Faust von Johann Wolfgang von Goethe
Der Tragödie Erster Theil
Vor dem Thor (9)
Wagner.
1100 Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden,
Ich rückt Wagners Person in den Mittelpunkt; selbst erhöht die Betonung seiner Erfahrung. Mit grillenhafte (von Grille = Laune, Einfall) qualifiziert er seine Stimmungen als bloß vorübergehende Kapricen. Das Wort trivialisiert alles Überschwängliche und stellt es in die Nähe des Beliebigen. Die vierhebige Knittelvers‑Form (ca. 8–9 Silben) klingt bodenständig; hinter dem Komma liegt eine deutliche Zäsur, die die Aussage wie einen nüchternen Befund wirken lässt. Schon hier spürt man Wagners Bedürfnis, das irrationale Moment durch rationalisierende Selbsteinordnung klein zu halten.
1101 Doch solchen Trieb hab’ ich noch nie empfunden.
Das adversative Doch hebt einen scharfen Gegensatz zu Fausts vorangegangenem Schwärmer‑Monolog hervor. Trieb ist semantisch erheblich stärker als Laune – es verweist auf ein elementares inneres Drängen, das Leib und Geist gleichermaßen erfasst. Die Negation noch nie macht das Fehlen dieses existenziellen Drangs absolut; Wagner grenzt sich endgültig von Fausts Sehnsucht ab. Die Paarreim‑Bindung Stunden / empfunden schließt das Distichon, aber der Reim markiert gerade die Distanz zwischen den beiden Figuren: zwei Wörter, die sich berühren, obwohl ihr Bedeutungsgehalt auseinanderstrebt.
Zusammenfassend 1100-1101
Wagner fungiert im »Osterspaziergang« als Gegenfigur zu Faust. Er verkörpert den spätaufklärerischen Rationalisten, der sich mit den »Geistesfreuden« des Lesens begnügt und die Natur nur als angenehme Kulisse für gelehrte Gespräche schätzt. Faust dagegen erlebt in derselben Szene einen fast mystischen Naturrausch und beklagt die Spaltung seiner Seele. Wagner gesteht zwar »grillenhafte Stunden«, doch der »Trieb« – ein unstillbares, transzendierendes Verlangen – bleibt ihm fremd.
Damit zeichnet Goethe zwei Denkhaltungen seiner Zeit:
Aufklärung und Rationalismus – Wagners Welt ist geordnet, sprach‑ und buchförmig. Erkenntnis bedeutet, Begriffe sauber zu trennen und das Unberechenbare zu bannen. Sein Geständnis wirkt wie ein methodischer Fußnoten‑Verweis: Er räumt Abweichungen ein, nur um sie sofort als harmlosen »Spleen« zu entwerten.
Sturm‑und‑Drang‑Existentialismus – Fausts »anderer Trieb« richtet sich auf Totalität. Er will »höheres Sein« fühlen, koste es Klarheit oder Sicherheit. In psychoanalytischer Nachsicht könnte man sagen: Wagner kennt das Freud’sche Über‑Ich des Pflichtgefühls; Faust wird vom Es‑haften Wille/Trieb getrieben, den Schopenhauer später philosophisch beschreibt.
Gerade weil Wagner den elementaren »Trieb« nicht kennt, bleibt er moralisch unanfechtbar, aber geistig stationär. Sein Bekenntnis deutet an, dass reine Vernunft ohne Leidenschaft zur Stagnation führt. Goethe stellt damit die Frage, ob Erkenntnisfortschritt und kulturelle Kreativität überhaupt möglich sind, wenn das riskante Begehren fehlt.
Schließlich bereitet der Zweizeiler das berühmte »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust« (V. 1110 ff.) dramaturgisch vor: Erst durch Wagners nüchterne Selbstbegrenzung tritt Fausts Zerrissenheit umso schärfer hervor. So wird der scheinbar beiläufige Dialog zum philosophischen Brennpunkt des ganzen Dramas – Vernunft gegen Trieb, Selbstdisziplin gegen unstillbare Sehnsucht, System gegen Freiheit.
1102 Man sieht sich leicht an Wald und Feldern satt,
»sieht sich … satt« spielt auf die Sättigung der Sinne an: Ein Überfluss an Anschauung kann zur Übersättigung führen.
»leicht« relativiert den Wert landschaftlicher Eindrücke; für Wagner sind sie mühelos ersetzbar.
Wald und Felder stehen als pars pro toto für die ganze Natur; dennoch fasst er sie lapidar zusammen – ein Hinweis auf seine distanzierte, fast katalogisierende Perspektive.
Stilmittel: Alliteration (Wald/ Feldern fehlt, aber der Binnenreim »‑t / satt« erzeugt Klangbindung); der schlichte Parlandoton kontrastiert mit Fausts pathetischem Sprachduktus.
1103 Des Vogels Fittig werd’ ich nie beneiden.
»Fittig« (ahd. vittag) ist eine poetische Archaismusform für »Flügel«. Goethe wählt das altertümliche Wort, um dem Bild eine gelehrte Patina zu verleihen, die zu Wagner passt.
Der Satz ist eine doppelte Negation des Begehrens: Wagner betont, er könne dem Vogel‑Sein nie etwas abgewinnen. Er grenzt sich aktiv von jedem Wunsch nach körperlicher Freiheit ab.
