Faust.
Der Tragödie erster Theil
Johann Wolfgang von Goethe
Studirzimmer. (3)
Geister auf dem Gange.
Geister auf dem Gange.
Diese Zeile ist die Regieanweisung bzw. die Sprecherbezeichnung. Die »Geister« erscheinen auf dem Gang außerhalb von Fausts Studierzimmer. Sie gehören zur dämonischen Sphäre Mephistos, treten aber nicht unmittelbar sichtbar in die Handlung ein. Ihre Stimme signalisiert eine Präsenz des Übernatürlichen, das Fausts Raum umgibt, jedoch (noch) nicht durchdringt.
1259 Drinnen gefangen ist einer!
Dieser Ausruf spielt auf Faust an, der sich nach dem ersten, eindrucksvollen Auftritt Mephistos in der Gestalt eines Pudels und dann als Mönch (Verse 1176 ff.) nun in einen tiefen Bann begeben hat. Der Ausdruck »gefangen« hat eine doppelte Bedeutung:
1. Wörtlich:
Faust befindet sich im Raum, aus dem es augenblicklich kein Entrinnen gibt – möglicherweise physisch, aber vor allem psychisch und metaphysisch.
2. Symbolisch:
Er ist dem Einfluss Mephistos verfallen, hat sich durch sein Streben und seine Neugier geöffnet – er ist geistig gefangen.
Hier wird die Tragödie bereits angedeutet: Nicht durch äußere Ketten, sondern durch sein eigenes Begehren ist Faust »gefangen«. Der Vers evoziert zugleich das Motiv der freiwilligen Knechtschaft durch Erkenntnisgier.
1260 Bleibet haußen, folg’ ihm keiner!
Dies ist eine Absperrung – gesprochen von den Geistern selbst, die anderen (Geistern? Kräften?) befehlen, draußen zu bleiben. Zwei Lesarten sind denkbar:
1. Ausschluss des Äußeren:
Fausts inneres Ringen ist ein intimer, einsamer Kampf – andere dämonische Kräfte dürfen nicht eingreifen. Mephistos allein wird zum Verführer.
2. Verweis auf dämonische Hierarchie:
Mephisto hat das »Mandat«, Faust zu gewinnen. Andere Mächte dürfen nicht in sein Werk eingreifen. Dies entspricht der späteren Wette mit dem Herrn (Prolog im Himmel) – es ist ein geregeltes Spiel metaphysischer Mächte.
Der Satz wirkt wie eine magische Bannformel: Eine unsichtbare Grenze wird gezogen, was an mittelalterliche Vorstellungen vom »Schutzkreis« in der Magie erinnert. Faust ist so gleichzeitig isoliert und belagert.
Zusammenfassend 1259-1260
Diese beiden Verse, gesprochen von Geistern außerhalb von Fausts unmittelbarem Handlungsraum, markieren eine entscheidende Wendung im Drama – eine Schwelle zwischen dem Inneren (Fausts Seele) und dem Äußeren (kosmische Mächte). Ihre Implikationen sind vielschichtig:
1. Freiheit vs. Determination:
Faust wird »gefangen« genannt – aber von wem? Von sich selbst, von seiner Wissbegierde, oder durch eine göttlich zugelassene Versuchung? Die Frage nach menschlicher Willensfreiheit steht im Raum. Diese Ambivalenz prägt das ganze Drama.
2. Dualität von Innen und Außen:
Die »Geister auf dem Gange« markieren die Trennung zwischen äußerer Welt und innerem Erleben. Das Drama verlagert sich zunehmend in die seelische Tiefe Fausts – das Äußere darf nur zusehen. Damit wird das Studierzimmer zur Bühne des geistigen Konflikts.
3. Isolation des Menschen im Streben:
Die Warnung »folg’ ihm keiner« bedeutet auch, dass Faust auf sich gestellt ist. Goethes Menschenbild ist von der Einsamkeit des radikal Suchenden geprägt – der sich selbst überlässt, ohne schützende Tradition oder Gemeinschaft.
4. Metaphysischer Vertrag:
Der Ausdruck dieser Verse erinnert an rituelle Sprache – als würden hier die Bedingungen eines übergeordneten Pakts abgesteckt. Die Szene ist Auftakt für Fausts Bindung an Mephisto, die zugleich freiwillig und überdeterminiert erscheint.
5. Goethes Anthropologie:
In diesen wenigen Zeilen verdichtet sich Goethes Vision des Menschen als Grenzgänger – zwischen Erkenntnisdrang und moralischem Scheitern, zwischen geistiger Freiheit und metaphysischer Verstrickung.
1261 Wie im Eisen der Fuchs,
Dieser Vers spielt auf eine Redensart oder ein Sprichwort an: Ein Fuchs, der in eine Eisenfalle getappt ist, windet sich voller Angst und Schmerz. Das Bild evoziert einen Zustand äußerster Bedrohung, Panik und Bewegungslosigkeit zugleich.
Der Fuchs steht symbolisch für List, Gewandtheit, aber auch für scheue Vorsicht – Eigenschaften, die nun durch das »Eisen« gebrochen sind.
In Bezug auf die Szene verweist dies auf Fausts seelische Lage oder aber auf die Verwirrung Mephistopheles' angesichts der geistigen Atmosphäre.
Der Vergleich evoziert einen Kontrast zwischen früherer Beweglichkeit und gegenwärtiger Gefangenschaft: Der listige Geist ist nun gefesselt, vielleicht vom Bann des höheren Geistes (nach dem Osterspaziergang) oder vom Einfluss göttlicher Ordnung.
