Faust.
Der Tragödie erster Theil
Johann Wolfgang von Goethe
Studirzimmer II. (2)
Faust.
1573 O seelig der! dem er im Siegesglanze
Faust beginnt mit einem Ausruf tiefer Bewunderung oder Sehnsucht. »Selig« ist hier nicht nur im Sinn von »glücklich«, sondern auch in einem beinahe religiösen, transzendenten Sinne zu verstehen. Die Interjektion signalisiert intensive emotionale Anteilnahme. Faust stilisiert eine Figur (oder sich selbst im Idealzustand) als »selig« – das heißt als innerlich erlöst, geistig erhöht, geradezu heilig.
Der Satz bricht zunächst ab (»der!«), was auf eine gewisse Unentschlossenheit, ein Stocken im emotionalen Überschwang hindeutet. Er denkt an einen Menschen, der im Augenblick des höchsten Triumphes — »im Siegesglanze« — von einer höheren Macht ausgezeichnet wird. Dieser »er« kann auf Gott, das Schicksal oder eine allegorische Personifikation des Ruhms oder der Weltgeschichte verweisen.
»Er« ist hier mutmaßlich eine göttliche Instanz oder ein idealisierter Genius – vielleicht eine Abwandlung des Mephistopheles selbst oder eine Abstraktion des Schicksals. Die Formulierung »im Siegesglanze« evoziert ein Bild des triumphalen Höhepunkts menschlichen Handelns, das öffentlich und glänzend sichtbar wird – Licht, Ruhm, Applaus.
1574 Die blut’gen Lorbeern um die Schläfe windet,
Dem gegenüber steht das düstere Adjektiv »blut’gen«: Der Siegeslorbeer ist mit Blut getränkt. Das verweist auf Gewalt, Krieg, Opfer. Der »Lorbeer« als klassisches Symbol des Ruhmes, der dichterischen und kriegerischen Vollendung, ist hier ambivalent konnotiert.
Das »Um-die-Schläfe-Winden« evoziert ein antikes Bild: der Lorbeerkranz, wie er Dichtern, Feldherren oder Kaisern verliehen wurde. Doch durch das Adjektiv »blut’gen« ist die heroische Geste durchdrungen von Tragik, vielleicht auch Schuld. Faust idealisiert den Moment höchsten menschlichen Ruhms, aber zugleich bleibt er sich (und dem Leser) gegenüber nicht blind für die Opfer, die damit verbunden sind.
Zusammenfassend 1573-1574
Diese Verse verdichten ein zentrales Motiv des Faust: das Streben nach Größe, das unaufhörliche Verlangen nach Transzendenz durch Tat – und die Erkenntnis, dass solche Größe stets mit Leid, Schuld und Gefahr einhergeht.
1. Heroismus und Schuld:
Faust preist den Menschen, der durch Tatkraft »gesegnet« wird – aber der Preis ist hoch. Der »blutige Lorbeer« verweist auf die dunkle Seite des Erfolgs: Macht hat ihren Preis. Hier klingt bereits an, was in der Tragödie später konkret wird (z. B. durch Gretchens Schicksal oder den zweiten Teil der Tragödie, in dem Faust als imperialer Akteur auftritt): Wer Großes will, muss Verantwortung für das Unheil übernehmen, das sein Handeln nach sich zieht.
2. Ruhm als vergänglicher Glanz:
Der »Siegesglanz« ist äußerlich – er leuchtet, doch er kann blenden. Die Lorbeeren sind Symbol des äußeren Ruhmes, nicht des inneren Friedens. Faust begehrt dieses Glänzen, obwohl er weiß, dass es blutig ist. Das verweist auf die innere Zerrissenheit zwischen moralischer Integrität und machtvollem Eingreifen in die Welt.
3. Verklärung des Tuns:
In der spätaufklärerischen und frühromantischen Gedankenwelt, in der Goethe schreibt, ist der Mensch nicht mehr bloß erkennendes, sondern handelndes Wesen. Faust möchte nicht bloß Erkenntnis, sondern Wirkung – die Möglichkeit, durch das eigene Handeln Bedeutung zu schaffen. Diese Verse stehen exemplarisch für den Aktivismus des faustischen Menschenbildes, der Tat dem kontemplativen Leben vorzieht – und sich dadurch stets in moralische Grauzonen begibt.
Fazit
Die beiden Verse sind ein dichter Ausdruck des faustischen Pathos: Sehnsucht nach Größe, Ruhm und Wirksamkeit, gepaart mit der düsteren Ahnung, dass solcher Ruhm stets Blut kostet – sei es im Krieg, in der Liebe oder in der Wissenschaft. Sie kündigen das kommende Drama an: Fausts Streben wird nicht rein und schuldlos bleiben können. Sein Weg zum Triumph führt über das Leiden anderer – ein Preis, den er zu zahlen bereit ist. Doch diese Zeilen verraten auch, dass Faust diesen Preis bereits erkennt.
1575 Den er, nach rasch durchras’tem Tanze,
Diese Zeile gehört zur Beschreibung, die Mephistopheles Faust von der Verführung eines jungen Menschen gibt. Der »er« ist der junge Mann, der durch das Leben »tanzt« – hier steht der »Tanz« metaphorisch für ein ungestümes, rauschhaftes, leidenschaftlich getriebenes Leben, das in schneller Abfolge durchschritten wird. Das Adjektiv »rasch« betont die Geschwindigkeit, während »durchras’t« eine intensive Bewegung evoziert – fast sturmhaft oder trunken. Es liegt eine gewisse Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit darin: Das Leben wird nicht besonnen durchschritten, sondern wie im Taumel durchlebt. Gleichzeitig erinnert das Bild an den Walpurgistanz, an erotische oder bacchantische Ekstasen – ein Hinweis auf ein hedonistisches Dasein, das sich um Sinnlichkeit, Vergnügen und unmittelbare Befriedigung dreht.
Phonetisch verstärkt die Alliteration (»rasch durchras’tem«) sowie die Enjambement-Struktur zwischen den beiden Versen das Dahinstürzen, das Unaufhaltsame und Getriebene. Auch das Verb »durchrasen« ist doppeldeutig: Es kann sowohl bedeuten, dass jemand etwas in schneller Bewegung durchläuft, als auch, dass eine Raserei ihn durchfährt – wie ein innerer Antrieb, ein Dämon.
1576 In eines Mädchens Armen findet.
Hier kommt die Beschreibung zu ihrem (scheinbaren) Zielpunkt: Das rastlose Umhertanzen, das unstete Treiben, endet in der vermeintlichen Geborgenheit und Zärtlichkeit – in den »Armen eines Mädchens«. Dieses Bild hat eine doppelte Konnotation: Zum einen evoziert es das romantische Ideal der Liebe, Zärtlichkeit und Nähe, zum anderen deutet es auf die erotische Erfüllung oder Verführung hin. Die Frau wird zum Ort der Ruhe, aber auch zum Objekt des Begehrens.
Aus Mephistopheles’ Perspektive, der diesen Lebenslauf mit sarkastischer Ironie schildert, wird deutlich, dass auch diese Begegnung nicht das Ziel einer seelischen Vervollkommnung darstellt, sondern ein weiterer Moment im Spiel der Triebe ist. Die Liebe ist hier nicht heilig oder metaphysisch, sondern ein Reflex des Körpers, der Natur, der Begierde – somit genau das Gegenteil dessen, was Faust (angeblich) in seinem Erkenntnisstreben sucht.
Zusammenfassend 1575-1576
Diese beiden Verse stehen innerhalb eines größeren Zusammenhangs, in dem Mephistopheles Faust seine Weltsicht darbietet – eine Sicht, in der der Mensch durch Instinkte, Leidenschaften und flüchtige Begierden gesteuert wird. Der junge Mensch »tanzt« durch das Leben, immer neuen Reizen folgend, und »findet« letztlich nur das, was ohnehin in ihm angelegt ist: sinnliche Befriedigung, aber keine höhere Wahrheit. Der »Fund« in den Armen eines Mädchens ist kein metaphysischer Gewinn, sondern bloßer Reflex des animalischen Triebes.
Philosophisch knüpft Goethe hier an die Debatten über Materialismus und Idealismus an. Die Vorstellung, dass der Mensch am Ende nur das findet, was seiner Triebnatur entspricht, ist eine Absage an metaphysische Sinnsuche. Zugleich bringt Goethe Mephistos Perspektive mit einer feinen Doppeldeutigkeit: Sie enthält Wahrheit – aber keine ganze Wahrheit. Faust will mehr als diesen Tanz, mehr als diese Arme – und dennoch wird er genau dorthin geführt.