Rhetorisch wirkt das Enjambement zwischen den beiden Versen wie ein gedanklicher Bruch – Wagners nüchterner Einwand unterbricht Fausts schwärmerische Naturversenkung.
Zusammenfassend 1102-1103
1. Rationalistische Genügsamkeit
Wagner verkörpert den spätaufklärerischen Glauben, alles Wesentliche sei im Studium zu finden. Natur ist für ihn bloßes Anschauungs‑Material, das schnell »verbraucht« ist. Seine Seele strebt nach Quantität (Bücherseiten), nicht nach Qualität unmittelbarer Erfahrung.
2. Ablehnung transzendenter Freiheit
Der Vogel symbolisiert das romantische Ideal des freien, schöpferischen Geistes. Dass Wagner dessen Flügel nicht beneidet, zeigt eine Angst vor Grenzüberschreitung – das »hohe Fliegen« birgt Risiko und Verantwortung, die er lieber meidet.
3. Vorwegnahme des »Zwei‑Seelen«-Motivs
Kurz darauf klagt Faust über die gespaltete Natur des Menschen. Wagner dagegen hat nur eine Triebfeder – das Gelehrtentum. Goethe kontrastiert so begrenzte Selbstzufriedenheit mit existenziellem Streben.
4. Kritik am Positivismus
Hinter Wagners Worten klingt Goethe‑Skepsis gegenüber einem Denken, das Schönheit und Geheimnis der Welt in Datensammlungen auflöst. Die Verse mahnen, dass rein quantifizierendes Wissen zur seelischen Verarmung führen kann.
5. Anthropozentrisches Selbstbild
Indem Wagner weder Natur noch Tier beneidet, erhebt er den menschlichen Intellekt stillschweigend zum Maß aller Dinge. Das spiegelt den aufkommenden bürgerlichen Utilitarismus: Naturwert = Nutzwert.
Fazit
Die beiden scheinbar beiläufigen Verse charakterisieren Wagner scharf:
Natur ist konsumierbar, bald langweilig.
Freiheit als riskante Vogelperspektive lehnt er ab.
Goethe nutzt diese kleinen Sätze, um das große Thema seines Dramas einzuführen: die Spannung zwischen engen Sicherheiten und unstillbarer Sehnsucht. Wagner bleibt im Lampenlicht des Lesepults – Faust zieht es ins offene Feld und schließlich weit darüber hinaus.
1104 Wie anders tragen uns die Geistesfreuden,
»Wie anders« signalisiert sofort einen Kontrast: Wagner bezieht sich unausgesprochen auf die Sinnesfreuden, die Faust soeben draußen genossen hat.
»tragen« (stärker als bloß »führen«) suggeriert ein getragen‑sein, ein Hineingehoben‑werden – aber nicht von sinnlicher Begeisterung, sondern von geistigen Inhalten.
»uns« schließt Faust mit ein, verkennt aber dabei, dass Faust nach mehr verlangt als reine Gelehrsamkeit.
»Geistesfreuden« ist ein bewusst abstrakter, idealistischer Ausdruck. Wagner empfindet echtes Lustempfinden – doch es ist rein intellektuell, fast körperlos.
1105 Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!
Die Parallelkonstruktion (»von … zu …«) und die Alliteration Buch/Blatt erzeugen einen monotonen Rhythmus, der den Kreisgang gelehrten Studierens spiegelt.
Die Bewegung ist rein innerlich: Statt durch die Welt (wie der Spaziergang), bewegt man sich durch Regale und Papierseiten.
Das Ausrufezeichen zeigt Wagners Begeisterung, die Faust jedoch als enge, wiederholende Schleife empfindet.
Zusammenfassend 1104-1105
1. Lebendige Erfahrung versus abstrakte Erkenntnis
Wagner steht für den Idealtyp des Bibliothek‑Gelehrten: Wissen als Textkonsum. Für Faust genügt das nicht; er verlangt unmittelbare Erfahrung und existentielle Gewissheit. Die beiden Verse kristallisieren diesen Gegensatz: dieselbe Grundbewegung (getragen werden), aber in verschiedene Sphären.
2. Mimesis und Autonomie der Schrift
Für Wagner wird die Welt zur Bibliothek; Realität findet als Re‑Präsentation im Buch statt. Das verweist auf ein frühes Medienbewusstsein Goethes: Schrift kann zur Ersatzwelt werden, mit eigener Sogkraft.
3. Enlightenment vs. Sturm und Drang
Die Romantik/der frühe Sturm‑und‑Drang (Faust) rebelliert gegen reine Vernunftkonstrukte. Faust sucht das »Erlebnis«, Wagner klebt am »System«. Die Verse markieren eine epistemologische Weggabelung: rationalistische Akkumulation (Aufklärung) kontra existenzielle Offenheit.
4. Meta‑Kommentar über Wissenschaft
Goethe reflektiert über die Gefahr akademischer Selbst‑Genügsamkeit. Wagner ist stolz, »von Blatt zu Blatt« zu wandern, doch gerade diese Fortschritts‑Illusion (immer mehr Seiten) führt letztlich in einen Zirkel. Wissenschaft kritisiert sich selbst: Kontinuität des Lesens ersetzt nicht das Neue, das Erfahrene.