1262 Zagt ein alter Höllenluchs.
Der »Höllenluchs« ist eine Fantasiegestalt – halb Tier, halb Dämon. Luchse sind für ihre Schärfe des Blicks und ihr schleichendes Vorgehen bekannt. Die Verbindung mit der »Hölle« verstärkt den Eindruck einer dämonischen Präsenz.
Dass dieses Wesen »zagt«, also ängstlich, zaudernd oder unsicher ist, steht im Widerspruch zur typischen dämonischen Furchtlosigkeit.
Der »alte« Höllenluchs könnte Mephistopheles selbst sein – ein erfahrener, uralter Geist, der dennoch in diesem Moment Angst empfindet, also durch etwas Höheres eingeschüchtert ist.
Es wird damit angedeutet, dass selbst infernale Kräfte sich vor dem Einfluss höherer, vielleicht göttlicher oder seelisch-geistiger Kräfte fürchten müssen.
Zusammenfassend 1261-1262
Diese beiden Verse sind kurz, aber tief aufgeladen mit symbolischer und metaphysischer Bedeutung:
1. Hierarchien geistiger Kräfte:
Die Szene steht im Zeichen der spirituellen Spannungen: Der »alte Höllenluchs« (dämonisch, aber erfahren) zittert – offenbar, weil höhere Mächte am Werk sind. Goethe inszeniert so eine metaphysische Ordnung, in der selbst listige oder uralte böse Geister an ihre Grenzen stoßen.
2. Grenzen dämonischer Macht:
Die Furcht des »Höllenluchses« zeigt, dass selbst das Dämonische durch bestimmte Kräfte gehemmt oder eingeschüchtert werden kann. In Goethes Weltbild scheint es eine transzendente Instanz zu geben, vor der auch das Böse Respekt hat – sei es der menschliche Geist (Fausts Streben), göttliche Ordnung oder das Wirken der Engel.
3. Fausts geistige Aura:
Die Furcht der Geister könnte sich auf Fausts inneren Zustand beziehen – seine Suche, sein Streben, seine Verbindung zu höheren geistigen Sphären, die für niedere Dämonen unangenehm oder gefährlich sind. Damit erhält Faust eine besondere metaphysische Signatur.
4. Symbolik von Tierbildern:
Der »Fuchs« und der »Luchs« sind listige, agile Tiere – ihre Kombination mit Metaphern von Angst, Gefangenheit und Dämonie verweist auf das Gefangensein des Geistes in einer Welt, deren spirituelle Ordnung nicht nur dualistisch (Gut gegen Böse), sondern vielschichtig und oft widersprüchlich ist.
1263 Aber gebt Acht!
Eine direkte Aufforderung zur Aufmerksamkeit, in imperativischer Form. Mephisto richtet sich an eine unsichtbare Geistermacht oder an das Publikum – möglicherweise beides.
Der Imperativ »gebt Acht!« wirkt beschwörend und dramatisiert die Szene: Etwas Bedeutendes geschieht, ein Wendepunkt ist nahe.
Der Vers signalisiert den Übergang in eine andere Ebene – weg vom Dialog, hin zu einer quasi-rituellen Handlung. Die Grenze zwischen realem Raum und übersinnlicher Sphäre verschwimmt.
1264 Schwebet hin, schwebet wieder,
Die Alliteration »schwebet… schwebet« und die rhythmische Struktur evozieren eine tänzerische, geisterhafte Bewegung. Die Wiederholung deutet eine zyklische Bewegung an, wie bei einem Pendel oder bei Geistern, die zwischen Welten wandeln.
Es wird ein Bild von Unstetigkeit und Zwischenzustand aufgebaut – ein Hinweis auf Fausts innere Zerrissenheit. Das Schweben kann auch auf die Idee des »freien Geistes« anspielen, der sich von irdischer Bindung lösen will – eine Vorwegnahme von Fausts existenzieller Rebellion.
1265 Auf und nieder,
Diese Richtungsangaben konkretisieren die Bewegung: eine vertikale Achse wird beschrieben. »Auf und nieder« hat eine symbolische Doppeldeutigkeit – es meint nicht nur räumliche Bewegung, sondern auch geistig-moralische Dynamik: Aufstieg (zur Erkenntnis) und Fall (in die Verstrickung oder Sünde).
Diese Bewegung erinnert an die dialektische Bewegung der Seele zwischen Himmel und Hölle. Auch Mephistos Rolle als Vermittler zwischen den Sphären wird hier sichtbar.
1266 Und er hat sich losgemacht.
Der Höhepunkt der kurzen Beschwörung. »Er« (vermutlich Faust) hat sich »losgemacht« – das kann heißen: befreit, gelöst, aber auch: begeben in Gefahr.
Der Begriff »losgemacht« hat doppelte Bedeutung: physisch als Lösung eines Bandes, aber auch existenziell als Loslösung von Bindungen – etwa moralischer oder metaphysischer Art.
Faust hat sich befreit – aber wovon? Von Vernunft, von Gottesbindung, vom menschlichen Maß? Oder ist es Mephisto selbst, der sich »losgemacht« hat? Die Ambiguität ist bewusst gesetzt. In jedem Fall ist eine Grenzüberschreitung vollzogen – die Konsequenzen sind noch offen, aber das Dämonische ist entfesselt.
Zusammenfassend 1263-1266
1. Zwischen Ordnung und Chaos:
Die Verse beschreiben eine Bewegung zwischen Polen – »auf und nieder« –, was auf Goethes Interesse an polarer Struktur und dynamischem Gleichgewicht hinweist. Faust (oder der Mensch allgemein) steht zwischen diesen Polen, schwankt, »schwebt« – ein Wesen im Übergang.
