weder im ethischen noch im ontologischen Sinn. Dies ist eine Form radikaler Skepsis gegenüber dem Sein selbst, wie sie später in Heideggers Seinsvergessenheit oder im absurden Denken Camus’ auftaucht.
4. Der Umbruch von Wissen zu Erfahrung:
Fausts Ablehnung ist nicht bloß theoretisch. Sie ist Ausdruck einer tieferliegenden Forderung: Erfahrung muss unmittelbar sein, spürbar, wirksam – nicht bloß gedacht. Die Wissenschaft und Theologie, die bisher seine Welt strukturierten, genügen ihm nicht. Was bleibt, ist die Gier nach dem existenziell Erschütternden – nach einem »Mehr« jenseits aller Systeme.
5. Metaphysische Müdigkeit:
In diesen Versen liegt die Ahnung einer »müden Transzendenz«: Die großen Fragen nach dem Sinn, nach kosmischer Ordnung oder moralischer Hierarchie lösen keine existentielle Bewegung mehr aus. Faust sucht einen neuen Zugang zur Welt – nicht über das Denken, sondern über das Erleben. Hier kündigt sich bereits der Pakt mit Mephistopheles an: eine Wette auf das Leben, nicht auf die Idee.
Fazit
Diese vier Verse markieren einen Wendepunkt: Faust kehrt sich ab vom spekulativen Denken, vom dualistischen Weltbild und der Sinnordnung der Tradition. Er verlangt nach einer neuen Wirklichkeitserfahrung, jenseits aller vorgegebenen Werte und Theorien. Damit wird er zur Schlüsselfigur der geistigen Moderne – zerrissen zwischen der Verzweiflung am Sinnverlust und dem Hunger nach radikaler Gegenwart.
Mephistopheles.
1671 In diesem Sinne kannst du’s wagen.
Mephistopheles bezieht sich auf die Bedingungen des Paktes, der zuvor diskutiert wurde. Mit »In diesem Sinne« meint er die Einschränkungen, die Faust selbst gestellt hat: dass er sich nur bindet, wenn Mephistopheles ihn jemals dazu bringen kann, zufrieden auszurufen: »Verweile doch! du bist so schön!« – also im Zustand vollkommener Erfüllung stillstehen zu wollen. Der Ausdruck »kannst du’s wagen« ist doppeldeutig: Einerseits klingt es wie eine Erlaubnis oder gar eine Einladung, andererseits auch wie eine Herausforderung oder Warnung. Faust wird suggeriert, dass er ein Spiel eingeht, das riskant ist, aber scheinbar unter seiner Kontrolle steht. Doch bereits hier liegt Mephistos Rhetorik auf der Kante von Verführung und Täuschung: Das, was als Selbstermächtigung erscheint, ist bereits der erste Schritt in die Irreleitung.
1672 Verbinde dich; du sollst, in diesen Tagen,
Die Aufforderung »Verbinde dich« ist zentral. Sie hat einen fast sakramentalen Klang, als handele es sich um ein Bündnis oder einen Pakt in ritueller Form – was sie im Kontext auch ist. Der Ausdruck erinnert zugleich an das mittelalterliche Lehnswesen, an den Schwur, an das fides-Verhältnis: eine Bindung mit Konsequenz. »In diesen Tagen« klingt harmlos und alltagsnah – fast beiläufig –, doch auch hier arbeitet Mephisto mit rhetorischer Beschwichtigung: Er spricht von einer kurzfristigen Perspektive, obwohl der Pakt weitreichende metaphysische Folgen haben wird. Die Zeitangabe hat aber auch eine apokalyptische oder messianische Note: Es wird bald geschehen, jetzt kommt der Wendepunkt.
1673 Mit Freuden meine Künste sehn,
Hier spielt Mephistopheles auf sein Versprechen an: Faust soll die »Künste« Mephistos kennenlernen – also seine Macht, seine Illusionen, seine Verführungskraft. Der Ausdruck »mit Freuden« verstärkt die Suggestion, dass es sich um etwas Erfreuliches, Bereicherndes handelt. Doch in Wahrheit ist dies eine raffinierte Verkehrung: Die Freude, die Mephisto verspricht, ist Teil seiner Methode, das Bewusstsein zu fesseln und zu betäuben. Der Begriff »Künste« erinnert auch an die »schwarze Magie«, an das Theater, die Täuschung – Mephisto ist ein Regisseur von Welten, die Schein statt Sein bieten.
1674 Ich gebe dir was noch kein Mensch gesehn.
Dieser letzte Vers ist der Höhepunkt der Verlockung. Mephisto verspricht das absolut Neue, das nie Dagewesene – eine klassische Geste des Teufels in vielen Mythologien. Der Anspruch ist übermenschlich: Mephisto bietet eine Art »Offenbarung«, doch nicht göttlicher Art, sondern als Parodie auf das Göttliche. Hier wird das menschliche Streben nach Erkenntnis und Erfahrung angesprochen, das Faust so tief antreibt. Doch was »noch kein Mensch gesehn« hat, ist möglicherweise nicht einfach ein höheres Gut, sondern eine Grenzüberschreitung, die in das Nicht-Menschliche, das Übernatürliche oder gar das Verdammte führt. Das Versprechen ist grenzenlos – und gerade darin entlarvt sich seine Unwahrheit, denn wahre Erkenntnis im Sinne der göttlichen Ordnung ist nie uneingeschränkt verfügbar oder veräußerbar.