Insgesamt reflektieren diese Verse die menschliche Natur als ein Zwischenwesen: triebhaft und suchend, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Sinn und dem Sog der Lust. Das »Mädchen« ist in dieser Dialektik sowohl Projektionsfläche als auch Falle. Goethe spiegelt hier bereits das Drama der kommenden Beziehung Faust–Gretchen in einem subtilen Vorausblick.
1577 O wär’ ich vor des hohen Geistes Kraft
Die Formulierung »O wär’ ich« markiert ein leidenschaftliches Wunschbild, eine Sehnsucht nach einem ekstatischen Zustand jenseits des Irdischen. Der Konjunktiv II zeigt, dass Faust von einer Möglichkeit spricht, die nicht eingetreten ist – ein Konjunktiv des Unerreichbaren oder Unerreichten.
»Vor des hohen Geistes Kraft« bezieht sich auf den Erdgeist, der einige Verse zuvor erschienen war. Die Phrase beschreibt eine hypothetische Wirkung dieser übermenschlichen Kraft: nicht Furcht oder Distanz, sondern Bezauberung und Hingabe. Wichtig ist hier das »vor« im Sinne von »durch«, aber auch im Sinne eines ehrfürchtigen Gegenübers: Faust will von der Präsenz des Geistes überwältigt, im besten Sinne erhoben werden.
Die Bezeichnung »hoher Geist« ist doppeldeutig. Einerseits bezieht sie sich konkret auf den Erdgeist, andererseits schwingt die Idee eines idealen, vielleicht sogar göttlich-metaphysischen Wesens mit. Faust sehnt sich also danach, von einer Instanz überwältigt zu werden, die über ihn hinausreicht – eine Form der Transzendenz durch Immanenz.
1578 Entzückt, entseelt dahin gesunken!
Diese Zeile ist rhythmisch und semantisch eine Steigerung. Die Alliteration »entzückt, entseelt« erzeugt klanglich eine Ekstase, aber auch eine Auflösung des Ich-Bewusstseins.
»Entzückt« meint wörtlich »herausgezogen« – also ekstatisch entrückt, im Zustand höchster Begeisterung. Der Begriff hatte im 18. Jahrhundert stark mystische Konnotationen, vgl. die Ekstase der Heiligen bei Teresa von Ávila oder der Platoniker.
»Entseelt« führt diese Bewegung ins Extreme: Nicht nur das Selbstbewusstsein, sondern die Seele selbst soll sich auflösen, um Platz zu machen für das, was größer ist. Das ist keine bloße Schwärmerei, sondern ein tödlicher, ekstatischer Aufstieg – im Sinne einer mystischen Selbstvernichtung, wie sie Meister Eckhart oder Johannes vom Kreuz beschreiben würden.
»Dahin gesunken« vollendet die Bildfolge: Es ist das Bild eines Todes in Verzückung – ein Hingesunkensein im Angesicht des Absoluten. Dabei mischt sich ekstatische Sehnsucht mit Thanatos: der Wunsch, im Licht des Höheren zu verlöschen.
Zusammenfassend 1577-1578
Diese beiden Verse stellen einen zentralen Moment im Faust’schen Daseinsverlangen dar: Faust sehnt sich nicht nach Wissen, Macht oder Sinn – sondern nach einem radikalen Überschreiten seiner selbst. Er will nicht mehr er selbst sein, sondern in der Schau eines höheren Wesens aufgehen. Das ist ein mystischer Impuls, der aber keine religiöse Heilsstruktur anerkennt, sondern im Spannungsfeld zwischen Mensch und Kosmos verbleibt.
Philosophisch gesprochen sind diese Verse Ausdruck eines existenziellen Ekstaseverlangens:
Mystik ohne Theologie: Faust begehrt, was die Mystiker begehren (Vereinigung mit dem Höheren), aber ohne demütige Gottesbeziehung. Es ist eine Selbsttranszendenz aus sich selbst heraus, nicht durch Gnade.
Einbruch des Numinosen: Die »Kraft des hohen Geistes« lässt sich mit Rudolf Ottos Begriff des »numinosen« Erhabenen fassen – eine Wirklichkeit, die zugleich fascinosum (anziehend) und tremendum (erschreckend) ist.
Vernichtung des Subjekts: Fausts Wunsch ist auch ein paradoxes Begehren des Todes im höchsten Sinn: Das Ich will sich selbst übersteigen und dadurch erlöschen.
Damit sind diese Verse ein Vorzeichen für Fausts tieferes Drama: Er will nicht leben, wie es dem Menschen zukommt, sondern überleben – in einem dionysischen, mystischen Sinn. Dieses Verlangen mündet nicht in stille Kontemplation, sondern in jenen unstillbaren Drang, der später den Pakt mit Mephisto motiviert.
Mephistopheles.
1579 Und doch hat Jemand einen braunen Saft
Mephistopheles greift in diesem Vers ironisch auf ein vergangenes Geschehen zurück – die Szene spielt auf Fausts Selbstmordversuch mit Gift (Vers 703 ff. in der »Nacht«) an. Der »braune Saft« ist das tödliche Gift, das Faust in einem mit alchemistischem Pathos vorbereiteten Trank zu sich nehmen wollte. Mephisto spricht hier nicht direkt von »Gift«, sondern verwendet eine bildhafte, fast lässige Umschreibung (»brauner Saft«), was eine doppelbödige Wirkung erzeugt:
Ironisierung und Verharmlosung: Durch die trivialisierende Metapher unterläuft Mephisto die existentielle Tiefe von Fausts Verzweiflungstat. Der Tod wird hier nicht als metaphysisches Problem, sondern als verpasster Akt des Alltags dargestellt.
Dämonische Allwissenheit: Mephisto demonstriert, dass er über Fausts verborgenste inneren Regungen und Handlungen genau Bescheid weiß. Die Aussage ist nicht nur retrospektiv, sondern auch entlarvend – sie stellt Fausts pathetisches Scheitern bloß.
Versteckter Spott: »Und doch« – das einleitende Konnektiv bringt Mephistos süffisante Verwunderung zum Ausdruck. Die ironische Pointe liegt in der stillen Triumphgeste: Faust hat den Selbstmord nicht vollzogen, also hat der Teufel weiter Spielraum.
1580 In jener Nacht, nicht ausgetrunken.
Dieser Vers gibt die Szene noch deutlicher preis. »Jene Nacht« verweist konkret auf die Episode in Fausts Studierzimmer, in der er – gepeinigt von Weltekel und Erkenntnisschmerz – das tödliche Getränk zu sich nehmen will, aber durch das Läuten der Osterglocken (Verse 764–767) gestört wird. Die Formulierung »nicht ausgetrunken« deutet an:
Abbruch des Todesentschlusses: Faust hat den Akt nicht vollendet – sei es aus äußerer Störung oder innerer Hemmung. Mephisto bringt diese unvollendete Tat in lakonischem Ton zur Sprache.
Unfertigkeit und Unentschlossenheit: In Mephistos Ton liegt der leise Vorwurf einer halbherzigen Existenzentscheidung. Fausts Wille ist nicht radikal, sondern schwankend – ein Charakterzug, den Mephisto in seinem perfiden Spiel auszunutzen gedenkt.
Teuflische Verführung: Indem Mephisto diese Episode aufgreift, ruft er nicht nur Fausts frühere Krise wach, sondern nutzt sie rhetorisch, um sich als potentiellen Helfer oder Vollender darzustellen. Der Teufel als Kommentator vergangener Schwächen kündigt zugleich an, diese nun »heilend« oder »vollendend« zu begleiten – natürlich mit zerstörerischer Absicht.
Zusammenfassend 1579-1580
1. Verhältnis von Erkenntnis und Lebensüberdruss:
Der Giftversuch ist Ausdruck der philosophischen Krise des Subjekts, das in der Welt der Begriffe, Theorien und Bücher keine Wahrheit mehr findet. Mephisto erinnert daran, dass dieses existentielle Scheitern nicht abgeschlossen ist – das nihilistische Potential in Faust ist noch aktiv und offen für Verführung.
2. Unentschiedenheit des modernen Menschen:
Mephistos Spott über das »nicht Ausgetrunkene« lässt sich auch als Kommentar zur Schwäche des modernen Ichs lesen. Faust steht sinnbildlich für den Menschen, der zwischen Todessehnsucht und Lebensdrang schwankt, unfähig zu entschlossener Selbstvernichtung oder aktiver Sinnstiftung – ein Zwischenwesen, das Mephistos Intervention geradezu heraufbeschwört.
3. Teufel als Historiker des Inneren:
Mephisto zeigt sich hier als Meister der psychologischen Erinnerung. Er spielt nicht nur mit äußeren Verlockungen, sondern mit den innersten Fäden der Seele – er weiß, was Faust getan hat, und vor allem: was er gelassen hat. Sein dämonisches Prinzip ist nicht plumpes Verführen, sondern subtile Mobilisierung des Unentschiedenen, des Nicht-Vollzogenen.