5. Das Tragende
Interessant ist Wagners Verbwahl »tragen«. In einer Bildwelt, die später noch die »Mutter Erde« (Fausts Beschwörung) hervorbringt, klingt hier eine theologisch‑transzendente Komponente an: Der Geist trägt – ähnlich wie einst göttliche Vorsehung. Für Wagner ist die Autorität nicht Gott, sondern der Kanon.
Fazit
Die zwei kurzen Verse verdichten Wagners ganze Weltanschauung: Wissen ist eine Kette von Texten, Fortschritt geschieht additiv von Seite zu Seite. Für Faust ist das eine Sackgasse – er sehnt sich nach der Wirklichkeit »vor dem Tor«. Goethe kontrastiert damit zwei Formen von Freude: die zirkuläre, bibliophile und die offene, existentielle. Gerade in diesem Kontrast eröffnet sich das zentrale philosophische Drama des Faust‑Stoffs: Wie erreicht der Mensch wahre Erkenntnis – durch Bücher oder durch gelebtes Leben?
1106 Da werden Winternächte hold und schön,
Bildlichkeit & Stimmung: Die harsche, lebensfeindliche »Winternacht« wird durch Wissen, Bücher‑Studium und geistige Beschäftigung in etwas »Holdes« (Anmutiges) und »Schönes« verwandelt. Das Motiv der Verwandlung von Kälte in Behagen unterstreicht eine eskapistische Wärmequelle: der Geist überwindet natürliche Widrigkeit.
Wortwahl: »Hold« (lieblich, gütig) und »schön« stehen in Alliteration mit dem vorangehenden W‑Klang von »Winternächte«; das verleiht dem Vers Weichheit und Harmonie und spiegelt in der Lautgestaltung den versprochenen Trost wider.
Metrum: Goethe benutzt hier – wie im ganzen Spaziergang – den Knittelvers (vier Hebungen, freie Senkungen, Paarreim). Die dichten Hebungen auf Win‑TER‑nä‑CHTE geben dem Bild Gewicht, während das pausierende Komma die innere Wärme vorbereitet.
Subtext: Wagner glaubt an das heilsame Potenzial der Gelehrsamkeit: Forschung und Ordnung schenken nicht nur Erkenntnis, sondern auch ästhetische Aufwertung des Lebens. Er misst der intellektuellen Betätigung fast sakrale Kraft zu.
1107 Ein selig Leben wärmet alle Glieder,
Bildlichkeit & Körperlichkeit: Die Kälte‑Wärme‑Metapher konkretisiert sich: »alle Glieder« betont die leibhaftige Wirkung. Wissen ist für Wagner nicht abstrakt; es strahlt leibliche Wohligkeit aus – ein »selig\[es] Leben« (religiös anmutende Glückseligkeit) statt bloßer Zufriedenheit.
Klang & Rhythmus: Der Binnenreim‑ähnliche Gleichklang se‑LI‑ges – LI‑der verbindet das höhere, geistige »Leben« mit den irdischen »Gliedern«. Die Alliteration von selig / Leben verstärkt den Singsang, als spreche Wagner ein Versprechen aus.
Kontrast zu Faust: Während Faust im gleichen Dialog von »Überdruss« und »Erdenschmerz« beherrscht ist, sieht Wagner im Studium die Quelle ganzheitlichen Heils. Das ist der Kern ihres weltanschaulichen Gegensatzes.
Zusammenfassend 1106-1107
1. Eskapismus vs. Transzendentes Streben
Wagner verkörpert den Aufklärungs‑Positivismus: Die Welt wird erträglicher, wenn man sie katalogisiert. Für Faust aber ist solche Genügsamkeit Flucht vor dem Wagnis echten Erlebens. Die Verse illustrieren so eine Existenz‑Alternative: behagliche Immanenz oder riskante Transzendenz.
2. Heil durch Ordnung
Die imaginierten Wärmequalitäten spiegeln die klassische Idee, dass Logos (vernunftgemäße Ordnung) chaotische Natur besiegt. Das erinnert an stoische Selbstgenügsamkeit: geistige Verarbeitung lenkt Empfindungen und leitet Emotionen in Balance.
3. Körper‑Geist‑Einheit
Bemerkenswert ist, dass Wagner gerade körperliche Wärme erfährt. Goethe spielt damit auf die romantische (proto‑phänomenologische) Einsicht an, dass geistige Vorgänge somatische Resonanz erzeugen. Doch bei Wagner bleibt sie im Dienst der Selbstberuhigung; Faust verlangt nach einem ekstatischen, nicht kalkulierbaren Leib‑Geist‑Zusammenhang.
4. Ironische Brechung
In der Gesamtkomposition stellt Goethe Wagners Worte unauffällig in Frage: Sie klingen wohlig, wirken aber zugleich fremd angesichts von Fausts kosmischem Unbehagen. Die Glätte des Knittelverses selbst liefert eine formale Ironie – ruhiger Paarreim versus Fausts spätere Metaphysik des Suchens.
Fazit
Die beiden Verse zeichnen ein Idealbild wissenschaftlicher Kontemplation als seelen‑ und körperwärmende Kraft. Goethe lässt Wagner damit das Versprechen der Aufklärung aussprechen: Ordnung schafft Wohlbefinden. Gleichzeitig stellt er durch Fausts Widerstand die Frage, ob diese »Wärme« tief genug reicht, um den ur‑menschlichen Drang nach Sinn und Grenzüberschreitung wirklich zu stillen.