Zusammenfassend 1671-1674
Diese Passage enthält eine dichte Verschränkung von Erkenntnistheorie, Ethik und Theologie:
1. Erkenntnistheoretisch wird Faust mit der Verlockung konfrontiert, das zu erfahren, was jenseits des menschlichen Horizonts liegt. Das Motiv erinnert an Prometheus, an die Luzifer-Gestalt, aber auch an den Sündenfall: die Hybris des Menschen, göttliche Erkenntnis zu erlangen.
2. Ethisch geht es um Verantwortung: Faust glaubt, er könne einen Teufelspakt eingehen und dennoch autonom bleiben. Doch schon die Sprachgestaltung zeigt: Mephistopheles kontrolliert den Diskurs, unterwandert Fausts Voraussetzungen subtil. Die scheinbar freie Entscheidung ist längst gelenkt.
3. Theologisch erscheint diese Szene als Umkehrung christlicher Bündnisse. Mephistos »Verbindung« ist kein Liebesbund wie der zwischen Gott und Mensch, sondern ein Kontrakt ohne Gnade, auf Tausch und List gegründet. Die Formulierung »was noch kein Mensch gesehn« parodiert das biblische »was kein Auge gesehen hat« (1 Kor 2,9) – dort aber auf das verheißene Heil bezogen, hier auf dämonische Offenbarung.
Fazit
Diese vier Verse verdichten in prägnanter Form Goethes zentrale Fragestellung in Faust I: Wie weit darf der Mensch in seinem Erkenntnisdrang gehen? Und was geschieht, wenn er sich der Täuschung öffnet, weil sie ihm das verheißt, was jenseits aller Grenzen liegt? Die Szene ist keine bloße Handlungsetappe, sondern ein philosophischer Brennpunkt des ganzen Dramas.
Faust.
1675 Was willst du armer Teufel geben?
Fausts Anrede an Mephistopheles ist von schneidender Ironie und Verachtung durchzogen. Durch das »armer Teufel« degradiert er Mephisto, der sich gerade als machtvoller Vermittler zwischen Welt und Mensch angeboten hat, zu einer bemitleidenswerten Gestalt. Dies ist kein bloßes Schimpfwort, sondern eine Demaskierung: Faust erkennt die Begrenztheit Mephistos und seine Unfähigkeit, wirklichen geistigen Wert zu bieten. Das »geben« verweist auf Mephistos Rolle als Versucher, als einer, der mit verlockenden Gaben handelt – doch Faust weist diesen Handel mit souveränem Spott zurück.
1676 Ward eines Menschen Geist, in seinem hohen Streben,
Faust evoziert das Bild des strebenden Menschengeistes – ein zentrales Motiv der gesamten Dichtung. Das »hohe Streben« ist mehr als bloße intellektuelle Neugier: Es ist ein existenzieller Drang, das Absolute, das Göttliche, das Wahre zu erfassen. In dieser Wendung artikuliert Faust seinen Anspruch auf metaphysische Tiefe und geistige Erhebung – ein Streben, das ihn nicht nur über die gewöhnliche Wissenschaft hinausführt, sondern auch über alle dämonischen Verführungen erhaben sein soll. Der Mensch, so Fausts These, strebt prinzipiell »hoch« – er will mehr als Sinnesfreuden und irdisches Wissen.
1677 Von deines Gleichen je gefaßt?
Die rhetorische Frage ist eine schroffe Zurückweisung Mephistos: Noch nie, so die Implikation, hat ein Geist wie Mephistos – ein Wesen des Zynismus, der Subversion, der irdischen Klugheit – einen wirklich »hoch strebenden« Menschen erfassen, begreifen oder gar kontrollieren können. »Gefaßt« bedeutet hier sowohl intellektuell durchdrungen als auch im Sinne von ergriffen, gebändigt, verführt. Faust behauptet damit die Unangemessenheit Mephistos gegenüber dem eigentlichen Wesen des menschlichen Geistes – und erhebt sich dabei implizit selbst in den Rang dieses unerreichbaren Ideals.
Zusammenfassend 1675-1677
In diesen drei Versen kulminiert ein zentrales Thema von Faust I: der Gegensatz zwischen dem wahrhaft metaphysisch strebenden Menschen und den dämonischen Kräften, die lediglich mit irdischen Gaben und Verführungen handeln. Faust positioniert sich hier als Vertreter eines geistigen Menschenbildes, das dem Denken der Aufklärung entwächst und ins Idealistische übergeht: Der Mensch als unendlich strebendes Wesen – wie später bei Schiller oder Fichte.