4. Metaphysische Spannung zwischen Verzweiflung und Gnade:
Dass Faust das Gift nicht trank, war kein Verdienst eigener Einsicht, sondern ein Moment der Einwirkung transzendenter Kräfte (Ostergesang). Mephisto erkennt hier zwischen den Zeilen an, dass das göttliche Moment bereits eingegriffen hat – was seinen Spott nur verschärft: Er steht im Wettstreit mit der göttlichen Gnade.
Fazit
Diese zwei kurzen Verse sind hochverdichtet: Mephisto schlägt mit kühler Ironie die Brücke zurück zu Fausts existenzieller Krise und stellt zugleich eine Verbindung zum weiteren Verlauf des Pakts her. Er arbeitet mit Untertönen der Verhöhnung, des Spottes und einer gezielten Erinnerung, die die psychologische Labilität Fausts ausnutzt. In philosophischer Hinsicht thematisiert die Stelle das Scheitern des denkenden Subjekts an seiner Welt, die Fragilität des Willens und die tiefe Spannung zwischen Todeswunsch und göttlichem Ruf.
Faust.
1581 Das Spioniren, scheint’s, ist deine Lust.
Diese Zeile spricht Faust mit ironischer Schärfe. Das Wort »Spioniren« verweist auf ein heimliches Beobachten oder Belauschen – eine Tätigkeit, die als niederträchtig, unehrenhaft oder neugierig gedeutet wird. Faust wirft Mephistopheles vor, ihn auszuspionieren – ein Vorwurf, der sowohl Mephistos listige Natur als auch seine ständige Präsenz betrifft.
Das Wort »scheint’s« (»es scheint«) mildert den Vorwurf leicht ironisch ab, als wolle Faust sagen: »Ich weiß es zwar nicht mit Sicherheit, aber dein Verhalten legt es nahe.« Gleichzeitig lässt dieser Ausdruck Raum für zweideutige Interpretation: Er könnte eine rhetorische Figur sein, die den Spott erhöht.
Fausts Tonfall ist gereizt – Ausdruck seiner Abneigung gegenüber Mephistopheles’ übergriffiger Nähe. In der größeren Struktur der Szene zeigt sich hier ein zunehmender Widerstand Fausts gegen die Art und Weise, wie Mephisto in sein Leben eindringt. Zugleich spiegelt sich in dem Begriff des »Spionirens« auch Mephistos Rolle als dämonischer Beobachter des Menschen – ein Motiv, das tief in der christlichen Dämonologie verwurzelt ist.
Mephistopheles.
1582 Allwissend bin ich nicht; doch viel ist mir bewußt.
Mephistopheles antwortet mit scheinbarer Demut, gleichzeitig aber mit einer unterschwelligen Selbstbehauptung. Die erste Halbzeile – »Allwissend bin ich nicht« – weist eine ironische Bescheidenheit auf, die auf den klassischen Gottesbegriff anspielt: Nur Gott ist omniscientia, also allwissend. Der Teufel hingegen, obwohl ein gefallener Engel, ist begrenzt in seinem Wissen. Damit grenzt sich Mephisto theologisch korrekt von Gott ab – doch gerade das »doch« in der zweiten Halbzeile relativiert diese Begrenzung sofort.
»Doch viel ist mir bewußt« bedeutet mehr als bloßes Wissen: Das Wort »bewußt« impliziert ein waches, durchdringendes, erfahrungsgetragenes Wissen – ein Wissen nicht nur über äußere Fakten, sondern auch über menschliche Schwächen, seelische Regungen, geheime Wünsche. Mephisto zeigt hier seine Überlegenheit in weltlicher und psychologischer Hinsicht.
In typischer mephistophelischer Manier wird eine bescheidene Formulierung (kein Allwissen) mit einem subtilen Hinweis auf überragendes Wissen (»viel ist mir bewußt«) verknüpft. Der Vers ist in sich dialektisch gebaut – ein Paradoxon zwischen Begrenzung und Macht, zwischen Bescheidenheit und Arroganz.
Zusammenfassend 1581-1582
1. Erkenntniskritik und Dämonologie:
Fausts Vorwurf des »Spionirens« thematisiert eine zutiefst epistemologische Frage: Wie wird Wissen erlangt? Durch Beobachtung, Einfühlung, Erfahrung – oder durch verborgene, möglicherweise unerlaubte Mittel? Mephistopheles steht als Figur für ein Wissen, das nicht aus göttlicher Wahrheit oder reiner Vernunft stammt, sondern aus Manipulation, Beobachtung und Täuschung. Er verkörpert somit eine Form dämonischer Erkenntnis.
2. Grenzen des Wissens und Ironie des Teufels:
Mephistopheles’ Bemerkung enthält eine feine Ironie: Er bekennt sich zu seiner Unvollkommenheit, nur um sogleich seine Überlegenheit im weltlichen, menschlichen Bereich zu demonstrieren. So entsteht ein spannungsreicher Kontrast zwischen göttlicher Allwissenheit und mephistophelischem Weltwissen, das oft geradezu praktischer, wirksamer, verführerischer erscheint.
3. Anthropologische Tiefenschärfe:
Mephisto zeigt hier sein Gespür für den Menschen. Was ihm »bewußt« ist, ist die menschliche Seele mit all ihren Abgründen. Dieser Vers deutet an, dass seine Macht weniger in göttlicher Allmacht liegt als im psychologischen Verständnis – eine Vorstellung, die Goethe von der dämonischen Figur als Inbild moderner Selbstreflexion prägt.
4. Rhetorik der Täuschung:
Mephisto agiert stets mit sprachlicher Doppelbödigkeit. Seine Antwort ist diplomatisch, wendig, ausweichend und doch durchdringend. Er stellt seine Begrenzung zur Schau, um seine List zu verbergen – eine dialektische Strategie, mit der er sich dem Vertrauen des Menschen nähert, ohne je ganz greifbar zu sein.
Fazit
In dieser kurzen Dialogpassage kulminiert ein tiefer Konflikt: Fausts Streben nach Selbstbestimmung und Reinheit der Erkenntnis kollidiert mit Mephistos halbtransparentem, übergriffigem, doch faszinierendem Wissen. Faust will klar erkennen – Mephisto kennt die Macht des Dunstes.
Faust.
1583 Wenn aus dem schrecklichen Gewühle
Der Vers beginnt mit einer konditionalen Struktur (»Wenn...«), was auf eine Bedingung oder erinnerte Situation verweist.
»Schreckliches Gewühle« ist eine metaphorisch dichte Wendung. »Gewühl« suggeriert eine chaotische, unübersichtliche Bewegung oder innere Unruhe; das Adjektiv »schrecklich« intensiviert die seelische Bedrängnis.
Das Wortfeld evoziert eine existenzielle, fast dämonische Verfassung, ein Chaos der Gedanken oder Empfindungen, das Faust innerlich erschüttert.
Faust beschreibt einen seelischen Zustand großer innerer Verwirrung oder Not, wie sie ihn im Verlauf des Werkes immer wieder heimsucht – sei es in der existenziellen Krise des Prologs, der Suizidabsicht in der »Nacht«, oder im dämonischen Bann der Leidenschaft.
In der Konstellation dieses Moments geht es um das Zusammenspiel von dämonischer Verführung (Mephistos Musik) und einer gegenbildhaften, seelischen Sehnsucht (Gretchen). Das »Gewühle« kann als symbolischer Ausdruck des Wirkens Mephistos verstanden werden – eine psychische Verwirrung oder Versuchung, aus der Faust herausgezogen wird.
Alternativ oder ergänzend lässt sich das »Gewühle« auch allgemein als das chaotische Drängen der Leidenschaften, der Lebenskräfte, des Erkenntniswillens interpretieren – all das, was Fausts Streben prägt und zugleich gefährdet.
1584 Ein süß bekannter Ton mich zog,
»süß« und »bekannt« erzeugen eine Atmosphäre der Nostalgie, des Trostes, der Innigkeit.
Der »Ton« verweist sowohl konkret auf den musikalischen Reiz (Mephistos Spiel) als auch metaphorisch auf eine seelische Erinnerung oder einen inneren Ruf.
Das Verb »zog« ist semantisch stark: Es impliziert eine Kraft, eine Anziehung, fast magnetische Wirkung – allerdings passiv, denn Faust wird gezogen.
Der Vers beschreibt einen Moment der seelischen Anrührung – das Erleben eines Tons (vermutlich einer Melodie), der etwas tief Vertrautes und Wohltuendes in ihm berührt.