2. Lösung von Bindungen – ambivalente Freiheit:
Der Begriff »losgemacht« spielt auf die romantische Idee der Selbstbefreiung an. Doch bei Goethe ist diese Freiheit nie rein positiv: Sie bedeutet immer auch Entwurzelung, den Verlust von Halt, vielleicht sogar Verdammnis.
3. Epistemologischer Zwischenzustand:
Der »schwebende« Zustand verweist auf eine erkenntnistheoretische Schwebe: Faust hat sich von traditionellem Wissen abgewandt, aber das Neue ist noch nicht greifbar. Er befindet sich im Schwebezustand zwischen Wissen und Nicht-Wissen – ein existentialistisches Moment avant la lettre.
4. Magie und Verführung:
Mephistos Sprache ist suggestiv, rhythmisch, fast musikalisch – sie wirkt wie ein Zauber. Sprache wird zum Mittel der Manipulation. Die magisch-poetische Struktur der Verse selbst zieht nicht nur Faust, sondern auch das Publikum in ihren Bann – eine ästhetische Spiegelung der Verführung durch das Dämonische.
1267 Könnt ihr ihm nützen,
Dieser Vers ist als Bedingungssatz formuliert und spricht den Nutzen für Faust an.
Mephistopheles setzt voraus, dass der Mensch (Faust) nur dann in den Genuss dämonischer Hilfe kommt, wenn sich ein Vorteil für die Dämonen ergibt.
Die Formulierung trägt eine ironisch-pragmatische Haltung: Nutzen ist das Kriterium für Engagement.
Gleichzeitig steht »nützen« im Kontrast zum christlichen Ideal der Gnade: Hilfe erfolgt hier nicht aus Barmherzigkeit, sondern unter einem Zweck-Mittel-Kalkül.
1268 Laßt ihn nicht sitzen!
Aufforderung an die Geister: Sie sollen Faust nicht im Stich lassen.
»Sitzen lassen« bedeutet: jemanden ohne Unterstützung lassen, sich abwenden.
Die Dringlichkeit liegt in Mephistopheles’ Plan, Faust an sich zu binden.
Zwischen den Zeilen klingt eine Parodie christlicher Fürbitte an: Doch hier betet nicht ein Heiliger für einen Sünder, sondern ein Teufel für einen Gelehrten.
1269 Denn er that uns allen
Der Vers beginnt mit einer Begründung: Die vorherige Bitte wird mit Fausts angeblichen Verdiensten untermauert.
»Er that uns allen« suggeriert eine vergangene, positive Handlung Fausts gegenüber den Geistern.
Doch was genau hat Faust für »uns« getan? Die Dämonen sprechen hier in einer ironischen Umkehrung: Vielleicht ist es seine rastlose Strebsamkeit, seine Hybris oder seine Neugier, die den Geistern »gefällt«.
Der Vers spielt mit der Umkehrung moralischer Werte: Was der Hölle dient, erscheint hier als »Verdienst«.
1270 Schon viel zu Gefallen.
Abschluss der Argumentation: Faust habe den Geistern »zu Gefallen« gehandelt, also ihnen gefallen.
Das klingt nach Lohn für willfährige Dienste – nur dass Faust vermutlich nicht wusste, wem er »gefiel«.
Die Redewendung »zu Gefallen« ist doppeldeutig: Es kann schlicht heißen, dass jemandem etwas gefiel, aber auch, dass jemand bewusst jemandem einen Gefallen tat.
Hier liegt eine ironische Brechung: Faust, der nach Wahrheit strebt, ist – ohne es zu wissen – längst ein Spielball dämonischer Sympathien.
Zusammenfassend 1267-1270
1. Ironie der Hilfe:
Die Verse setzen das Motiv der »Hilfe« in ein dämonisches Licht. Es wird ein Pseudo-Altruismus präsentiert, bei dem Nutzen und Gefälligkeit den Maßstab für Hilfe darstellen – ein zentrales Thema der Faust-Dichtung: Wer hilft wem, und warum?
2. Moralische Umkehrung:
Was für die Hölle »gut« ist, steht in diametralem Gegensatz zur christlichen Tugendethik. Faust hat »uns zu Gefallen gehandelt«, also den Geistern – was aus göttlicher Sicht eher Schuld als Verdienst ist. Hierin liegt eine tiefgreifende Verkehrung aller Wertmaßstäbe.
3. Mensch als Objekt dämonischer Strategie:
Faust wird nicht als autonomer Wille, sondern als Objekt dämonischer Taktik dargestellt. Mephistopheles behandelt ihn wie eine Figur auf dem Schachbrett, und die Geister sollen ihn nicht »sitzen lassen«, solange er ihnen nützt. Dies verweist auf ein Menschenbild, in dem Freiheit illusionär ist.
4. Dämonische Ökonomie:
Das Nutzen-Denken entspricht einer Ökonomie der Hölle: Alles wird am Gewinn gemessen. Es geht nicht um Erlösung oder Wahrheit, sondern um Wirkung, Einfluss, Manipulation. Dies steht im Kontrast zur göttlichen Ökonomie der Gnade, wie sie etwa in christlicher Theologie gedacht ist.
5. Parodie religiöser Sprache:
Die Struktur des Sprechakts – eine Art Fürbitte für Faust – nimmt die Form religiöser Liturgie auf, jedoch in teuflischer Umkehrung. Die Verse imitieren die Sprache der Engel oder Heiligen, verkehren sie jedoch in eine Form teuflischer Allianzbildung.