Mephisto, als Verkörperung des bloßen Verstandes, des Spotts, der Negation, ist diesem Streben grundsätzlich nicht gewachsen. Der Mensch hingegen ist durch seine Unruhe, sein Fragen, sein Sehnen nach Transzendenz ausgezeichnet. Goethe spielt hier auf die unauslotbare Tiefe des menschlichen Geistes an – eine Tiefe, die selbst dämonische Wesen nicht zu fassen vermögen. Es schwingt ein platonisch-christliches Erbe mit: Der Mensch als imago Dei, als Abbild des Göttlichen, dessen Streben über die Grenzen des Diesseits hinausreicht.
Die Ironie: Auch wenn Faust Mephisto hier mit großer Selbstgewissheit abweist, wird er sich doch bald auf den Pakt einlassen. Das zeigt die tragische Dialektik: Der Geist erkennt das Höhere, aber seine existentielle Unruhe lässt ihn dennoch auf das Niedere ein.
1678 Doch hast du Speise die nicht sättigt, hast
Das »Doch« signalisiert eine Gegenthese oder Enttäuschung gegenüber vorhergehenden Erwartungen oder Versprechungen. Die »Speise, die nicht sättigt«, verweist auf eine grundlegende Leere trotz erfüllter äußerer Bedürfnisse. Diese Nahrung stillt den Hunger nicht wirklich – weder im leiblichen noch im übertragenen Sinne. Gemeint ist eine Art geistige oder existenzielle Sättigung, die ausbleibt. Der Vers spricht ein zentrales Thema an: die Unfähigkeit sinnlicher Genüsse, das menschliche Verlangen nach Erfüllung wirklich zu befriedigen. Faust ist hungrig – aber nicht nach Nahrung, sondern nach Sinn, nach Wahrheit, nach totaler Erfahrung. Hier zeigt sich ein deutlicher Einfluss mystischer und existenzieller Denkformen: Die materielle Welt wird als trügerisch oder unzureichend empfunden.
1679 Du rothes Gold, das ohne Rast,
Das »rote Gold« ist ein klassisches Symbol für Reichtum, weltliche Macht, aber auch für Alchemie – ein Gebiet, das Fausts historische Vorbilder durchaus interessiert hat. »Ohne Rast« beschreibt eine rastlose Dynamik: Der Besitz des Goldes bringt keine Ruhe, keinen Frieden, keine Sicherheit. Vielmehr bleibt er unruhig, führt nicht zur Erfüllung, sondern erzeugt Unruhe, Getriebenheit, vielleicht sogar Gier oder Angst vor Verlust. Der Vers stellt den verbreiteten Glauben in Frage, dass Reichtum das menschliche Leben sinnvoll verbessern könne.
1680 Quecksilber gleich, dir in der Hand zerrinnt,
Das Bild vom »Quecksilber« (Mercur) ist vielschichtig. In der Alchemie ist Mercur ein zentrales Prinzip – flüchtig, wandelbar, zwischen den Aggregatzuständen. Im übertragenen Sinne steht das Bild für die Unbeständigkeit und Illusion weltlicher Güter. Gold, das sich wie Quecksilber verhält, ist nicht stabil, es zerrinnt »dir in der Hand«. Diese sinnliche Metapher vermittelt das Gefühl von Vergeblichkeit und Täuschung: Selbst wenn man etwas zu besitzen meint, entzieht es sich einem im Moment des Zugriffs. Besitz wird damit illusionär. Dies reflektiert eine tief pessimistische Erkenntnis: Was auch immer man im Leben festzuhalten versucht – Glück, Erfolg, Sinn – entgleitet einem, sobald man es greifen will.
Zusammenfassend 1678-1680
Die drei Verse sind Ausdruck eines metaphysischen Nihilismus, wie er Fausts innerster Verfassung in dieser Szene entspricht. Sie lassen sich auf mehreren philosophischen Ebenen deuten:
1. Existentialismus avant la lettre:
Faust erfährt eine Form der Entfremdung – er besitzt Dinge, die ihn nicht erfüllen, die ihren Wert verlieren, sobald sie erreicht sind. Diese Erfahrung entspricht zentralen Themen späterer existenzialistischer Philosophie (z. B. Kierkegaards Verzweiflung, Sartres Nichtigkeit des Seins): Das Leben bietet keine immanente Erfüllung – der Mensch muss mit einer inneren Leere kämpfen.
2. Kritik an Hedonismus und Materialismus:
Goethe lässt Faust hier gegen eine Lebenshaltung sprechen, die glaubt, durch Genuss, Reichtum oder Macht Erfüllung zu finden. Diese Güter haben nur einen trügerischen Schein von Wert, sie sind in sich nicht tragfähig. Das Gold, das zerrinnt, und die Speise, die nicht sättigt, sind Sinnbilder für diesen Irrtum.