In der konkreten Szene spielt Mephisto auf dem Klavier die Weise, die mit Gretchens Welt assoziiert ist. Der »süß bekannte Ton« könnte sich auf die musikalische Erinnerung an Gretchen selbst beziehen – ihre Unschuld, ihre Nähe zur einfachen Welt, das verlorene Menschliche.
Es ist bemerkenswert, dass dieser Ton aus dem »schrecklichen Gewühle« herausführt – man kann sagen: Das Göttlich-Weibliche zieht Faust wieder aus dem Bann des Dämonischen, eine Vorahnung der späteren Rettung »das Ewig-Weibliche zieht uns hinan«.
Der Vers greift auch das romantische Motiv des Erinnerns durch Musik auf – ähnlich wie in Novalis' oder Tiecks Werk – wo Musik nicht nur sinnlich ist, sondern seelische Tiefenschichten erschließt.
Zusammenfassend 1583-1584
1. Dualismus zwischen Chaos und Harmonie:
Faust steht zwischen einem chaotischen, innerlich zerrissenen Zustand (»schreckliches Gewühle«) und einer ordnenden, heilenden Kraft, die durch Musik und Erinnerung wirkt (»süß bekannter Ton«). Das spiegelt Goethes anthropologische Grundfrage: Wie kann der Mensch zwischen Triebhaftigkeit und Transzendenz bestehen?
2. Sehnsucht nach Ursprünglichkeit:
Der »bekannte Ton« ruft eine Rückbindung an etwas Verlorenes, vielleicht Kindliches oder Rein-Menschliches hervor. Es ist eine Reminiszenz an eine vergangene Unschuld – eine Bewegung gegen die Entfremdung des modernen Gelehrten.
3. Musik als metaphysische Kraft:
Goethe greift hier eine Vorstellung auf, die bereits bei Pythagoras, Platon und dann in der deutschen Romantik virulent war: Musik ist nicht bloß ästhetisch, sondern seelisch-mystisch wirksam. Sie kann zwischen Welten vermitteln – hier zwischen dämonischem Chaos und heilender Innerlichkeit.
4. Das Weiblich-Rettende (vorweggenommen):
In nuce tritt hier die Symbolik auf, die am Ende von Faust II triumphiert: Die rettende Macht des Weiblichen, des »süßen Tones«, das aus der Verwirrung des Weltgetriebes herausführt – sei es in Form von Erinnerung, Liebe oder Erlösung.
1585 Den Rest von kindlichem Gefühle
Faust spricht hier von dem letzten Überbleibsel seiner kindlichen Empfindungen – also jener ursprünglichen, naiven, warmen, vielleicht auch religiösen oder emotionalen Regungen, die nicht von intellektueller Reflexion durchdrungen sind. »Kindliches Gefühl« steht für Unschuld, Empfänglichkeit, Offenheit, vielleicht auch für Vertrauen in höhere Mächte. Der »Rest« signalisiert: Diese Empfindung ist in ihm fast völlig versiegt; nur ein kleiner Teil davon lebt noch fort. Diese seelische Dimension wird also retrospektiv als fast erloschen dargestellt – als Opfer seines Denkens, seiner Zerrissenheit und seines intellektuellen Zweifels.
1586 Mit Anklang froher Zeit betrog;
Der Ausdruck »Anklang froher Zeit« meint Erinnerungen oder emotionale Resonanzen an glücklichere, unbeschwertere Lebensabschnitte – wahrscheinlich an die Kindheit oder Jugend, aber auch an eine Zeit, in der das Leben noch als sinnvoll, harmonisch und heil erfahrbar war. Das entscheidende Wort ist jedoch »betrog«: Faust gesteht sich ein, dass diese positiven Erinnerungen eine Art Selbsttäuschung waren. Er hat sich selbst mit dem Echo vergangener Freude »betrogen«, also belogen oder in eine Illusion geflüchtet. Der Betrug betrifft den letzten Rest seiner Fähigkeit zu fühlen, zu glauben, zu hoffen. Es ist ein Akt der Selbstüberlistung, den er nun als solchen erkennt.
Zusammenfassend 1585-1586
Diese zwei Verse sind ein Schlüssel zur existentiellen und erkenntnistheoretischen Krise des Doktor Faust:
Erkenntnistheoretische Selbsttäuschung:
Faust erkennt, dass er sich selbst mit bloßen Reminiszenzen, mit inneren Nachklängen an eine verlorene Lebensfülle getäuscht hat. Diese Selbsttäuschung ist keine bewusste Lüge, sondern eine seelische Schutzfunktion: Er wollte sich selbst wenigstens einen Rest von Sinn und Gefühlsbindung vorgaukeln – aber auch das erweist sich als Trug.
Verlust der Transzendenz durch Reflexion:
Das »kindliche Gefühl« steht implizit auch für das religiöse Urvertrauen oder für eine ungebrochene Weltsicht. Dass Faust diesen »Rest« nur durch illusionären Rückgriff auf vergangene Gefühle erhalten konnte, zeigt, wie radikal die Rationalität in seiner Seele gewütet hat. Der Versuch, sich an alte Gefühle zu klammern, wird durch sein Bewusstsein selbst als Betrug entlarvt.
Existenzphilosophische Dimension:
Der Moment markiert ein Stadium, in dem Faust sich dem Nihilismus nähert: Wenn selbst die letzten warmen Gefühle trügerisch sind, was bleibt dann? Es ist eine ontologische Leere, die sich hier abzeichnet – ein Mensch, der weder an Gott noch an menschliche Gefühle glaubt, weil er alles durchschaut und dadurch entwertet hat.
Kritik am Ideal der Aufklärung:
Goethes Faust verkörpert hier auch eine Kritik an der reinen Vernunft: Die Übersteigerung der Vernunft kann zur inneren Verarmung führen, zum Verlust dessen, was das Leben lebenswert macht. Die Verse können somit als Warnung vor einem Rationalismus gelesen werden, der den Menschen von sich selbst entfremdet.
1587 So fluch’ ich allem was die Seele
Faust beginnt hier einen Fluch, der sich über mehrere Verse erstrecken wird. Mit »So fluch’ ich« wird eine feierlich-erbitterte Geste gesetzt, eine bewusste Abkehr. Die Formulierung ist apodiktisch und theatralisch – als wolle Faust eine endgültige Entscheidung treffen. Die Seele – als innerstes, geistig-spirituelles Wesen des Menschen – steht hier im Fokus. Der Fluch richtet sich nicht gegen die Seele selbst, sondern gegen das, was sie umgibt und beeinflusst. Das Verb »umspannen« (im nächsten Vers) wirkt hier schon voraus – der Fluch gilt also dem Netz, das sich um die Seele legt.
Indem Faust »flucht«, wendet er sich nicht einfach ab – er verflucht aktiv das, was seine Seele fesselt oder betört. Der Tonfall ist zugleich kämpferisch und verzweifelt: Es ist die Selbstanklage eines Menschen, der sich seiner bisherigen Triebfedern entledigen will, um radikal neue Wege zu beschreiten. In der dramatischen Situation nach dem Pakt mit Mephisto markiert dieser Vers einen weiteren Bruch mit traditionellen Wertordnungen.
1588 Mit Lock- und Gaukelwerk umspannt,
Hier wird präzisiert, was genau Faust verflucht: alles, was die Seele »umspannt«, das heißt – sie umgarnt, einhüllt, bindet – und zwar mit »Lock- und Gaukelwerk«. Beide Begriffe deuten auf Täuschung, Illusion und Verführung. »Lockwerk« meint das, was verführt – etwa sinnliche Reize, Schönheit, Genuss, Bequemlichkeit. »Gaukelwerk« verweist auf Trugbilder, Blendwerk, auf eine Welt der Illusionen und Täuschungen – vielleicht auch auf die »schöne« Oberfläche der Welt, die sich hinter Vernunft, Bildung und Religion verbirgt.
Diese Formulierung erinnert an barocke Vanitas-Motive: Das Leben ist ein Trugbild, eine Gaukelei. Doch Goethe legt Fausts Fluch nicht ins resignative, sondern ins aggressive Register: Was die Seele fesselt, soll aktiv verworfen werden. Der Fluch zielt auf das falsche Licht, das die Welt bietet – vielleicht auch auf das, was Faust selbst früher suchte: Erkenntnis, Schönheit, Erfolg, vielleicht sogar Liebe.
Zusammenfassend 1587-1588
In diesen zwei Versen verdichtet sich Fausts existenzieller Bruch mit der bisherigen Welt- und Sinnordnung. Er flucht allem, was nicht echt, sondern nur scheinbar sinnvoll ist – allem, was die Seele in eine Illusion einspinnt. Das ist eine radikale Wendung gegen das Ideale, das Schöne, das Tröstende – gegen das, was in der Aufklärung als »menschlich erhebend« galt. Faust verflucht nun die ganze Ästhetik und Ethik der »Veredelung« der Seele durch Kultur, Religion oder Moral, weil er sie als Lockmittel, als Blendwerk erkennt.