1271 Erst zu begegnen dem Thiere,
Faust bereitet sich auf die Begegnung mit dem »Pudel« vor, der sich im Verlauf als Mephistopheles entpuppen wird. Der Ausdruck »dem Thiere« ist bewusst unbestimmt und lässt mythologische wie dämonologische Assoziationen zu. »Begegnen« bedeutet hier nicht bloß ein zufälliges Treffen, sondern eine aktive Konfrontation. Es liegt bereits ein Ahnungston vor: Das Tier ist nicht bloß ein Tier, sondern eine maskierte Macht des Bösen. Die Furcht und zugleich die Entschlossenheit Fausts verdichten sich in dieser Zeile.
1272 Brauch’ ich den Spruch der Viere:
Faust will das Tier mit einem magischen »Spruch der Viere« bannen. Damit ist ein Schutzkreis gemeint, ein Ritual der volkstümlichen Magie oder der sogenannten ceremonial magic, das die vier Himmelsrichtungen oder Elemente einbezieht. Der »Spruch der Viere« hat rituellen, symbolischen und metaphysischen Charakter: Er soll das Weltganze durch vierfache Ordnung strukturieren und so ein dämonisches Wesen binden. Faust zeigt hier sein Wissen um die alten magischen Praktiken, aber auch seinen Rückgriff auf eine vorwissenschaftliche Weltdeutung, in der Sprache (Spruch) als wirkmächtig gilt.
Zusammenfassend 1271-1272
Diese beiden Verse stehen an einer Schwelle: Faust steht kurz davor, dem Teufel in Gestalt Mephistopheles zu begegnen. Die Implikationen sind vielschichtig:
1. Sprache als Wirklichkeit formende Macht:
Der »Spruch« ist kein bloßes Wort, sondern performativ – er wirkt. Faust verwendet Sprache nicht zum Beschreiben, sondern zum Eingreifen in die Realität. Dies verweist auf eine magisch-idealistische Weltauffassung, wie sie auch in der frühneuzeitlichen Alchemie oder Kabbala wirksam ist.
2. Wissen und Macht:
Faust hat alles »studiert«, doch nun greift er zu esoterischem Wissen. Dies zeigt eine Grenze des rationalen, universitären Wissens (wie es die »vier Fakultäten« vertreten) und betont, dass Faust sich nun einer anderen, »tätigen« Form der Erkenntnis zuwendet – der magisch-mystischen.
3. Vierheit als kosmisches Ordnungsprinzip:
Der »Spruch der Viere« ruft ein symbolisches Weltbild auf: Vier Elemente, vier Himmelsrichtungen, vier Evangelisten, vier Temperamente – das Ganze ruht in der Vierheit, in einer geordneten Struktur. Faust versucht, diese kosmische Ordnung gegen das Chaos (die dämonische Macht) zu mobilisieren.
4. Das Tier als das Andere:
Das »Tier« ist das Unverfügbare, das noch nicht Erkennbare. Es steht für das Dämonische, das Unbewusste, auch für das Triebhafte. Fausts Wille, es mit magischer Ordnung zu binden, ist Ausdruck seines Versuchs, auch das Nicht-Rationale zu beherrschen.
Fazit
In diesen scheinbar unscheinbaren zwei Versen kulminiert eine tiefe Spannung: Fausts Glaube an Sprache, Ordnung und Handlung trifft auf das Bedrohliche, Formlose, Tierische – und er antwortet mit einem uralten Ritual. Goethe inszeniert hier die Grenze zwischen Mensch und Dämon, zwischen Wissen und Glauben, zwischen Natur und Magie – kurz: den Schwellenmoment eines existenziellen Übergangs.
1273 Salamander soll glühen,
Der Salamander steht in der okkulten Elementarlehre für das Feuer. Ihm wird die Eigenschaft der Glut, Hitze, Leidenschaft und Energie zugeschrieben. Der Imperativ »soll glühen« bringt eine Art magischen Befehl zum Ausdruck – Faust fordert das Feuerwesen auf, sich zu entzünden, also aktiv zu werden. In symbolischer Deutung wird hier das Element des Willens und der Transformation angesprochen – das Feuer als das Medium der Verwandlung.
1274 Undene sich winden,
Die Undine ist ein Wassergeist, weiblich konnotiert, verbunden mit Gefühl, Fluss und Anpassungsfähigkeit. Das Verb »sich winden« evoziert Schlangenbewegungen, anmutige Wendungen – und damit das Fließende, aber auch das Geheimnisvolle und Bedrohliche des Wassers. Hier spricht Faust die Formkraft des Wassers an, das Leben ermöglicht, aber auch verschlingen kann.
1275 Silphe verschwinden,
Die Sylphe (Silphe) ist der Luftgeist – leicht, flüchtig, ätherisch. »Verschwinden« verweist auf ihre Flüchtigkeit, ihre Transparenz, ihre Unfassbarkeit. In der okkulten Tradition steht Luft für Geist, Intellekt, Inspiration – also für das immaterielle, fliegende Denken. Indem die Sylphe »verschwindet«, drückt sich zugleich das Scheitern des bloßen Gedankens aus, sich zu manifestieren. Eine gewisse Ironie mitschwingend, da Faust selbst ein geistiger Mensch ist, dem der reine Intellekt jedoch nicht mehr genügt.