3. Alchemistische und mystische Konnotationen:
Das Bild des Quecksilbers hat starke alchemistische Assoziationen. Mercur symbolisiert das Bewegliche, das Verwandlungsfähige, aber auch das Unfassbare. In der Hermetik steht es für den Übergang zwischen Körperlichem und Geistigem. Doch Faust verzweifelt gerade an dieser Beweglichkeit – er sucht etwas Beständiges, Ewiges. Er findet es weder in der Materie noch im intellektuellen Streben. Das verweist auf eine tiefer liegende mystische Sehnsucht: nach dem Absoluten, nach einem Sein jenseits der Vergänglichkeit.
4. Vergänglichkeit und Vanitas-Motiv:
Die Verse stehen in der Tradition des Vanitas-Gedankens: Alles Irdische ist vergänglich, das Streben danach ist letztlich sinnlos. Faust empfindet diese Wahrheit nicht bloß intellektuell – er leidet darunter, denn sie betrifft ihn existenziell. Das Leben erscheint als eine Kette von Illusionen, die sich bei näherem Hinsehen auflösen.
Fazit
Diese drei Verse verdichten in symbolischer Sprache Fausts existenzielle Enttäuschung an der Welt. Sie formulieren ein zentrales Thema des Werkes: die Unstillbarkeit menschlicher Sehnsucht durch äußere Güter. Zugleich verweisen sie auf tieferliegende philosophische Fragen nach Sinn, Sein und der Möglichkeit wahrer Erfüllung – Fragen, die Fausts Streben ebenso motivieren wie sein Scheitern kennzeichnen.
1681 Ein Spiel, bey dem man nie gewinnt,
Faust spricht hier metaphorisch über das Leben oder das Streben des Menschen – sei es in der Wissenschaft, in der Liebe oder im existenziellen Sinn. Es ist »ein Spiel«, doch eines ohne Aussicht auf Sieg. Der Begriff des Spiels verweist auf die Idee von Regeln, Strategie, Ziel und Einsatz – doch dieses Spiel scheint von Anfang an gegen den Spieler gerichtet zu sein. Dies ist Ausdruck tiefster Skepsis gegenüber Sinn, Zielgerichtetheit und Gerechtigkeit im menschlichen Dasein. Der Pessimismus Fausts kulminiert in der Vorstellung, dass Anstrengung und Streben immer vergeblich sind, ganz im Sinne der tragischen Konstellation des Strebens ohne Erfüllung.
1682 Ein Mädchen, das an meiner Brust
Der zweite Vergleich knüpft unmittelbar an das Motiv menschlicher Intimität und Begehren an. Das Mädchen »an meiner Brust« ist ein Bild für Nähe, Vertrautheit, Liebe – möglicherweise auch für romantische oder erotische Erfüllung. Doch dieses Bild wird sofort gebrochen im nächsten Vers. Schon im Moment der Umarmung scheint sich der Verrat anzubahnen. Das Ideal der Treue oder gar der Liebe wird als Illusion entlarvt.
1683 Mit Aeugeln schon dem Nachbar sich verbindet,
Die Desillusionierung wird hier konkret: Noch während das Mädchen an Fausts Brust liegt, wirft es kokette Blicke zum Nachbarn. Das Spiel der Liebe, das eben noch als Nähe erschien, wird zur Bühne der Untreue. Faust erlebt nicht nur die Frustration über das Leben als »Spiel ohne Gewinn«, sondern auch über zwischenmenschliche Beziehungen, in denen Loyalität und Wahrhaftigkeit unterlaufen werden von Trieb, Eitelkeit und Instabilität.
Der Ausdruck »Aeugeln« (von »äugeln«, also mit den Augen liebäugeln, flirten) unterstreicht die Oberflächlichkeit und das instinktive Wechselspiel der Begierde. Die »Verbindung« des Mädchens mit dem Nachbarn ist bereits im Blick vollzogen – ein subtiler, aber schmerzlicher Hinweis darauf, wie wenig in menschlichen Beziehungen Bestand hat.
Zusammenfassend 1681-1683
In diesen drei Versen kondensiert Goethe eine bittere anthropologische und existentielle Diagnose. Faust äußert hier seine tiefe Enttäuschung über das Leben als solches – über Erkenntnis, über Liebe, über Sinn. Die Vergleiche (Spiel, Mädchen) sind nicht zufällig gewählt, sondern zielen auf zwei zentrale Felder menschlicher Selbstverwirklichung: das Spiel als Symbol der Aktivität, des Wollens, des Planens – und die Liebe als Symbol der Nähe, des Erfülltseins, der Geborgenheit. Beide werden in ihrer Grundstruktur als trügerisch entlarvt.
Faust steht hier – wie so oft im Drama – im Schatten der Erkenntnis, dass jede Form von menschlichem Streben von Enttäuschung durchzogen ist. In sokratisch-nihilistischer Weise erkennt er: Der Mensch kann sich selbst nicht genügen, weil sowohl das Wissen als auch die Liebe letztlich unbefriedigend bleiben.
Zugleich schimmert eine tiefe Unfähigkeit zur Hingabe durch: Die Angst vor Kontrollverlust, vor Versagen, vor Austauschbarkeit. Was Faust fürchtet, ist nicht nur die Sinnlosigkeit des Spiels, sondern seine eigene Irrelevanz darin. Das Mädchen, das schon dem Nachbarn zulächelt, ist Symbol für eine Welt, in der selbst die intensivsten Erfahrungen keine bleibende Bedeutung entfalten können.