Philosophisch gesprochen kündigt Faust hier ein nihilistisches Moment an: Er wendet sich gegen die metaphysische Behübschung der Welt. Der Fluch richtet sich gegen das, was Nietzsche später die »Idealisierungen« der platonisch-christlichen Moral nennen würde – das, was »tröstet«, aber nicht rettet. Es ist die Seele selbst, die nicht mehr Ort der Wahrheit ist, sondern Schauplatz der Verblendung.
Im Kontext des Teufelspakts wird dieser Fluch zur existenziellen Unterschrift: Faust erklärt die Sinnsysteme, die das Subjekt binden und stützen (Glaube, Moral, Erkenntnis), für betrügerisch. Was zählt, ist allein die Erfahrung, das »Erleben«, das »Jetzt« – eine Haltung, die tief ins moderne Denken weist.
Fazit
Faust vollzieht in diesen Versen eine metaphysische Selbstentbindung: Das Leben darf keine Gaukelei sein – selbst wenn die Wahrheit schmerzhaft ist, muss sie gewonnen werden. Damit begibt er sich in die radikale Gefahr der Entzauberung – und öffnet zugleich das Tor zur dämonischen Welt.
1589 Und sie in diese Trauerhöhle
Der Vers beginnt mit dem demonstrativen Pronomen »sie«, das sich im Kontext auf die »Geister«, »Elemente« oder dämonischen Kräfte bezieht, über die Mephistopheles Macht hat und die er ruft, um Fausts Wünsche zu bedienen. Möglich ist aber auch, dass sich das »sie« auf die Menschen oder Seelen bezieht, die durch solche Mächte verführt und in die Irre geführt werden. Die »Trauerhöhle« ist ein starkes Bild: metaphorisch beschreibt sie Fausts gegenwärtigen seelischen Zustand – düster, leer, hoffnungslos. Gleichzeitig steht sie auch allgemein für das irdische Dasein, das in Fausts Perspektive durch Entfremdung, Mangel an Sinn und Erkenntnis als leidvoll erfahren wird. Der Begriff »Höhle« evoziert zudem platonische Assoziationen – die Höhle als Ort der Illusion, der Unfreiheit, der Schatten. Damit verdichtet sich in einem einzigen Wort eine ganze Philosophie des Mangels und der existenziellen Gefangenschaft.
1590 Mit Blend- und Schmeichelkräften bannt!
Der Vers zeigt in harscher Kritik die Mittel, mit denen Mephistopheles bzw. die dämonischen Mächte Einfluss gewinnen: durch Täuschung (»Blendkräfte«) und Verführung (»Schmeichelkräfte«). »Bannen« bedeutet hier nicht nur das einfache »festhalten«, sondern weist auch auf magisch-dämonische Einflussnahme hin – ein gewaltsames Unterwerfen des Willens unter eine Macht, die mit Illusionen arbeitet. »Blendkraft« verweist auf Schein statt Sein – das, was die Augen blendet und die wahre Erkenntnis verhindert. »Schmeichelkraft« hingegen ist die sanfte, verführerische Seite derselben Macht – sie verspricht Lust, Trost, Bestätigung, aber zu einem Preis: der Entfremdung vom Wahren, vom Geistigen, vom Ewigen.
Zusammenfassend 1589-1590
Diese beiden Verse sind Ausdruck einer tiefen erkenntnistheoretischen und existenziellen Skepsis. Faust erkennt, dass der Zugang zu einer höheren Erkenntnis oder Wahrheit (die er sich wünscht) von Mächten okkupiert ist, die nicht befreien, sondern bannen. Was wie Trost und Sinn erscheint, sind oft nur Blendwerke und Verführungen – sinnliche Freuden, oberflächliche Versprechen, süße Illusionen. Der Mensch – und in gewisser Weise auch Faust selbst – wird so durch Lust und Täuschung in einer »Trauerhöhle« gehalten: eine Welt der Schatten, eine Gefangenschaft im Irdischen, die zugleich von seinen eigenen Wünschen mit herbeigeführt wird.
Philosophisch schwingen hier zentrale Motive der platonischen Ideenlehre (Höhlengleichnis), der gnostischen Weltsicht (die Welt als leidvoller Ort der Täuschung), aber auch der christlichen Theologie mit: Die Welt ist gefallen, die Seele braucht Erlösung – doch auf dem Weg dorthin begegnet sie Blendwerk und Versuchung. Mephistopheles wird dabei nicht nur als Verführer, sondern als Enthüller dieser strukturellen Verfallenheit des Menschen sichtbar. Fausts Klage hat somit nicht nur einen moralischen Ton, sondern verweist auf die Tragik des menschlichen Strebens: dass es oft gerade durch sein Streben sich selbst verfängt.
1591 Verflucht voraus die hohe Meinung,
Faust beginnt diesen Ausruf mit einem Fluch – einer bewussten Absage und Verurteilung. »Verflucht« ist hier nicht nur ein Ausdruck emotionaler Ablehnung, sondern ein magisch performativer Akt: Faust spricht im Kontext des Paktes mit Mephisto einen rituell anmutenden Bann aus.
Die »hohe Meinung« bezeichnet die erhabene Vorstellung, die der Mensch (bzw. der Geist) von sich selbst oder seinem Erkenntnisvermögen hat. Diese »hohe Meinung« ist ein zentraler Begriff für den Hybris des Subjekts – für die Illusion, dass der menschliche Geist allein durch Rationalität, Wissenschaft oder Selbstreflexion zur Wahrheit oder Erlösung gelangen könne.
Der Zusatz »voraus« betont, dass Faust diesen Irrglauben nicht nur ablehnt, sondern ihn geradezu anticipierend verdammt: Noch bevor er sich erneut auf den Pfad innerer Selbsterhebung begibt, will er diese Denkform ausschließen. Es ist ein präemptiver Bruch mit der geistigen Selbstüberhöhung.
1592 Womit der Geist sich selbst umfängt!
Hier folgt die nähere Bestimmung dessen, was mit der »hohen Meinung« gemeint ist: Es ist die Vorstellung, mit der »der Geist sich selbst umfängt«. »Umfängt« hat eine doppelte Konnotation: Einerseits kann es im Sinne von »einschließen«, »umklammern« verstanden werden – der Geist schließt sich durch sein eigenes Denken ein, wird gewissermaßen gefangen in seinem eigenen Anspruch. Andererseits könnte man auch ein Echo von »umarmen« hören, was auf Selbstverliebtheit, Narzissmus oder Selbstbezogenheit des Denkens hinweist.
In beiden Fällen wird eine erkenntniskritische Position sichtbar: Der Geist gerät durch seine eigene Selbstüberschätzung in ein Gefängnis, das ihn daran hindert, über sich hinauszugelangen. Diese Erkenntnis ist bei Faust ein zentraler Wendepunkt – es ist die Absage an die Ideale des autonomen, aufklärerischen Ichs.
Zusammenfassend 1591-1592
In diesen beiden Versen bündelt sich ein zentrales Motiv der Faust-Dichtung: die Kritik an der Hybris des autonomen Subjekts und die Grenzen rationaler Selbstermächtigung. Goethe formuliert hier – durch Fausts Stimme – eine Absage an den cartesianischen Idealismus und an den kantischen Vernunftbegriff, insofern diese noch in der Idee wurzeln, der Mensch könne durch »reine« Selbstreflexion zur Wahrheit gelangen.
Faust erkennt, dass das Denken sich selbst fängt – dass das Streben nach Erkenntnis paradoxerweise in eine Sackgasse führen kann, wenn es nur um sich selbst kreist. Die »hohe Meinung« ist ein geistiger Narzissmus: ein Spiegelspiel, das sich selbst genügt. Damit wird auch deutlich, warum Faust so empfänglich für Mephistos Angebot ist: Er will die Erfahrung, das Andere, das Überschreiten der eigenen Grenzen.
In tieferer theologischer Dimension erinnert der Fluch an eine gnostische oder mystisch-theologische Haltung: Nur durch das Loslassen des Ichs – also durch Entäußerung – kann wahre Erkenntnis, kann Transzendenz erfahren werden. Goethe formuliert hier also auch eine existentielle Kritik an einer bloß intellektuell-abstrakten Vernunftauffassung zugunsten eines ganzheitlichen Erfahrungswissens, das Körper, Gefühl und Weltbegegnung einschließt.