1108 Und ach! entrollst du gar ein würdig Pergamen;
Dieser Vers beschreibt eine Szene der gelehrten Arbeit, konkret das Lesen (oder das Entrollen) eines alten, ehrwürdigen Dokuments – ein »Pergamen(t)«.
Das Wort »entrollen« evoziert das Bild antiker Manuskripte, die nicht geblättert, sondern ausgerollt werden – ein Hinweis auf ehrfurchtsvoll behandelte, vielleicht sogar sakrale oder autoritative Texte.
Die Beifügung »ein würdig Pergamen« (eine poetische Umstellung von »ein würdiges Pergament«) betont die feierliche, fast kultische Verehrung des Geschriebenen. Für Wagner ist das Studium selbst ein Akt religiöser oder metaphysischer Bedeutung.
Der Ausruf »Und ach!« markiert eine emotionale Ergriffenheit, vielleicht Bewunderung oder Sehnsucht – möglicherweise auch eine gewisse Überwältigung durch die Größe dessen, was das Studium offenbaren kann.
Philosophisch: Wagner steht für den Typus des akademischen Rationalismus. Das Pergament ist nicht bloß Medium, sondern Offenbarungsquelle. In der Weltanschauung Wagners offenbart sich das Höchste, ja fast Göttliche, nicht im unmittelbaren Leben, sondern im Text. Diese Haltung spiegelt eine gnoseologische Metaphysik wider: Wahrheit wird nicht erfahren, sondern studiert.
1109 So steigt der ganze Himmel zu dir nieder.
Hier steigert Wagner seine Darstellung ins Sakrale: Das Lesen eines würdigen Textes zieht den »ganzen Himmel« herab – eine bildmächtige Metapher für göttliche Erleuchtung oder transzendente Erkenntnis.
Er sieht das gelehrte Studium als einen Weg zur Teilhabe an himmlischem Wissen oder an einer göttlichen Ordnung. Der Akt des Lesens und Verstehens wird sakralisiert.
Die Vorstellung vom »Himmel, der niedersteigt«, erinnert an biblische Theophanien, etwa die Offenbarung am Sinai oder Pfingsten – aber Goethe legt diese Sprache in den Mund eines Menschen, der nur auf Bücher vertraut.
Es wirkt fast ironisch: Während Faust durch eigene Erfahrung zum Transzendenten strebt, glaubt Wagner, es durch bloßes Textstudium herabzuziehen.
Philosophisch:Der Vers drückt ein epistemologisches Ideal des Aufklärungszeitalters aus, das aber hier schon in eine gewisse Überhöhung oder gar Selbsttäuschung mündet. Wagner glaubt an eine »vertikale« Erkenntnisbewegung: Das Höchste kommt herab, wenn man nur das Richtige liest.
Doch Goethe deutet hier auch eine kritische Haltung gegenüber bloßer Gelehrsamkeit an. Wagner ersetzt Erfahrung, sinnliche Anschauung und existenzielle Tiefe durch Bücherwissen. Sein »Himmel« ist vielleicht bloß ein Konstrukt der Bibliothek.
Zusammenfassend 1108-1109
Diese beiden Verse zeigen Wagners fast kultische Verehrung der Gelehrsamkeit. Das Pergament steht für das vermeintlich Heilige der überlieferten Lehre. Doch Goethes subtile Ironie macht deutlich: Wer nur liest, aber nicht lebt, verkennt das Wesen wahrer Erkenntnis. Wagner steht damit im Kontrast zu Faust, der zwar ebenfalls nach dem Höchsten strebt, aber weiß, dass dies nicht durch Bücher allein zu erreichen ist.
Faust.
1110 Du bist dir nur des einen Triebs bewußt,
Dieser Vers richtet sich an Wagner, Fausts gelehrten, aber weltabgewandten Begleiter. Faust konstatiert, dass Wagner sich nur eines einzigen »Triebs« bewusst ist – gemeint ist hier der Drang nach rationalem Verstehen, nach Wissen, nach systematischer Erkenntnis. In der Szene davor hat Wagner den Nutzen von Bücherwissen und gelehrter Rede gepriesen und damit eine rein kognitive, nüchterne Lebenshaltung verkörpert.
Faust erkennt darin jedoch nur einen Teil der menschlichen Triebnatur. Der Ausdruck »nur des einen Triebs« deutet an, dass es noch einen zweiten gibt – einen, den Wagner nicht kennt oder nicht anerkennt. Dieser zweite Trieb ist das irrationale, emotionale, existenzielle Streben: nach Tiefe, nach Erfahrung, nach Erfüllung, nach Überschreitung.
Philosophischer Hintergrund:
In der Tradition der anthropologischen Zwei-Trieb-Lehre (z. B. bei Platon mit »Eros« und »Logos«, später bei Kant als »Neigung« vs. »Vernunftgesetz«) wird der Mensch als ein Wesen zwischen verschiedenen Kräften verstanden.
Faust sieht hier in Wagner den einseitig intellektuellen Menschen – unfähig zur existenziellen Tiefe oder metaphysischen Sehnsucht.
1111 O lerne nie den andern kennen!
Dieser Ausruf hat eine doppelte Struktur: Er ist scheinbar ein wohlmeinender Rat, aber tatsächlich zutiefst zweideutig und resignativ. Faust wünscht Wagner, den anderen Trieb – also das leidenschaftliche Streben, das metaphysische Verlangen, die ruhelose Sehnsucht – nie kennenzulernen. Warum?