Fazit
Diese drei Verse sind ein Ausdruck der existenziellen Melancholie, die Fausts Charakter durchzieht: Die Welt erscheint als flüchtig, unzuverlässig, leer. Es ist die Vorahnung dessen, was der Tragödie zweiter Teil in den Versen des Greisen Faust vollenden wird: dass der Mensch im Streben stets an sich selbst zerbricht – es sei denn, das Streben wird durch eine transzendente Gnade überhöht, wie sie am Ende von Gretchen stellvertretend erbeten wird.
1684 Der Ehre schöne Götterlust,
Goethe lässt Faust hier einen emphatischen Ausdruck wählen: »Ehre« wird als »schöne Götterlust« bezeichnet – eine ungewöhnliche, fast hymnische Metapher. Der Begriff »Götterlust« suggeriert ein übermenschliches, transzendentes Wohlgefallen, etwas, das nicht allein dem Menschen eigen ist, sondern den Göttern als Inbegriff höchsten Glücks vorbehalten ist. Ehre erscheint damit nicht als gesellschaftlich konventionelle Anerkennung, sondern als ein idealisiertes, fast mystisches Gut – eine Form metaphysischer Freude, die das Erdenleben übersteigt.
Allerdings steht diese »Götterlust« unter einem Spannungsverhältnis: Sie gehört nicht dauerhaft zum Menschlichen, sondern wird in ihrer Flüchtigkeit gleich im nächsten Vers relativiert. Dadurch entsteht eine Bewegung von Idealisierung zu Entwertung.
1685 Die, wie ein Meteor, verschwindet.
Hier erfährt das Bild eine abrupte Brechung: Was vorher als »Götterlust« verklärt wurde, wird nun in seiner Flüchtigkeit entlarvt. Der Vergleich mit einem »Meteor« bringt gleich mehrere Assoziationen ins Spiel: Ein Meteor leuchtet auf, durchbricht die Dunkelheit, fasziniert – und ist im nächsten Moment wieder verschwunden. Er ist ein Lichtphänomen, das sich dem Zugriff entzieht. Das Bild evoziert Schönheit und Erhabenheit, aber auch Vergänglichkeit und Illusion.
Faust offenbart damit seine tiefe Skepsis gegenüber traditionellen Idealen wie »Ehre« – er durchschaut sie als ephemere Erscheinung, deren Glanz trügt. Die Konjunktion »wie« stellt einen poetischen Vergleich her, aber es bleibt der Eindruck, dass die Ehre – trotz ihrer metaphysischen Aufladung – letzten Endes substanzlos ist, nicht haltbar, nicht dauerhaft.
Zusammenfassend 1684-1685
Diese beiden Verse verdichten ein zentrales Motiv der Faust-Dichtung: die Entwertung bürgerlicher und idealistischer Werte aus der Perspektive existenzieller Suche. Faust spricht nicht als naiver Idealist, sondern als Entzauberter, der traditionelle Lebensziele (Ehre, Ruhm, Anerkennung) als Illusionen durchschaut. Er erkennt in ihnen nicht den Weg zu wahrer Erfüllung, sondern bloß temporäre Erscheinungen, die keine dauerhafte Bedeutung stiften.
Goethe lässt damit den Humanismus und den Idealismus der Aufklärung kritisch durchleuchten. In einer Welt, in der metaphysische Gewissheiten zerfallen, erscheinen selbst die höchsten Werte – »Ehre«, »Wahrheit«, »Tugend« – als ästhetische Phänomene ohne bleibende Substanz.
Zugleich erinnert der Meteor-Vergleich an eine frühromantische Ästhetik des Erhabenen und Ephemeren, doch Goethe verweilt nicht in der Faszination. Vielmehr wird der kurze Glanz des Meteors zur Metapher für die Desillusionierung: Was leuchtet, vergeht. Was Bedeutung verheißt, entzieht sich dem Zugriff.
Schließlich wird auch ein theologischer Subtext spürbar: »Götterlust« verweist auf eine heidnische, pagane Welt der Ideale, die nicht mehr tragfähig scheint. In der christlich geprägten Ordnung wäre wahre Ehre an Demut und göttliche Gnade gebunden – nicht an das flüchtige Glänzen des Ruhms. Faust aber steht außerhalb beider Systeme, zwischen Zerfall und Sehnsucht, zwischen Entsagung und Streben.
Fazit
In diesen zwei Versen kulminiert Fausts Skepsis gegenüber den Idealen der bürgerlichen Welt. Die »Ehre« wird zunächst in einem idealistischen Bild verklärt, dann aber als flüchtiger Schein demaskiert. Der Vergleich mit dem Meteor verleiht dem Ausdruck eine poetische Dichte, die Schönheit und Vergeblichkeit zugleich enthält. Philosophisch gesehen thematisiert Goethe hier die Auflösung traditioneller Sinnsysteme und die existentielle Leere, in der Faust sich bewegt – eine Leere, die das Streben nach wahrer Erfüllung überhaupt erst notwendig macht.