Fazit
Diese beiden Verse markieren damit eine bewusste Abkehr Fausts vom Ideal eines »sich selbst genügenden Geistes« – ein Schritt auf seinem Weg in die Verführung durch Mephisto, aber auch ein Hinweis auf die tiefer liegende spirituelle Krise der Moderne.
1593 Verflucht das Blenden der Erscheinung,
Mit dem Fluch auf das »Blenden der Erscheinung« richtet Faust seine Wut gegen das, was sich ihm als Schein zeigt – gegen die äußere Welt, insofern sie ihn täuscht. Das Wort Blenden enthält doppelte Bedeutung: Es verweist einerseits auf das Licht, das die Sicht übermäßig überstrahlt und dadurch das Sehen unmöglich macht, andererseits auf Verführung und Täuschung. Die »Erscheinung« ist hier nicht bloß eine einzelne Illusion, sondern die allgemeine Erscheinungswelt, die sinnlich zugänglich ist – also das Phänomen im Gegensatz zum Ding an sich (vgl. Kant). Faust erkennt: Was sich zeigt, ist nicht das, was ist.
Der Fluch auf das Blenden der Erscheinung markiert eine tiefe metaphysische Enttäuschung: Die äußere Welt versperrt den Zugang zum Wesen der Dinge. Diese Kritik ist zugleich eine Absage an die klassische sensualistische Erkenntnistheorie – an die Idee, dass über die Sinne Wahrheit zugänglich sei. Fausts Denken tendiert hier ins Gnostische: Die Welt ist nicht nur unzulänglich, sondern in ihrer Erscheinung trügerisch, ja verderblich.
1594 Die sich an unsre Sinne drängt!
Die zweite Zeile konkretisiert, worin der Skandal liegt: Nicht bloß, dass die Erscheinung blendet, sondern dass sie sich aufdrängt. Der Ausdruck »drängen« suggeriert eine aggressive Bewegung, eine Gewalt von außen, die das Subjekt bedrängt. Die Sinne – eigentlich die Organe des Zugangs zur Welt – werden hier zu Schwachstellen, über die sich die Illusion ungebeten Zugang verschafft. Das »unsre« markiert dabei eine allgemein menschliche Bedingtheit: Es geht nicht nur um Fausts persönliche Wahrnehmung, sondern um das epistemische Schicksal des Menschen überhaupt.
Die Philosophie des Subjekts, wie sie im deutschen Idealismus entwickelt wurde (vor allem bei Fichte und Schelling), ist hier in ihrer Krise dargestellt: Das Subjekt kann sich der Welt nicht mächtig setzen, sondern wird von einer trügerischen Außenwelt überwältigt.
Zusammenfassend 1593-1594
Diese beiden Verse formulieren ein zentrales Problem des Erkenntnispessimismus: die Differenz von Schein und Sein, von Phänomen und Noumenon. Goethe greift hier implizit erkenntnistheoretische Fragen auf, wie sie im späten 18. Jahrhundert besonders durch Kant in den Vordergrund traten. Fausts Fluch ist letztlich ein metaphysisches Urteil: Die Welt ist nicht vertrauenswürdig, weil das, was uns über die Sinne entgegentritt, nicht das Wahre ist, sondern bloß Blendwerk.
Diese Sicht steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Fausts Unzufriedenheit, wie sie schon im »Nacht«-Monolog deutlich wurde: Bücher, Wissenschaften, alle Erkenntnis haben ihn nicht zum Wesen der Dinge geführt. Die Sinne, auf die sich menschliches Wissen stützt, werden nun explizit verworfen. Damit rückt Fausts Suche endgültig in den Bereich des Transzendentalen, ja des Mystischen – wo andere Erkenntniswege als die der Vernunft oder der Sinne notwendig werden.
Zugleich lassen sich Parallelen zur platonischen Philosophie erkennen: Auch dort ist die Sinnenwelt bloß ein Schattenreich, während das Wahre jenseits liegt – im Bereich der Ideen. Fausts Fluch ist also ein Ausdruck tiefer metaphysischer Entfremdung: Er verflucht die Welt nicht, weil sie böse ist, sondern weil sie ihm nicht genügt.
Fazit
Faust verflucht in diesen Versen nicht nur die Welt der Erscheinungen, sondern die ganze menschliche Erkenntniskondition. Die Sinne – das Tor zur Welt – werden zum Hindernis der Wahrheit. Die Flucht ins Transzendente, ins Magische oder Dämonische, wie sie in der Szene vorbereitet wird, erscheint so als notwendige Konsequenz einer radikal verneinenden Erkenntniskritik. Damit steht Faust exemplarisch für das moderne, zerrissene Subjekt zwischen Empirie und Sehnsucht nach Absolutem.
1595 Verflucht was uns in Träumen heuchelt,
Faust schleudert hier einen Fluch gegen das Trügerische, das sich in Form von Träumen oder Visionen präsentiert. Die Träume sind dabei nicht bloß nächtliche Bilder, sondern im Sinne der romantisch-idealistischen Tradition auch Sinnbilder menschlicher Hoffnungen, Illusionen und Sehnsüchte – etwa nach Größe, Erkenntnis oder Unsterblichkeit. Die Formulierung »in Träumen heuchelt« impliziert eine Täuschung: Die Träume geben sich als verheißungsvoll aus, aber ihr Versprechen ist nicht echt. Sie »heucheln«, also lügen mit einem Anschein von Wahrheit. Faust richtet seinen Zorn auf all jene geistigen oder idealistischen Bestrebungen, die ihm lange Zeit als wertvoll erschienen sein mögen, nun aber als Blendwerk entlarvt werden.
Diese Wendung steht im Zusammenhang mit Fausts radikalem Bruch mit den Idealen der traditionellen Gelehrsamkeit und seines bisherigen Lebens. Er erkennt, dass selbst geistige Erhebungen und Träume, wenn sie nicht Wirklichkeit schaffen oder verändern, letztlich leer sind – sie gaukeln Erfüllung vor, ohne Substanz zu bieten.
1596 Des Ruhms, der Namensdauer Trug!
Dieser zweite Fluch richtet sich gegen den menschlichen Drang nach Nachruhm – nach bleibendem Namen, nach historischer Bedeutung. Der »Ruhm« und die »Namensdauer« sind klassische Motive der antiken und humanistischen Tradition: durch Taten oder Werke Unsterblichkeit im Gedächtnis der Nachwelt zu gewinnen. Doch Faust erkennt nun auch hierin eine Täuschung – einen »Trug«. Der »Ruhm« verspricht Dauer, aber er ist bloß eine Projektion in die Zukunft, ein Schatten von Ewigkeit. Der Name mag bleiben, aber das Ich, das Subjekt, vergeht. st ein zentrales Ideal der Gelehrtenkultur und des bürgerlichen Ehrgeizes als Illusion. Der Wunsch, sich in Werken zu verewigen, hat keinen realen Erlösungswert. Fausts Verfluchung dieses Ideals bedeutet eine radikale Abkehr von einem Lebenssinn, der sich in der äußeren Anerkennung und im Nachruhm verankert sieht. Der »Trug« ist dabei nicht nur Lüge, sondern auch Selbsttäuschung – ein sich selbst eingeredeter Wert ng der philosophischen Implikatione Versen manifestiert sich Fausts existentielle Revolte gegen alle ideellen und symbolischen Versprechen, die sich von der Realität abheben oder sich nicht konkret in das unmittelbare Leben einlösen lassen. Träume, Ruhm und Namensdauer – allesamt metaphysisch oder kulturell aufgeladene Werte – werden als Täuschungen entlarvt
Zusammenfassend 1595-1596
Philosophisch berührt Faust hier zentrale Themen der existenzialistischen Kritik an der Idealität:
Abkehr vom Idealismus: Faust verflucht die Ideale, die bloß versprechen, aber nicht einlösen. Damit stellt er sich gegen die romantische wie klassische Vorstellung, dass das Erhabene (Traum, Ruhm, Name) das Leben erhebt oder rechtfertigt.
Ablehnung der Posthumen Unsterblichkeit: Die Idee, dass der Mensch durch seinen Namen fortleben kann, wird als illusionär zurückgewiesen. Dies erinnert an Heideggers Kritik an der »Uneigentlichkeit« eines Lebens, das sich auf das »Man« und den Nachruhm stützt.
Immanenzforderung: Faust verlangt eine Erfüllung im Hier und Jetzt, nicht in symbolischen Versprechungen oder Zukunftsprojektionen. Er will eine Wirklichkeit, die wirklich wirkt – nicht bloß träumt oder erinnert wird.
Kritik an kultureller Selbsttäuschung: Ruhm und Traum sind gesellschaftlich etablierte Werte, deren trügerischer Charakter aber kaum hinterfragt wird. Faust durchschaut diesen kollektiven Selbstbetrug.