Weil er weiß, wie zerstörerisch und schmerzhaft dieses Sehnen sein kann. Faust spricht aus eigener Erfahrung: Er ist von diesem zweiten Trieb durchdrungen – der Wunsch, über das rein Menschliche hinauszugelangen, das Absolute zu erfassen, Gott zu begreifen, in das Innerste der Natur einzudringen. Dieser Trieb hat ihn aber auch an die Grenze der Verzweiflung gebracht (vgl. »Nacht«-Monolog, Zeilen 354–417).
Die Aussage ist daher philosophisch ambivalent:
Einerseits wird das bloß rationale Leben als verarmt und reduktionistisch empfunden.
Andererseits bringt das existenzielle Streben nach Sinn, Wahrheit und Transzendenz ein Wissen um die Tragik der menschlichen Begrenztheit mit sich – das Faust dem naiven Wagner ersparen will.
Philosophisch lässt sich das im Kontext des Deutschen Idealismus lesen (z. B. bei Fichte oder Schelling): Der Mensch ist ein Wesen, das über sich hinaus will, aber dabei immer wieder an sich selbst zerbricht.
Zusammenfassend 1110-1111
Faust spaltet die menschliche Natur in zwei Triebe: den rational-kognitiven und den irrational-existenziellen.
Der rationale Trieb (Wagners Weg) bleibt sicher, aber begrenzt.
Der existentielle Trieb (Fausts Weg) ist gefährlich, weil er ins Absolute zielt, aber nie voll erfüllt werden kann.
Fausts Ausruf ist ein Stoßseufzer eines Gescheiterten: Er beneidet den Unwissenden um dessen Ruhe – aber will oder kann selbst nicht zurücktreten.
1112 Zwey Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Dieser berühmte Vers stellt einen zentralen inneren Konflikt Fausts dar. Das Ausrufezeichen »ach!« hebt das seelische Leid hervor, mit dem er diesen Zwiespalt erlebt. Das Bild der »zwei Seelen« evoziert die Vorstellung einer inneren Zerrissenheit, eines Kampfes zwischen entgegengesetzten Kräften innerhalb seines Wesens. Faust empfindet sich nicht als einheitliches Subjekt, sondern als gespalten. Das Verb »wohnen« verweist auf eine gewisse Dauerhaftigkeit und Koexistenz: die Seelen sind nicht temporär da, sondern dauerhaft in seiner Brust ansässig.
Die Zahl »zwei« verweist auf eine Dualität, die sich in vielen literarischen und philosophischen Traditionen findet: Körper und Geist, Trieb und Vernunft, Natur und Kultur, irdisches Begehren und transzendentes Streben. Goethe greift hier ein archetypisches Bild auf, das von der Antike bis in die Moderne immer wieder variiert wurde.
1113 Die eine will sich von der andern trennen;
Hier wird die Spannung zwischen den beiden Seelen verschärft: Sie sind nicht nur unterschiedlich, sondern streben auch aktiv auseinander. Die Formulierung »will sich \[...] trennen« legt nahe, dass zumindest eine dieser Seelen eine radikale Trennung vom anderen Teil des Selbst anstrebt – ein Prozess, der nicht harmonisch oder ausgleichend ist, sondern konflikthaft und schmerzvoll.
Diese Zeile impliziert, dass Fausts Identität nicht nur gespalten ist, sondern sich im Begriff der Auflösung befindet. Das Subjekt verliert seine Einheit. Der Wille zur Trennung ist eine Bewegung gegen das integrierte Selbst. Es ist ein Ausdruck innerer Desintegration, aber auch vielleicht ein Versuch, sich aus einer »niedrigeren« Seelenverfassung zu befreien.
Zusammenfassend 1112-1113
Diese zwei Verse bilden eine der dichtesten Formulierungen für das goethesche Menschenbild, das stark vom Sturm und Drang, aber auch von klassischem Humanismus und später von romantischem Dualismus geprägt ist. Philosophisch lassen sich mehrere Deutungsrichtungen benennen:
1. Anthropologischer Dualismus:
Der Mensch ist nicht eins, sondern besteht aus gegensätzlichen Impulsen. Faust leidet an der Diskrepanz zwischen Naturtrieb und geistigem Streben. Diese Dualität erinnert an Platons Bild vom Seelengespann (in der Politeia) oder an die augustinische Spannung zwischen fleischlicher Lust (concupiscentia) und göttlicher Liebe (caritas).
2. Existenzphilosophische Tiefe:
Faust erfährt sich als zerrissenes Selbst, das nicht in Einklang mit sich ist. Seine Klage ist Ausdruck einer existentiellen Fremdheit mit sich selbst. Hier klingt eine frühe Form moderner Subjektivität an: das Subjekt als konflikthaft, fragmentiert, nie ganz identisch mit sich selbst.
3. Goethes Naturphilosophie und Entwicklungsidee:
Die Spannung ist nicht nur destruktiv, sondern auch produktiv. Die Trennung der Seelen verweist auf eine Bewegung, einen Drang zur Entwicklung, zur Dialektik von These und Antithese. Faust wird später zwischen der irdischen Lebensfreude (verkörpert durch Mephisto und das Sinnliche) und dem metaphysischen Streben nach Erkenntnis und Erlösung (Gretchen, das »Ewig Weibliche«) hin- und hergerissen. Diese Polarität ist Antrieb seiner inneren und äußeren Reise.