1686 Zeig mir die Frucht die fault, eh’ man sie bricht,
Dieser Vers ist eine bildhafte Herausforderung an Mephisto, mit der Faust sich gegen jede Form von bloßem Schein oder Trugwissen wendet. Die »Frucht« steht symbolisch für das Objekt menschlichen Strebens – sei es Wissen, Lebenserfüllung oder sinnbildlich die Frucht des Baumes der Erkenntnis. Faust verlangt, dass das Ziel seines Strebens nicht von vornherein verdorben sei: Er will keine Enttäuschung, keine Illusion, keine Erfüllung, die sich beim Ergreifen bereits als leer oder verdorben erweist.
Die Formulierung »fault, eh man sie bricht« ist besonders bedeutungsschwer: Sie verweist auf die Entwertung vieler menschlicher Ziele schon vor ihrer Erreichung. Das kann als Kritik an der Wissenschaft verstanden werden, die Faust bisher betrieben hat: Das theoretische Wissen, das er mühsam gesammelt hat, ist für ihn unlebendig, fruchtlos, ja bereits »verfault«, bevor es ihm wirklich nützt.
Zugleich offenbart sich hier Fausts tiefer Hunger nach einem authentischen, unverfälschten Leben, das nicht durch vorgegebene Dogmen oder sterile Systeme verfälscht ist. Es ist ein existentialistisches Motiv avant la lettre: Der Mensch verlangt nach einer Wahrheit, die sich im Leben, nicht bloß im Gedanken beweist.
1687 Und Bäume die sich täglich neu begrünen!
Dieser zweite Vers führt das Lebenssymbol weiter: Der Baum ist ein archetypisches Sinnbild für das Lebendige, das Werden, Wachsen und Vergehen. Dass Faust nach Bäumen verlangt, die sich »täglich neu begrünen«, ist eine rhetorisch zugespitzte Vision des unerschöpflich sich erneuernden Lebens. Gemeint ist nicht das zyklische Wiederkehren der Naturjahreszeiten, sondern ein permanentes, dynamisches Wachsen, das nicht durch die natürlichen Gesetze des Alterns oder der Entropie begrenzt ist.
Faust will also keinen statischen Zustand, sondern eine Welt, in der Lebendigkeit nicht erstirbt, sondern sich beständig regeneriert, in der Erkenntnis und Erfahrung niemals zu Stillstand und Tod führen. In gewissem Sinne ist dies ein utopisches Bild, das sowohl die Grenzen der Natur sprengt als auch ein Ideal des menschlichen Daseins ins Auge fasst: das Streben nach einem Dasein, das sich immer wieder neu begründet, das schöpferisch bleibt, ohne zu verfallen.
Auch ein theologischer Subtext lässt sich an dieser Stelle vermuten: In der christlichen Tradition ist der »Baum des Lebens« ein Symbol der Unsterblichkeit und göttlichen Fülle. Fausts Sehnsucht nach »Bäumen, die sich täglich neu begrünen« verweist somit möglicherweise auf eine eskatologische Hoffnung, jedoch im Diesseits verortet – er will das Paradies nicht im Jenseits, sondern im Hier und Jetzt.
Zusammenfassend 1686-1687
Diese zwei Verse bündeln zentrale Themen des ganzen Dramas in dichterisch-symbolischer Form:
1. Wahrheit gegen Schein:
Faust lehnt das bloß theoretische Wissen ab, das keine lebendige Frucht bringt. Sein Streben richtet sich auf eine Wahrheit, die sich in der Erfahrung des Lebendigen offenbart.
2. Authentizität des Lebens:
Die verdorbene Frucht steht für Enttäuschungen und Trugziele – Faust verlangt eine Erfahrung, die sich nicht als Lüge erweist. Dies reflektiert ein tiefes existenzielles Bedürfnis nach Sinn, nicht nach bloßem Wissen.
3. Dynamik des Werdens:
Die Vision der täglich sich neu begrünten Bäume verweist auf das Ideal einer stetigen Selbsterneuerung – ein Bild schöpferischer Vitalität und ein Gegenbild zur Erstarrung und zum Tod.
4. Kritik am traditionellen Erkenntnismodell:
Faust hat das Buchwissen als ungenügend erkannt. Seine Sprache richtet sich gegen eine Weltanschauung, die Leben katalogisiert, aber nicht begreift.
5. Esoterisch-theologische Resonanz:
Es schwingen biblisch-paradiesische Motive mit – jedoch transformiert: Das Paradies soll nicht jenseitig, sondern in der radikalen Lebendigkeit des irdischen Daseins erfahrbar sein.
Fazit
Diese Verse sind somit ein kondensiertes Manifest von Fausts Lebenssehnsucht: kein statischer Besitz, sondern ein ewiges Streben nach Lebendigkeit, Wahrheit und schöpferischer Gegenwart.