Fazit
Insgesamt treten diese Verse als Teil von Fausts radikalem Neuansatz auf, in dem er sein Leben ganz auf das konkrete Erleben, auf unmittelbare Erfahrung, auf Wirkung in der Welt gründen will – koste es, was es wolle. Sie sind Ausdruck seiner Ablehnung jeder Form von bloßer Repräsentation oder Symbolik zugunsten einer existentiellen Tatkraft.
1597 Verflucht was als Besitz uns schmeichelt,
Hier spricht Faust den Fluch auf alles aus, was sich als Besitz ausgibt oder Besitz verspricht. Das Verb schmeicheln legt nahe, dass dieser Besitz nicht nur äußerlich lockt, sondern sich trügerisch an die innersten Sehnsüchte des Menschen anschmiegt. Es geht nicht um schroffe Unterdrückung, sondern um Verführung: Besitz erscheint als das, was dem Menschen zugewandt ist, was ihn umhegt, ihm Sicherheit oder Selbstwert suggeriert – und gerade darin liegt für Faust das Problem. Der Fluch trifft nicht den Besitz als solches, sondern die Illusion, die mit ihm verbunden ist: dass er den Menschen erfüllt. Besitz wird zum Symbol einer falschen Bindung, eines trügerischen Selbstverständnisses, das die Freiheit des Geistes lähmt.
Philosophisch knüpft Faust damit an asketisch-mystische Traditionslinien an, etwa an die mittelalterliche Kritik an der amor mundi (Weltliebe), wie sie bei Augustinus oder in der monastischen Weltflucht vorliegt. Doch während dort das Materielle zugunsten der Gottesliebe abgewiesen wird, ist Fausts Motiv ein anderes: Es ist die ungeduldige Suche nach Erkenntnis, Erfahrung, Grenzüberschreitung – Besitz wird zur Fessel auf dem Weg zur Selbsttranszendenz. Besitz »schmeichelt« – aber nur, um zu binden.
1598 Als Weib und Kind, als Knecht und Pflug!
Faust konkretisiert nun die Objekte, die er mit Besitz identifiziert – und trifft dabei zentrale Elemente der bürgerlich-patriarchalen Lebenswelt:
Weib und Kind stehen für Familie, also für emotionale Bindung, häusliche Ordnung, aber auch für Reproduktion gesellschaftlicher Normen. In patriarchaler Sicht sind Frau und Kind Teil des Hausstandes – und mithin des Besitzes. Dass Faust sie »verflucht«, wirkt radikal: Es ist die Absage an das familiäre Leben, das in der klassischen Anthropologie das Zentrum menschlicher Ordnung darstellt (z. B. bei Aristoteles: oikos als Ursprung von Gemeinschaft).
Knecht und Pflug stehen für Arbeit, Produktion, Landwirtschaft – also für den ökonomischen Besitz, die Nutzbarmachung der Welt. Mit ihrer Nennung wird auch das Verhältnis von Herrschaft (über den Knecht) und Natur (durch den Pflug) einbezogen. Es sind Zeichen von stabiler Ordnung, sozialer Stellung und produktiver Verankerung.
Fausts Fluch trifft also sowohl die emotionale als auch die ökonomische Dimension des Besitzes. Er wendet sich gegen alle Formen der Sesshaftigkeit, der Bindung, des »bürgerlichen Lebens«. In diesem Sinn kündigt er sich selbst von der Gemeinschaft ab, verlässt das kulturelle »Gehege« – ein Schritt, der existenziell gefährlich ist und zur späteren Tragödie mit Gretchen führen wird.
Zusammenfassend 1597-1598
1. Radikale Besitzkritik:
Faust nimmt eine Position ein, die den Besitz nicht nur als materiellen Gegenstand, sondern als Struktur der Weltbindung ablehnt. Besitz bedeutet für ihn Abhängigkeit, Selbstverlust und Illusion. Diese Sicht steht im Gegensatz zur aufklärerisch-bürgerlichen Idee des Eigentums als Freiheitssicherung (vgl. Locke), sondern erinnert eher an stoische oder mystische Weltverneinung.
2. Ablehnung gesellschaftlicher Ordnung:
Die genannten Begriffe – Weib, Kind, Knecht, Pflug – repräsentieren zentrale Bausteine der gesellschaftlichen und familiären Ordnung. Ihre Verfluchung ist ein symbolischer Ausstieg aus der Welt der Normen, der Traditionen, der Kultur. Faust will kein Vater, kein Herr, kein Bauer sein – sondern Suchender, Grenzüberschreiter.
3. Existenzielle Selbstverneinung:
Indem Faust jene Dinge verflucht, die das Leben gewöhnlich sinnvoll machen, gibt er sich einer Leere preis, die nur durch die Wette mit Mephistopheles gefüllt wird. Er bricht mit allem, was ihn zu einem »Menschen« im sozialen, moralischen und metaphysischen Sinn macht – und betritt damit ein Niemandsland zwischen Humanität und Hybris.
1599 Verflucht sey Mammon, wenn mit Schätzen
1600 Er uns zu kühnen Thaten regt,
Der Beginn dieses Fluchs richtet sich gegen Mammon, die personifizierte Macht des Geldes und materiellen Reichtums. Faust verflucht ihn nicht pauschal, sondern bedingt – nämlich dann, wenn er durch seine »Schätze« (also Reichtümer) den Menschen zu »kühnen Taten« antreibt.
Diese »kühnen Taten« sind doppeldeutig: Einerseits können sie für heroische, große Unternehmungen stehen, andererseits für gefährliche, moralisch zweifelhafte oder überhebliche Handlungen. Das Adjektiv »kühn« enthält die Ambivalenz zwischen mutig und verwegen, also zwischen Tugend und Hybris.
Faust erkennt die Verführungskraft des Reichtums, der nicht nur zur Trägheit, sondern auch zum Aktivismus verführen kann – Aktivismus jedoch, der vom Eigennutz getrieben ist, nicht von moralischer Einsicht. Dies ist besonders brisant, weil es in Fausts Weltanschauung um das rechte Verhältnis zwischen Denken und Handeln geht.
1601 Wenn er zu müßigem Ergetze
1602 Die Polster uns zurechte legt!
Hier wird der Gegenpol beschrieben: Nicht der zur Tat drängende Reichtum, sondern jener, der zur Trägheit, zum Genuss, zur Bequemlichkeit verleitet. »Müßiges Ergetzen« (also untätige oder sinnentleerte Freude) wird hier negativ konnotiert. Die »Polster«, die der Mammon »zurechte legt«, sind Metaphern für eine weich gebettete, luxuriöse Existenz – sie sind Symbole für Dekadenz, Selbstzufriedenheit und geistige Lähmung.
Der Konjunktiv im »wenn« zeigt erneut, dass der Fluch eine Bedingung setzt: Mammon wird nur dann verflucht, wenn er auf diese Weise wirkt. Die Bedingung ist allerdings sehr weitreichend: Ob durch Aktivismus oder Genuss – in beiden Fällen ist der Einfluss des Geldes als verderblich erkannt.
Zusammenfassend 1599-1602
Goethe entfaltet hier eine Ethik der Arbeit und eine Warnung vor der Abhängigkeit von äußeren Antrieben – seien sie aktivierend oder beruhigend. Die zentrale Idee ist, dass wahre Handlung aus einem inneren sittlichen oder existentiellen Antrieb entstehen muss, nicht durch äußere, materialistische Motive.
Fausts Fluch ist daher Ausdruck einer tiefen Ambivalenz gegenüber dem Materiellen:
Er erkennt, dass Geld Macht besitzt, Handlung beeinflusst und Lebensformen bestimmt – aber gerade deshalb muss diese Macht kritisch hinterfragt und eingegrenzt werden.
Der Fluch hat auch eine erkenntniskritische Dimension:
Wer durch Reichtum motiviert ist – ob zur Tat oder zur Ruhe –, handelt nicht aus eigenem Denken oder Streben. Für Faust, der nach Wahrheit und innerer Tiefe sucht, ist diese Abhängigkeit ein Verrat an der menschlichen Würde und Freiheit.
Damit rückt Goethe Faust in die Nähe asketisch-humanistischer Ideale:
Erkenntnis und echtes Leben entstehen nicht durch Reichtum, sondern trotz seiner Verlockungen. Das Bild des »zurechtgelegten Polsters« kontrastiert mit Fausts Sehnsucht nach Rastlosigkeit, Tiefe, Grenzerfahrung – es ist die satirisch gezeichnete Antithese zur existentiellen Suche.