1276 Kobold sich mühen.
Der Kobold ist der Erdgeist – fleißig, dienend, stofflich. »Sich mühen« verweist auf seine unterirdische, arbeitsame Natur: Er ist ein Handwerker, ein Umformer des Materiellen. Die Erde steht für Körperlichkeit, Festigkeit, Realität. Faust ruft ihn auf, sich anzustrengen, d.h. seine Kräfte einzusetzen, damit das Vorhaben gelingt.
Zusammenfassend 1273-1276
Diese vier Verse sind nicht bloß magische Formeln – sie repräsentieren ein Weltbild, in dem der Mensch durch Sprache, Wille und Ritual auf die kosmischen Kräfte zugreift. Die Szene steht im Kontext von Fausts tiefer Unzufriedenheit mit dem bloßen Wissensdrang und der Sehnsucht nach unmittelbarer, transzendenter Erfahrung.
1. Anthropozentrische Magie:
Faust spricht in performativer Sprache zu den Elementargeistern, was bedeutet, dass er sich als Zentrum der Wirkung sieht – eine Haltung, die den Renaissance-Magier widerspiegelt, etwa in der Tradition von Ficino oder Agrippa.
2. Vier-Elemente-Lehre als Welterklärung:
Die Verse bekräftigen eine Vorstellung der Wirklichkeit, in der die sichtbare Welt auf geistige Kräfte zurückgeführt wird. Faust versucht, diese Kräfte nicht nur zu begreifen, sondern zu beherrschen.
3. Scheitern des Intellekts:
Die Sylphe verschwindet – Luft, Denken, Geist entzieht sich. Das verweist auf Fausts Zweifel an der rein geistigen Erkenntnis und seine Suche nach erfahrbarer Wirklichkeit (Leben, Leidenschaft, Sinnlichkeit).
4. Magie als Sprache des Begehrens:
Diese Beschwörung offenbart auch Fausts innere Unruhe und Unersättlichkeit – er ruft die Geister auf, ihm neue Erkenntnis oder Erfahrung zu ermöglichen, weil das bloße Studium ihn nicht mehr erfüllt. Die Magie wird hier zur Projektion innerer Leere.
Fazit
Insgesamt verkörpern die Verse die Spannung zwischen Natur und Geist, Erkenntnis und Macht, Kontrolle und Unterwerfung, die den ganzen Faust durchzieht. Faust steht zwischen dem Erbe der scholastischen Wissenschaft und dem Begehren nach unmittelbarer Weltaneignung durch magisch-rituellen Akt – und verstrickt sich damit zunehmend in eine metaphysische Hybris.
1277 Wer sie nicht kennte
Faust spricht hier von den »Elementen«. Wer diese nicht kennt, der hat kein wahres Wissen. Das »kennen« meint dabei nicht nur ein oberflächliches Verstehen, sondern ein tiefes, fast initiatorisches Begreifen der Grundkräfte der Welt.
1278 Die Elemente,
Mit den »Elementen« sind die klassischen vier (Feuer, Wasser, Luft, Erde) gemeint, die in der antiken und mittelalterlichen Naturphilosophie als die Grundbausteine der materiellen Welt galten. In okkulten Traditionen gelten sie auch als Träger spezifischer Kräfte.
1279 Ihre Kraft
Jedes Element besitzt eine spezifische Wirkkraft – eine dynamis, wie in der antiken Philosophie. Diese Kraft ist nicht nur physikalisch, sondern metaphysisch gedacht: Sie ist das, was die Welt bewegt und durchdringt.
1280 Und Eigenschaft,
Neben der Kraft geht es auch um die Qualitäten der Elemente – etwa heiß, kalt, trocken, feucht. Dies verweist auf ein aristotelisches Verständnis der Natur und auf die Temperamentenlehre, aber auch auf alchemistische Vorstellungen, bei denen die Eigenschaften der Stoffe über ihr inneres Wesen Aufschluss geben.
1281 Wäre kein Meister
Nur wer diese Kräfte und Eigenschaften kennt, kann ein wahrer »Meister« sein. »Meister« hat hier doppelten Sinn: Zum einen der Gelehrte, der die Natur versteht, zum anderen der magische Adept, der über Kräfte gebietet. Faust nimmt für sich in Anspruch, auf dem Weg zu solcher Meisterschaft zu sein.
1282 Ueber die Geister.
Die »Geister« stehen hier für metaphysische Wesenheiten – Dämonen, Naturgeister, oder auch geistige Prinzipien, wie sie in esoterischen Lehren vorkommen. Wer die Elemente nicht kennt, kann diese Wesen nicht beherrschen – eine Anspielung auf magische Praktiken und die Beherrschung verborgener Kräfte.
Zusammenfassend 1277-1282
In diesen Versen verdichtet sich Fausts Weltanschauung in einem zentralen Motiv der frühneuzeitlichen Naturphilosophie und okkulten Wissenschaften: Der Gedanke, dass wahres Wissen nicht nur empirisch oder rational, sondern auch initiatisch und transzendierend ist. Die »Elemente« stehen als Chiffre für ein Weltverständnis, das Natur und Geist nicht trennt, sondern in einem kosmischen Zusammenhang sieht.
Die Aussage ist mehr als naturkundlich – sie verweist auf ein hermetisches Weltbild, in dem die Kenntnis der Naturkräfte Voraussetzung ist, um Einfluss auf metaphysische Ebenen zu nehmen. Wer »Meister über die Geister« sein will, muss nicht nur beobachten, sondern verstehen, durchdringen, sich einweihen lassen.
Damit liegt dem Ganzen eine gnostische Erkenntnisidee zugrunde: Wissen als Macht, aber auch als Weg zur Selbstüberwindung. Fausts Streben zielt auf diese höhere Stufe der Erkenntnis – eine, die nicht allein durch Universität und Bücher, sondern durch Erfahrung, Mut und Grenzüberschreitung erreichbar ist.