Mephistopheles.
1688 Ein solcher Auftrag schreckt mich nicht,
Mephistopheles antwortet hier auf Fausts Wunsch nach einer umfassenden Lebenserfahrung, nach einer »Erweiterung des Horizonts«, die über die engen Schranken der Wissenschaft hinausreicht. Faust verlangt nicht bloß nach Belehrung oder Erkenntnis, sondern nach einem existenziellen Abenteuer, nach dem »vollen« Leben, inklusive sinnlicher Erfahrung, Macht, Lust, Verzweiflung, Transzendenz. Dass Mephistopheles »nicht erschreckt« ist, zeigt seine Selbstsicherheit und Bereitwilligkeit, diesen gefährlichen Pakt einzugehen. Hier klingt bereits seine Verführungskraft an: Er gibt sich souverän, erfahren, mächtig – jemand, der nichts fürchtet, gerade weil er das »Böse« verkörpert, das keine moralischen oder metaphysischen Skrupel kennt.
Die Wendung »Ein solcher Auftrag« deutet auf die Dimension des bevorstehenden Pakts: Es geht nicht nur um irgendeinen Gefallen, sondern um eine existenzielle Herausforderung, fast eine »mission impossible« – doch Mephisto spielt das herunter und präsentiert sich als überlegen. Das ist psychologisch raffiniert: Er signalisiert Faust, dass dessen Wünsche keineswegs übermäßig oder unerfüllbar seien. So wird Faust noch weiter in die Versuchung getrieben.
1689 Mit solchen Schätzen kann ich dienen.
Der Ausdruck »Schätze« steht hier nicht im materiellen Sinn, sondern ist metaphorisch für das, was Mephistopheles Faust bieten kann: Erfahrungen, Vergnügungen, Illusionen, Macht, Wissen, Schönheit – alles, was das menschliche Begehren reizt. Dass er »dienen« kann, verweist auch ironisch auf die Umkehr der Herr-Diener-Rollen, die im Teufelspakt eine zentrale dialektische Struktur bildet. Mephisto gibt vor, zu dienen, um in Wahrheit zu beherrschen. Seine Aussage ist doppeldeutig: Einerseits stellt er sich Fausts Wünschen unter – ein listiger Sklave –, andererseits beginnt damit sein Plan zur Verderbnis der menschlichen Seele.
Zudem kann man den Begriff »Schätze« mit Goethes philosophischer Reflexion über Werte, Begierden und Illusionen verknüpfen. Es sind nicht wahre Güter, sondern Blendwerke – Mephisto ist der »Geist, der stets verneint«, und seine »Schätze« sind daher immer an Täuschung und Zerfall gebunden. Dies macht seine Gabe letztlich trügerisch.
Zusammenfassend 1688-1689
Diese zwei scheinbar harmlosen Verse verdichten zentrale Themen der Faust-Dichtung:
1. Teuflische Verführung als Angebot von Möglichkeiten:
Mephistopheles verspricht Freiheit, Abenteuer, Erfüllung – all das, was dem menschlichen Geist und Leib versagt scheint. Aber sein Versprechen ist trügerisch. Die »Schätze« sind von vornherein ambivalent, da sie den Menschen nicht erlösen, sondern an das Vergängliche binden. Der Teufel bietet, was der Mensch begehrt, aber nie mit dem Ziel, ihn zu erfüllen, sondern ihn zu verführen und zu verzehren.
2. Dialektik von Freiheit und Dienst:
Der Ausdruck »dienen« ist in der Mephisto-Figur immer doppeldeutig. Einerseits stellt er sich als unterwürfig dar, als Erfüllungsgehilfe Fausts. Andererseits weiß der Leser – wie es sich später bestätigt –, dass Faust zunehmend in eine Abhängigkeit gerät. Der vermeintliche Dienst ist ein Werkzeug der Manipulation. Diese Struktur reflektiert Goethes Auseinandersetzung mit der Dialektik von Freiheit und Abhängigkeit, von Subjekt und Macht.
3. Das Böse als souveränes Prinzip:
Mephisto zeigt keine Furcht. Er ist souverän im Umgang mit menschlicher Hybris. Das macht seine Verführungskraft so gefährlich – er kennt das menschliche Begehren besser als der Mensch selbst. Seine Worte wirken banal, ja fast freundlich. Aber hinter dieser Fassade steckt die metaphysische Struktur des Bösen, das sich nicht durch offene Gewalt, sondern durch raffinierte Bereitwilligkeit äußert.
4. Kritik am modernen Wissensdrang:
Implizit kritisiert Goethe hier auch die Hybris des modernen Subjekts, das sich über Natur, Moral und Transzendenz hinwegsetzen will. Mephistopheles ist der logische Vollstrecker dieses Strebens: Er hilft dem Menschen, über sich hinauszugehen – aber nicht, um ihn zu erlösen, sondern um ihn zu zerstören.