Fazit
Diese vier Verse gehören zum sogenannten Fluch-Monolog, in dem Faust verschiedene Lebensmächte verwünscht (u.a. auch Ruhm, Hoffnung, Geduld und Liebe). Dieser Abschnitt markiert eine dramatische Zuspitzung seines inneren Konflikts: Die Welt, wie sie ist, genügt Faust nicht. Er will sie überwinden – und ist bereit, sich auf dämonische Kräfte einzulassen, wenn die irdische Erfahrung versagt. So wird Mammon hier zu einem Prüfstein: Der Fluch auf ihn ist Teil des Versuchs, die Welt der äußeren Reize zu verlassen und nach tieferer Wahrheit zu greifen – auch um den Preis der Selbstvernichtung.
1603 Fluch sey dem Balsamsaft der Trauben!
Faust richtet hier seinen Fluch gegen den »Balsamsaft der Trauben« – eine metaphorische Umschreibung für den Wein. Der Ausdruck evoziert ein Bild des edlen, heilenden Getränks (Balsam), das traditionell mit Freude, Trost, Festlichkeit und religiöser Symbolik (z. B. im christlichen Abendmahl) assoziiert ist. Fausts Fluch richtet sich also gegen alle sinnlichen Genüsse, gegen das Leben in seiner Fülle und Süße. Damit wendet er sich nicht nur gegen Genuss, sondern gegen Trost überhaupt, gegen jede narkotisierende Kraft, die ihn vom existenziellen Ernst seiner inneren Suche ablenkt.
Es ist zugleich ein Rückgriff auf sein tieferes Lebensproblem: Die Welt hat ihm keine Erkenntnis gegeben, keine wahre Erfüllung. Jetzt, da er Mephisto begegnet ist und ein Pakt mit der dämonischen Macht bevorsteht, verflucht er alles, was ihn bislang in seinem Menschsein gehalten hat – auch die Freuden des Weins. Der Wein steht in dieser Perspektive nicht mehr für Lebensfreude, sondern für Täuschung, für eine trügerische Betäubung, die das eigentliche Drama der Existenz nur überdeckt.
1604 Fluch jener höchsten Liebeshuld!
Noch radikaler als im vorigen Vers richtet Faust nun seinen Fluch gegen die »höchste Liebeshuld«. Das ist theologisch und philosophisch aufgeladen: Gemeint ist hier mit hoher Wahrscheinlichkeit die göttliche Gnade, die caritas Gottes, seine sich dem Menschen schenkende Liebe. Im religiösen Kontext wäre dies das höchste Gut, die Liebe Gottes selbst, die sich in der Schöpfung, in der Erlösung und in der Zuwendung zum Menschen zeigt.
Dass Faust dies verflucht, ist der vielleicht tiefste Ausdruck seiner Verzweiflung. Es bedeutet nicht nur, dass er Gott verwirft, sondern auch, dass er die Möglichkeit einer heilsamen, liebenden Weltordnung ablehnt. Für ihn ist diese »Liebeshuld« leer geworden, eine fromme Lüge, die ihn nicht erlöst, sondern gefangen hält in einer Welt, die er als sinnlos, unvollkommen und ungenügend erfährt. Das ist nicht bloßer Nihilismus, sondern die fundamentale Revolte des Menschen gegen eine göttliche Ordnung, die ihm unerreichbar scheint.
Zusammenfassend 1603-1604
Diese zwei Verse markieren einen Wendepunkt in Fausts innerem Zustand: Er übertritt die Grenze zwischen menschlichem Zweifel und metaphysischer Rebellion. In seinem Fluch gegen den Wein und die göttliche Liebe wendet er sich gegen das, was traditionell als Lebensquelle und transzendente Hoffnung galt.
Philosophisch gesehen steckt darin eine radikale Absage an die klassische metaphysische Ordnung (etwa in platonisch-christlicher Tradition), in der das Gute, das Wahre und das Göttliche als höchste Ziele gelten. Faust kehrt diesen Zusammenhang um: Die vermeintlich höchsten Güter (Genuss, göttliche Liebe) erscheinen ihm als Hindernisse auf seinem Weg zur Selbstverwirklichung.
Das erinnert an die prometheische Figur, die sich gegen die Götter stellt, an die tragischen Helden der Moderne, die – wie Kierkegaards Verzweifelter – »sich selbst sein wollen«, auch wenn dies gegen Gott steht. Fausts Flüche deuten auf eine existenzielle Entwurzelung, auf eine Absage an transzendente Heilsversprechen und auf einen neuen, titanischen Willen zur Selbstbestimmung – um jeden Preis.
Damit beginnt Faust nicht nur seinen Bund mit Mephisto, sondern auch einen metaphysischen Abstieg, der zur Prüfung, aber auch zur Möglichkeit seiner Erlösung führt – ein zentrales Motiv des ganzen Dramas.
1605 Fluch sey der Hoffnung! Fluch dem Glauben,
In diesem Ausbruch reiht Faust zwei zentrale Pfeiler menschlicher Existenz und religiöser Sinnorientierung aneinander – Hoffnung und Glauben – und verwirft sie beide durch den Fluch. Damit richtet sich Faust radikal gegen jene Kräfte, die traditionell als Antrieb für menschliches Handeln gelten und die in der christlich-theologischen Tradition als »theologische Tugenden« (vgl. 1 Kor 13:13: »Glaube, Hoffnung, Liebe«) eine zentrale Rolle spielen.
Die Hoffnung wird verworfen, da sie für Faust nichts als trügerisches Versprechen bedeutet: ein Aufschub des Handelns, ein Vertrösten auf Zukünftiges. Ebenso wird der Glaube verflucht – der Glaube an eine höhere Ordnung, an göttliche Gnade oder metaphysische Wahrheit. Dies offenbart eine existenziell zutiefst enttäuschte Haltung, die sowohl religiöse als auch idealistische Fundamente erschüttert. Fausts Fluch ist daher nicht nur emotional, sondern auch metaphysisch zu verstehen – als Lossagung vom transzendenten Sinn.
1606 Und Fluch vor allen der Geduld!
Mit besonderem Nachdruck wird im dritten Ausruf die Geduld verflucht – »vor allen«, also noch vor Glaube und Hoffnung. Geduld bedeutet im christlichen wie im stoischen Denken das Ausharren, das Erdulden des Schicksals, das Vertrauen auf eine spätere Erlösung. Für Faust ist dies jedoch Ausdruck von Passivität und Ohnmacht. Sein Fluch ist die Negation jeglicher Resignation. Er will nicht mehr warten, glauben oder hoffen – er will erfahren, erleben, erkennen – sofort und um jeden Preis.
Damit ist die Geduld für Faust das größte Hindernis auf dem Weg zur radikalen Selbstverwirklichung, zur Erfahrung des Absoluten im Diesseits. Sie steht für das »Nicht-Handeln«, für das duldsame Erdulden von Grenzen, das Faust nicht mehr akzeptieren will.
Zusammenfassend 1605-1606
Diese Verse markieren einen tiefen Wendepunkt in Fausts innerer Haltung: eine endgültige Abkehr von traditioneller Frömmigkeit, von der Tugendethik der christlichen Geduld und vom Ideal des Vertrauens in transzendente Kräfte. Was hier fluchartig verworfen wird, sind die zentralen Pfeiler des mittelalterlich-christlichen Weltbildes:
Hoffnung: als eschatologisches Prinzip, das das Leid der Gegenwart durch den Trost einer besseren Zukunft relativiert.
Glaube: als Vertrauen in eine göttliche Ordnung und Wahrheit jenseits empirischer Erkenntnis.
Geduld: als sittliche Tugend, das Unverfügbare zu ertragen.
Stattdessen bekräftigt Faust seine Entscheidung zur radikalen Diesseitigkeit. Er entzieht sich dem Sinnhorizont des christlichen Kosmos und wendet sich einer Erfahrungswelt zu, die er nur noch im Hier und Jetzt sucht. Dies steht im Einklang mit der modernen Subjektivität, wie sie sich im Sturm und Drang und im Idealismus andeutet: Der Mensch als schöpferisches, selbstmächtiges Wesen, das sich selbst zum Maßstab seines Handelns macht.
Zugleich ist der Fluch ein Akt der Selbstüberforderung: Faust verneint nicht nur das Transzendente, sondern auch jede Form von innerer Disziplinierung. Er will das Absolute, aber ohne metaphysisches Vertrauen – ein existenzielles Paradox, das sich im weiteren Verlauf der Tragödie zuspitzen wird.
Fazit
Diese beiden Verse komprimieren somit das geistige Drama des modernen Menschen: die Ablösung von metaphysischen Sicherheiten zugunsten einer subjektiven Sinnsuche, die radikal und gefährlich ist – und die Faust schließlich zum Pakt mit Mephistopheles führt.