Zugleich wird eine Kritik an der bloß akademischen Wissenschaft laut, wie sie Faust am Anfang des Werkes beklagt. Wahre Meisterschaft verlangt mehr: ein intuitives, umfassendes, auch gefährliches Eindringen in das Wesen der Welt.
1283 Verschwind’ in Flammen
Dieser Befehl ist Teil des magisch-theatralischen Zauberkreises, den Faust beschwört, um einen Erdgeist oder ein anderes Wesen heraufzubeschwören – hier jedoch im Kontext von Mephistos theatralem Auftritt. Faust ruft in einer Mischung aus Zauberspruch und dramatischer Anrufung elementare Geister an.
Der Ausdruck »Verschwind’ in Flammen« ist eine imperativische Austreibung oder ein Bannspruch. Er richtet sich an den Feuergeist, den sogenannten Salamander. Die Flamme steht dabei nicht nur für das Element Feuer, sondern auch symbolisch für Reinigung, Transformation oder Vernichtung. Durch das Verschwinden »in Flammen« wird der Feuergeist seiner elementaren Ursprungsform zugeführt und damit aus dem magischen Raum verbannt. Faust setzt sich hier also als Magus in Szene, der über die Elemente gebietet – zumindest in seiner Vorstellung.
1284 Salamander!
Die Anrufung des Namens steht als klassische magische Formel: Der Salamander ist in der frühneuzeitlichen Elementarlehre (z. B. bei Paracelsus) das Wesen des Feuers. Er gehört zu den vier Elementargeistern:
Salamander (Feuer), Undinen (Wasser), Sylphen (Luft), Gnome (Erde).
Durch die direkte Namensnennung wird der Geist individualisiert und gerufen bzw. gebannt. Faust nutzt hier die Terminologie der magisch-alchemistischen Tradition, um den elementaren Zusammenhang herzustellen – ein typisches Motiv für den Gelehrten, der in der Renaissance- und Barockzeit durch Geheimwissen Macht über die Natur gewinnen wollte.
Zusammenfassend 1283-1284
Diese zwei Verse sind mehr als bloß theatralisches Zauberwerk – sie berühren zentrale Themen der faustischen Weltsicht:
1. Der Mensch als Herr über die Natur (hybrisartige Anmaßung)
Faust versucht, durch Magie Zugriff auf die Urgewalten der Natur zu erhalten. Dies verweist auf die philosophisch-anthropologische Frage nach der Grenze menschlicher Erkenntnis: Kann der Mensch durch seine Gelehrsamkeit und Magie wirklich Herr über die Natur werden? Oder handelt es sich um eine gefährliche Selbsttäuschung?
2. Fausts Glaube an die Wirksamkeit magischer Sprache
Die Formel »Verschwind’ in Flammen, Salamander!« offenbart Fausts Vertrauen in die Macht der Sprache als schöpferisches oder zerstörerisches Instrument – ein Rückgriff auf die Vorstellung, dass Worte Wirklichkeit schaffen können (performative Sprache). Das entspricht einem neuplatonisch-magischen Weltbild, in dem das Wort Schöpfungskraft besitzt (vgl. logos).
3. Rückgriff auf okkultes, voraufklärerisches Denken
Faust, der moderne, aber unzufriedene Gelehrte, wendet sich hier rückwärts: Statt die rationale Erkenntnis der Aufklärung zu nutzen, greift er auf vormoderne, esoterische Weltbilder zurück. Die Anrufung des Salamanders steht für diese Wendung zum Geheimwissen – ein Akt der Welt- und Selbsterweiterung, der jedoch auch mit Täuschung und Verblendung verbunden ist.
4. Der Mensch zwischen göttlichem Schöpfertum und dämonischer Anmaßung
Faust nimmt hier eine Position ein, die an Prometheus erinnert: Er will nicht nur verstehen, sondern über die Elemente herrschen. Die Anrufung des Salamanders ist daher nicht bloß eine dramaturgische Geste, sondern Ausdruck des faustischen Drangs, die Welt nicht nur zu erkennen, sondern sie zu beherrschen – eine Haltung, die in Goethes Werk sowohl fasziniert als auch kritisch beleuchtet wird.
1285 Rauschend fließe zusammen
Faust ruft hier in einer beschwörenden Geste eine gewaltige Bewegung hervor – das rauschende Fließen. Der Imperativ »fließe« adressiert offenbar Naturgewalten oder metaphysische Kräfte. Das Adjektiv »rauschend« betont die sinnliche, überwältigende, möglicherweise ekstatische Qualität dieses Flusses. Es erinnert an Flüsse, Wasserfälle, aber auch an den Rausch als metaphysische Erhebung oder Ekstase – ein wichtiges Motiv der Romantik und Mystik.
In diesem Kontext wirkt die Formulierung wie ein magischer Befehl: Faust, der sich gerade der Magie und Beschwörung zuwendet, ruft die Naturmächte herbei. Das »Zusammenfließen« ist nicht nur ein physikalischer Vorgang, sondern evoziert das Zusammenströmen von Kräften, von Wissen, von geistiger Energie – gleichsam ein alchemistisches oder mystisches Einswerden.
1286 Undene!
Mit diesem Ausruf richtet sich Faust direkt an eine Wassergeister-Figur, nämlich die Undine (in der romantischen Tradition oft als weiblicher Wassergeist dargestellt). Die Form »Undene« ist eine ältere oder dichterische Variante. Faust ruft diese Wesenheit an, um sie in seinen magischen Akt einzubeziehen – ein Beleg dafür, wie sehr er sich nun vom rationalen Denken des Gelehrten hin zu einem okkulten, mystischen Erkenntnisweg bewegt.