Fazit
Diese zwei Verse sind ein Musterbeispiel für Goethes Kunst, große geistige Themen in scheinbar einfache Formulierungen zu fassen: Mephistopheles spricht lakonisch – aber hinter seinen Worten steht die ganze metaphysische Problematik von Freiheit, Verführung und dem Wesen des Bösen.
1690 Doch, guter Freund, die Zeit kommt auch heran
Der Vers beginnt mit dem adversativen Konnektor »Doch«, was signalisiert, dass Mephistopheles hier eine Wende oder einen Kontrast zum Vorherigen einleitet. Er spricht Faust direkt und vertraulich an: »guter Freund«. Diese Anrede suggeriert eine gespielte Vertrautheit, die – bei aller ironischen Distanz – dennoch Teil seiner verführerischen Strategie ist: Mephisto stilisiert sich als verständnisvoller Begleiter, beinahe als Kamerad.
Der Ausdruck »die Zeit kommt auch heran« ist mehrdeutig: Einerseits handelt es sich um einen beruhigenden Verweis auf zukünftige Genüsse, also eine Art Verheißung. Andererseits schwingt darin auch eine leise Drohung oder ein Vorzeichen mit: Die Zeit kommt – aber was für eine Zeit? Es ist nicht nur die Zeit des »Schmausens«, sondern, im weiteren Verlauf des Pakts, auch die Zeit des moralischen Verfalls, vielleicht gar des Untergangs. Zeit erscheint bei Goethe generell nie als bloß linearer Verlauf, sondern als Träger innerer Entwicklung oder Verderbnis.
1691 Wo wir was Gut’s in Ruhe schmausen mögen.
Der zweite Vers entwickelt die vermeintlich harmlose Aussicht weiter: Man werde bald »in Ruhe« etwas Gutes »schmausen«. Der Ausdruck »was Gut’s« (verkürzt für »etwas Gutes«) ist absichtlich vage – es könnte sich um ein gutes Essen handeln, aber metaphorisch auch um Sinnengenuss, körperliche Lust, oder geistige Erfüllung. Dieses Unbestimmte ist typisch für Mephistos Verführungskunst: Er bleibt immer zweideutig, verheißt vieles, ohne es festzulegen.
Das Wort »schmausen« wirkt hedonistisch und körperlich – ein sinnliches Wort, das eher ins Vokabular eines Bonvivants als eines Gelehrten passt. Es kontrastiert scharf mit Fausts vorherigem Streben nach Erkenntnis, Wahrheit und Transzendenz. Nun ist es der Genuss, das »Gute« in Form von Ruhe und Leiblichkeit, das in Aussicht steht.
Die »Ruhe«, in der dies geschehen soll, hat ebenfalls einen doppelten Sinn: Einerseits Ruhe im Sinne von Erholung, Müßiggang, Frieden – all das, was Faust in seinem inneren Aufruhr nicht hat. Andererseits kann diese Ruhe auch als Stillstand, als Gefahr der Selbstaufgabe gelesen werden – eine fatale Ruhe, in der der Mensch aufhört zu streben.
Zusammenfassend 1690-1691
Diese beiden scheinbar leichten, beinahe gemütlichen Verse tragen in sich eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Tat, Genuss, Zeit und Verführung.
Mephistopheles fungiert hier als Archetyp des Verführers, der den Menschen vom Weg des geistigen Strebens hin zur bloßen Sinneserfüllung zu lenken sucht. Die »Ruhe«, die er anbietet, ist diametral entgegengesetzt zu Fausts ursprünglichem Lebensideal: dem unermüdlichen, rastlosen Forschen. Im Hintergrund steht das große Thema der Faustischen Bewegung, jenes unstillbaren Drangs nach höherer Erkenntnis und transzendenter Erfahrung, das durch Mephistos Angebot subtil sabotiert wird.
Philosophisch gesehen trifft hier die Ethik des vita activa auf die Verlockung der vita voluptuosa. Während Faust als Symbol für das moderne Subjekt der Aufklärung zwischen Vernunft und Transzendenz ringt, bietet Mephistopheles eine Rückkehr zur Immanenz des Genusses – aber nicht in klassischer Harmonie wie bei Epikur, sondern in einer hedonistischen Oberflächlichkeit, die letztlich zur Destruktion führen kann.
In dieser Verlockung zum Genuss in »Ruhe« spiegelt sich ein theologisches Problem wider: Das Aufgeben des Wachsens, der »caritas«, zugunsten der Trägheit (acedia), die in der mittelalterlichen Ethik eine Todsünde war. Die eigentliche teuflische List Mephistos besteht darin, das Leben als bloßen Konsum darzustellen – eine Versuchung, die umso gefährlicher ist, je gemütlicher sie klingt.
Fazit
Die beiden Verse sind ein Paradebeispiel für Goethes Fähigkeit, in scheinbar beiläufigen Worten tiefgreifende Spannungen zwischen Geist und Sinn, Bewegung und Stillstand, Streben und Genießen sichtbar zu machen. Mephistopheles redet leicht dahin – doch seine Worte sind das subversive Echo einer geistigen Versuchung, die Faust und damit den modernen Menschen insgesamt betrifft.