4. Psychologische Vorwegnahme:
Goethes Bild antizipiert in gewisser Weise psychologische Modelle des Unbewussten. Die Zerrissenheit Fausts kann als innere Spaltung zwischen bewussten Zielen und unbewussten Trieben gedeutet werden. In moderner Terminologie würde man von einer gespaltenen Identität oder einem »intra-psychischen Konflikt« sprechen.
1114 Die eine hält, in derber Liebeslust,
Dieser Vers beginnt mit einer allgemeinen Typisierung des Menschen, hier in der weiblichen Form, vermutlich in Bezug auf die Volksmenge, die Faust zuvor mit Wagner beobachtet und charakterisiert.
»Die eine« verweist auf einen bestimmten Typus Mensch, eine Einzelne stellvertretend für viele – ein Beispiel unter mehreren.
»hält« bedeutet hier: sie hält sich fest, sie klammert sich an etwas – es geht um Bindung, Festhalten an einer bestimmten Lebensweise.
»in derber Liebeslust« ist ein Ausdruck sinnlicher, unmittelbarer, nicht geistiger Liebe. »Derb« betont das Körperlich-Triebhafte, nicht Subtile: Es ist die rohe, unreflektierte Lust am Leben, an der physischen Liebe.
Faust beschreibt hier eine Lebensweise, die sich dem sinnlichen Genuss, dem Instinktiven zuwendet, ohne Transzendenz oder geistige Tiefe.
1115 Sich an die Welt, mit klammernden Organen;
»Sich an die Welt«: Die Person bindet sich nicht an das Göttliche, an Ideen oder den Geist, sondern an die materielle Welt, an das Irdische.
»mit klammernden Organen«: Diese Wendung ist ungewöhnlich und stark bildhaft. »Klammernde Organe« meint: mit allen physischen Mitteln, mit Händen, Armen, Sinnen – der ganze Körper ist auf das Festhalten an das Weltliche ausgerichtet.
Es ist ein animalisches, körperlich-totales Anhaften an das Irdische – das Gegenteil von spiritueller Loslösung oder geistiger Entwicklung.
Zusammenfassend 1114-1115
Diese Verse spiegeln Goethes tiefes Interesse an anthropologischer Typologie und an der Dualität zwischen Geist und Materie. Faust stellt hier eine existentielle Grundfrage: Wie lebt der Mensch – an der Welt klebend oder sich davon lösend?
Der Mensch, der sich »in derber Liebeslust« an das Irdische klammert, ist ein epikureischer oder gar materialistischer Typus, der das Dasein auf Lust, Körperlichkeit und unmittelbare Gegenwart beschränkt.
Dies steht in Kontrast zu Fausts eigener, unstillbarer Sehnsucht nach höherer Erkenntnis, transzendenter Wahrheit und spirituellem Durchbruch.
Die Wendung enthält auch eine kritische Haltung: Wer sich an die Welt klammert, verfehlt womöglich die höhere Berufung des Menschen, nämlich die geistige Entfaltung.
Faust entwickelt hier eine Art negative Anthropologie: Er skizziert, wie der Mensch sein könnte – aber nicht sein sollte, wenn er nach Wahrheit strebt.
1116 Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust,
»Die andre«: Gemeint ist die zweite Seele in Fausts Brust, die in ihm wirkt – eine Referenz auf das innere Zerrissensein. Der Vers ist eng verwandt mit der später berühmten Wendung in Faust II: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«. Hier wird bereits angedeutet, dass Faust zwischen zwei Lebensimpulsen steht.
»hebt gewaltsam sich«: Das Adverb »gewaltsam« betont, dass der Aufstieg dieser Seele nicht harmonisch oder ruhig erfolgt. Es ist ein aktiver, fast verzweifelter Impuls – sie will sich erheben, kämpft gegen die Erdenschwere, gegen die Materie, gegen das »Dust«.
»vom Dust« (= Staub): Symbol für die irdische Welt, die Vergänglichkeit, die Materie, das Niedrige. Der Ausdruck erinnert an die biblische Formel »Denn du bist Staub, und zum Staube kehrst du zurück« (Genesis 3,19). Die Seele will sich von dieser Endlichkeit und Sinnlichkeit befreien.
Faust beschreibt hier den metaphysischen Drang seiner Seele: ein ungestilltes Streben, das sich mit irdischer Realität nicht zufriedengibt, sondern nach »Höherem« verlangt. Doch dieser Aufstieg ist ein Kampf, keine natürliche Bewegung.
1117 Zu den Gefilden hoher Ahnen.
»Gefilde«: Poetisch für »weite Landschaften«, hier als Symbol für ein Jenseits, ein transzendentes Reich.
»hohe Ahnen«: Doppeldeutig:
Im traditionellen Sinne meint dies verstorbene Vorfahren, die sich nun im Jenseits befinden.
Im idealisierenden Sinne: »Hohe Ahnen« als Sinnbild edler, übermenschlicher, geistiger Ideale – Vorbilder in Tugend, Wissen oder Geist.
Die Seele sehnt sich nach der Rückkehr in eine höhere geistige Heimat, sei es im Sinne eines platonisch-idealen Ursprungs oder eines christlich-transzendenten Himmels. Fausts Seele will sich aus der irdischen Beschränkung befreien und in das Reich der »Ursprünge« oder »Ideale« aufsteigen.