Die Anrufung der Undine verweist auf den Versuch, Zugang zu verborgenen, nicht-rationalen Kräften der Natur zu erlangen. In mythologischer und alchemistischer Tradition symbolisieren Undinen das Element Wasser, das oft mit Emotion, Intuition, dem Unbewussten und mit der reinigenden Kraft des Übergangs verbunden ist.
Zusammenfassend 1285-1286
Die beiden Verse spiegeln zentrale philosophische Tendenzen des Faust-Dramas wider:
1. Abkehr vom rationalen Erkenntnisideal:
Faust sucht nicht länger reine, akademisch-wissenschaftliche Erkenntnis, sondern strebt nach einer Erfahrung des Ganzen, des Lebendigen, der Einheit mit den Kräften der Natur. Dies ist eine radikale Abkehr vom rationalistischen Weltbild, wie es in der Aufklärung vorherrschte.
2. Mystische Weltaneignung:
Der Ruf nach der »Undene« ist Ausdruck einer magisch-mystischen Weltwahrnehmung, in der die Natur beseelt und ansprechbar ist. Faust nimmt die Natur nicht mehr als Objekt, sondern als duale Instanz wahr – dialogfähig, geheimnisvoll, sinnlich.
3. Romantische Naturphilosophie:
Goethe greift hier auf ein Motiv zurück, das stark in der Frühromantik und Naturphilosophie (z.B. bei Schelling) verankert ist: Die Natur als lebendige Offenbarung des Göttlichen, die nicht bloß erklärt, sondern durchlebt und beschworen werden muss.
4. Das Ringen mit dem Unendlichen:
Der rauschende Strom und das Fließen deuten auf ein Streben nach dem Unendlichen, dem Absoluten, wie es auch in Goethes späterem Faust II intensiv thematisiert wird. Faust versucht, über die sinnliche Welt hinauszudringen, indem er sie magisch verlebendigt.
5. Symbolik des Wassers:
Wasser steht traditionell für Verwandlung, Reinigung, Tiefe und Tod. In der alchemistischen wie mystischen Tradition ist Wasser das Medium, durch das Initiation und Wandlung erfolgen. Faust begibt sich hier metaphorisch in einen solchen Initiationsprozess.
Fazit
Die zwei Verse markieren eine Schwelle: Faust überschreitet die Grenzen des reinen Denkens und wendet sich der ekstatischen, rauschhaften, symbolischen Welt der Magie zu. Mit der Beschwörung der Undine versucht er, sich mit den tiefen, unbewussten Kräften der Natur zu verbinden – ein Schritt hin zu jener »Tat«, die ihn erlösen oder verderben wird.
1287 Leucht’ in Meteoren-Schöne
Dieser Vers ist eine Beschwörung, fast ein Zauberspruch. Faust ruft ein Elementargeistwesen an – eine Sylphe, also einen Luftgeist in der alchemistischen und okkulten Tradition. Die Wendung »Leucht’ in Meteoren-Schöne« enthält mehrere Bedeutungsebenen:
»Leucht’« ist ein Imperativ: Faust befiehlt der Sylphe, zu leuchten. Licht spielt im ganzen Faust eine zentrale Rolle als Symbol für Erkenntnis, Offenbarung, aber auch für Trugbild und Illusion.
»Meteoren-Schöne« evoziert das Bild der Meteore – kurz aufflackernde Lichtphänomene am Himmel. Das ist zugleich:
ästhetisch: Schönheit, Glanz, Erhabenheit
vergänglich: Meteore sind flüchtige Erscheinungen, was auf die Illusionskraft der Geister hindeutet
ambivalent: Meteore sind natürliche und doch fast übernatürlich anmutende Erscheinungen – sie verweisen auf das Zwischenreich von Natur und Geist.
Faust begehrt also ein blendendes, himmlisches Schauspiel – nicht allein zur Erkenntnis, sondern auch zur ästhetischen Erregung seiner Sinne und Imagination. Das ist Ausdruck seines tiefen Wunsches nach Grenzerfahrung, Transzendenz und vielleicht auch: Selbstvergessenheit.
1288 Silphe!
Mit diesem abschließenden Anruf wird die Luftgeistheit direkt benannt. In der Alchemie und der okkulten Elementarlehre (z. B. bei Paracelsus oder in der Theosophie) sind Sylphen die Wesen des Luftelements – leicht, flüchtig, durchscheinend, immateriell. Dass Faust gerade diese ruft, passt zur Szene:
Sie kontrastiert mit der heraufbeschworenen dunklen Geisterwelt Mephistos, die mehr der »Unterwelt« oder dem Erdelement zugehört.
Die Luftgeister stehen metaphorisch für das Denkende, das Bewegliche, das Flüchtige – also für jene intellektuell-spirituelle Sphäre, der Faust sich zugehörig fühlt, und die er durch Magie erweitern will.
Der bloße Ausruf »Silphe!« hat einen beschwörenden, fast liturgischen Klang – die sprachliche Reduktion verstärkt die Suggestion von Magie und Unmittelbarkeit der Geisterpräsenz.
Zusammenfassend 1287-1288
1. Erkenntnishunger und Transzendenzwunsch:
Faust will nicht nur wissenschaftlich erkennen, sondern unmittelbar erleben, durch magische und visionäre Mittel. Die Sylphe als Symbol ästhetisch-okkulter Erscheinung verweist auf die Suche nach einer höheren Wirklichkeit jenseits des Rationalen.
2. Ambivalenz der Erscheinung:
Die Meteoren-Schönheit steht für eine verführerische, aber trügerische Form des Lichts. Faust riskiert, sich Illusionen hinzugeben – das Licht der Sylphe ist nicht das Licht Gottes, sondern ein blendendes, flüchtiges.
3. Magie versus Vernunft:
Faust wendet sich aktiv an ein spirituelles Wesen – ein Verstoß gegen christlich-rationales Denken. Die Szene ist Ausdruck der romantischen Rebellion gegen die Beschränkungen der Aufklärung, zugleich aber Warnung vor Selbsttäuschung.
4. Elementarlehre als Weltzugang:
Indem Faust Elementarwesen anruft, bezieht er sich auf ein prämodernes, animistisches Weltbild, in dem die Natur beseelt ist. Das verweist auf eine andere, nicht-kartesianische Ontologie – in der das Ich nicht vom Kosmos getrennt ist, sondern durch Beschwörung in ihn eingreift.
5. Die Rolle der Sprache als magisches Medium:
Die Beschwörungsformel zeigt: Sprache selbst wird hier als Handlungskraft aufgefasst – ein »sprechendes Weltverhältnis«, das in der romantischen und hermetischen Philosophie als schöpferisch gilt (ähnlich der Logos-Idee oder dem kabbalistischen Denken).
1289 Bring’ häusliche Hülfe
Faust ruft verzweifelt nach »häuslicher Hilfe«, also nach Beistand aus dem eigenen Umfeld, womöglich magisch-beschwörerischer Natur, da er allein nicht mehr Herr der Situation ist. Das Adjektiv »häuslich« ist bemerkenswert ambivalent: Es klingt zunächst privat und schutzbietend, doch im okkulten Zusammenhang kann es auch eine vertraute, dämonische Kraft meinen – einen »Haushaltsgeist«, einen vertrauten Dämon, den Faust unter Kontrolle glaubt zu haben. Hier wird die Schwelle zwischen rationalem Schutz und irrationaler Magie überschritten.
1290 Incubus! incubus!
Der doppelte Ausruf intensiviert Fausts Panik. Ein Incubus ist in der Dämonologie ein männlicher Dämon, der Frauen im Schlaf heimsucht, aber auch allgemein als drückender Alb verstanden werden kann (lateinisch incubare – sich drauflegen). Dass Faust ihn anruft, kann paradox erscheinen: Warum ruft er einen dämonischen Nachtgeist um Hilfe? Es ist aber wahrscheinlich, dass Faust hier nicht beschwört, sondern in visionärer Verwirrung einen Incubus als reale Bedrohung wahrnimmt – er fühlt sich bedrängt von finsteren Kräften, die er selbst durch seine Magie entfesselt hat. Das wiederholte »Incubus!« ist Ausdruck panischer Halluzination oder Beschwörung zugleich – die Grenze verschwimmt.
1291 Tritt hervor und mache den Schluß.
Dieser Vers wirkt wie ein Befehl zur finalen Entscheidung oder Erlösung: »Mache den Schluß« kann man sowohl im Sinne eines Endes des Geschehens, als auch einer formalen Schließung eines magischen Kreises lesen. Vielleicht meint Faust: »Beende diese Qual«, vielleicht: »Führe die Beschwörung zu Ende.« Auch der Gedanke an den »Schluß« eines Pakts – also der entscheidende Schritt der Bindung an Mephistopheles – schwingt mit. Faust fordert die Konfrontation heraus, unfähig, sich zu entziehen.
Zusammenfassend 1289-1291
1. Selbstentfremdung durch magischen Erkenntnisdrang:
Faust, der strebend nach »mehr« die Grenzen des Erlaubten überschritten hat, ruft nun Geister herbei, die ihn überwältigen. Seine Identität als rationaler Wissenschaftler zerfällt angesichts okkulter Kräfte, die er nicht mehr kontrolliert. Die »häusliche Hilfe« wird zur ironischen Anrufung eines Dämons: Das Haus, die Gelehrtenstube, wird Ort metaphysischer Überforderung.
2. Zwischen Autonomie und Fremdbestimmung:
Indem Faust »tritt hervor und mache den Schluß« sagt, delegiert er seine Entscheidungsgewalt an eine fremde Macht. Dies ist der Wendepunkt vom autonomen Subjekt zum fremdgesteuerten Existenzmodus, was eine fundamentale Frage des modernen Menschen vorwegnimmt: Wie frei ist der Mensch, wenn er die Bedingungen seines Handelns nicht mehr durchschaut?
3. Der Dämon als psychische Projektion:
Der »Incubus« könnte auch als Manifestation innerer psychischer Kräfte gelesen werden – als Ausdruck einer narzisstischen, selbstverzehrenden Energie. Fausts Anrufung dämonischer Gestalten ist dann nicht nur mythologisch, sondern existentiell: ein Ausdruck von Zerrissenheit zwischen Ideal und Realität, zwischen Streben und Scheitern.
4. Das Scheitern der Aufklärung:
Die Szene zeigt, dass Fausts umfassendes Wissen (vgl. die frühere Aufzählung der Fächer, die er studiert hat) ihn nicht schützt. Rationalität allein kann die tiefsten Ängste und Grenzerfahrungen des Menschen nicht auffangen – das Scheitern der Aufklärung wird in Form der Dämonen spürbar. Das Licht der Vernunft wirft seinen eigenen Schatten: Mephistopheles.