Zusammenfassend 1116-1117
Goethes Verse sind durchzogen von platonischem und neuplatonischem Gedankengut:
Platonismus: Die Idee, dass die Seele aus einer höheren Welt stammt und sich nach Rückkehr dorthin sehnt, klingt hier stark an. Der »Dust« ist das Sinnbild der vergänglichen Körperlichkeit; die »Gefilde hoher Ahnen« stehen für die Ideenwelt, die ewige Heimat der Seele.
Dualismus: Es zeigt sich ein existenzieller Zwiespalt zwischen Sinnenwelt (Dust) und Geistwelt (Gefilde). Faust ist der Mensch zwischen diesen Polen, der sich nach dem Absoluten sehnt, aber im Irdischen gefangen bleibt.
Streben als Wesen des Menschen: Der »gewaltsame« Drang nach oben ist Ausdruck des goetheschen Menschenbilds: Der Mensch ist nicht zur Ruhe bestimmt, sondern zum Werdenden, zum Strebenden.
1118 O giebt es Geister in der Luft,
Faust richtet sich hier mit einer existentiellen Frage an das Unsichtbare. Die Interjektion »O« verrät eine emotionale, beinahe sehnsuchtsvolle Haltung, die aus tiefer Unruhe oder Hoffnung gespeist ist.
Die Frage ist nicht rhetorisch im Sinne von »es gibt sie sicherlich«, sondern offen: Gibt es wirklich Geister?
»Geister« meint hier keine volkstümlichen Spukfiguren, sondern metaphysische Wesenheiten, geistige Kräfte, Vermittler zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen – Wesen, die außerhalb des rein materiellen Daseins existieren.
Der Ort »in der Luft« verweist symbolisch auf das Unsichtbare, Flüchtige, Nicht-Materielle, das jedoch spürbar Einfluss auf das Irdische nehmen kann. Faust deutet damit an, dass er sich nach einem Kontakt oder einer Erkenntnis sehnt, die über die Grenzen sinnlicher Wahrnehmung hinausgeht.
1119 Die zwischen Erd’ und Himmel herrschend weben,
Diese Verszeile konkretisiert das vorherige Bild: Die Geister bewegen sich zwischen Erde und Himmel – also im Zwischenreich des Kosmos, in der Sphäre des Unsichtbaren, des Transzendenten.
Das Verb »weben« ruft das Bild eines unaufhörlichen, komplexen Wirkens hervor – ähnlich wie Nornen oder Parzen das Schicksal weben. Es ist ein schöpferischer, gestaltender Prozess.
»Herrschend« bringt einen weiteren Aspekt ins Spiel: Diese Geister sind nicht bloße Vermittler oder Diener, sondern Mächte, die Einfluss und Kontrolle ausüben – eine Art metaphysischer Ordnungsmacht.
Die Vorstellung erinnert an eine harmonikale Weltordnung, in der geistige Kräfte das Dasein strukturieren, steuern oder sogar determinieren. Faust fragt sich also, ob hinter dem sichtbaren Leben ein unsichtbares, geordnetes Prinzip waltet – womöglich in der Gestalt personaler Geister.
Zusammenfassend 1118-1119
In diesen zwei Versen kulminiert Fausts metaphysische Sehnsucht: Er sucht nach einer geistigen Instanz, die zwischen der irdischen Welt und dem himmlischen Bereich vermittelt. Dies verweist auf zentrale Fragen der Naturphilosophie, Metaphysik und Religionsphilosophie:
1. Ontologische Zwischenwelt:
Fausts Frage zielt auf eine Zwischenebene zwischen Materie und Geist, Sinnlichkeit und Transzendenz. Diese Vorstellung ist dem neuplatonischen Denken verwandt, in dem zwischen dem Einen und der materiellen Welt eine Hierarchie geistiger Wesen (Dämonen, Intelligenzen, Engel) existiert.
2. Der Mensch als Suchender:
Faust ist exemplarisch für den modernen Menschen, der die Schranken des empirisch Fassbaren sprengen will. Er fragt nach mehr als der sichtbaren Welt – nach einer sinnhaften Ordnung hinter dem Chaos der Erscheinungen.
3. Erkenntniskritik und Transzendenz:
Die Geister als »herrschend webende« Instanzen symbolisieren eine höhere Erkenntnisform. Fausts Frage deutet an, dass wahres Verstehen vielleicht nicht rein rational (wie in der Scholastik oder Aufklärung), sondern nur im Kontakt mit dem Geistigen möglich ist – eine Wendung zum Mystischen, zum spekulativen Denken.
4. Die Spannung zwischen Aufklärung und Romantik:
Während die Aufklärung die empirisch-sinnliche Welt betont, lässt Goethe Faust eine Frage stellen, die aus dem Geist der Frühromantik stammen könnte. Die Geister sind Träger einer höheren, möglicherweise unergründlichen Wahrheit – jenseits bloßer Vernunft.
1120 So steiget nieder aus dem goldnen Duft
»So steiget nieder«: Faust richtet diesen Aufruf an eine höhere, vielleicht überirdische Instanz. Das Verb steigen in Verbindung mit nieder deutet eine Bewegung von oben nach unten an – eine herabrückende Macht oder Erscheinung. Dies kann sowohl metaphorisch für eine innere Eingebung stehen als auch konkret für eine Erscheinung göttlicher oder spiritueller Natur (wie ein Engelswesen oder eine Vision). Es erinnert zugleich an biblische Vorstellungen von Offenbarung und Herabkunft des Heiligen Geistes.
»aus dem goldnen Duft«: Die Formulierung evoziert eine fast mystische Atmosphäre. Goldener Duft verbindet visuelle und olfaktorische Sinneseindrücke in einer synästhetischen Metapher. Der Duft kann für das flüchtige, Transzendente stehen, das Goldene für das Erhabene, Himmlische. Damit wird der Ursprung des Angerufenen in einer idealisierten, überirdischen Sphäre verortet – ein Hinweis auf Fausts inneres Sehnen nach etwas Jenseitigem, das er nicht benennen kann.
1121 Und führt mich weg, zu neuem buntem Leben!
»Und führt mich weg«: Der Wunsch nach Entgrenzung, nach Herausführung aus dem Bestehenden wird hier deutlich. Führen suggeriert, dass Faust bereit ist, sich leiten zu lassen – im Kontrast zu seinem sonstigen Streben nach Kontrolle. Wegführung kann auch eine Art Erlösung oder Befreiung aus der Enge seines bisherigen Daseins bedeuten, also aus der intellektuellen Erstarrung und inneren Leere.
»zu neuem buntem Leben«: Die Wendung neues buntes Leben ist Ausdruck einer fast ekstatischen Lebenssehnsucht. Neu verweist auf einen radikalen Bruch mit dem Alten, bunt auf Vielfalt, Lebendigkeit und sinnliche Fülle – im Gegensatz zum akademisch-düsteren, »grauen« Gelehrtenleben (vgl. früher: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie«). Faust wünscht sich hier ein Leben, das von Erfahrung, Farbenreichtum, Kontrasten und innerer Bewegung geprägt ist – ein Leben, das sich nicht im Denken erschöpft, sondern im Erleben verwirklicht.
Zusammenfassend 1120-1121
In diesen beiden Versen kulminiert Fausts existentielle Sehnsucht, wie sie bereits im »Nacht«-Monolog grundgelegt ist: Er strebt nach einer höheren Wirklichkeit, nach Sinn, nach einem Leben, das ihn erfüllt – nicht bloß im Intellekt, sondern ganzheitlich. Die Bewegung »nieder aus dem goldnen Duft« signalisiert eine Öffnung für das Transzendente, möglicherweise sogar ein Flehen nach Gnade oder metaphysischer Erlösung.
Zugleich steht »neues buntes Leben« für eine Wendung hin zum Diesseitigen, zur sinnlichen Welt – also nicht zur Askese, sondern zur Erfahrung. Damit wird ein zentrales Spannungsfeld des Werkes angesprochen: das Zwischen von metaphysischer Sehnsucht und irdischem Drang, von Gottsuche und Weltbejahung. Faust möchte beides – das Göttliche und das Menschliche, die Vision und das Erleben. In dieser Doppelbewegung spiegelt sich die Grundproblematik des modernen Menschen, der zwischen Rationalität, religiösem Bedürfnis und Lebenslust zerrissen ist.
Fazit
Diese Zeilen sind somit ein Schlüssel zur Faust’schen Existenz: Sie zeigen seine Bereitschaft zur Überschreitung des rationalen Denkens und seine Offenheit für ein neues, auch riskantes Leben – das ihn letztlich in den Pakt mit Mephisto führen wird.
1122 Ja, wäre nur ein Zaubermantel mein!
Faust seufzt hier in einem Ausruf, der Wunsch und Unzufriedenheit zugleich ausdrückt. Der Konjunktiv »wäre« betont das Irreale seines Begehrens – es gibt keinen solchen Mantel, doch wie sehnlich wünscht er ihn sich. Der »Zaubermantel« symbolisiert mehr als nur ein Fortbewegungsmittel: Es ist ein Sinnbild für den menschlichen Traum, sich den Grenzen von Raum und Zeit zu entziehen – also eine Projektion des übermenschlichen Begehrens nach totaler Freiheit.
1123 Und trüg’ er mich in fremde Länder,
Faust konkretisiert seine Sehnsucht: Der Zaubermantel soll ihn »in fremde Länder« tragen. Diese Zeile steht für die tiefe Unruhe und Weltflucht in ihm – nicht das Eigene, sondern das Andere, das Unbekannte erscheint ihm als verheißungsvoll. Die Bewegung ins »Fremde« spiegelt seine innere Unrast und das Streben nach Transzendenz: weg vom Beschränkten, vom Gewohnten, hin zu neuen Erkenntnis- oder Erlebnisräumen.
1124 Mir sollt’ er, um die köstlichsten Gewänder,
Faust stellt nun eine hypothetische Bedingung auf: Selbst wenn man ihm als Preis für den Mantel die »köstlichsten Gewänder« anbieten würde, so wäre das für ihn kein ausreichender Tausch. Die »köstlichsten Gewänder« stehen hier für irdische Reichtümer, äußerlichen Glanz und Macht – also das, was traditionell als begehrenswert gilt.
1125 Nicht feil um einen Königsmantel seyn.
Die Steigerung: Selbst ein »Königsmantel«, also das höchste weltliche Statussymbol, wäre für Faust kein äquivalenter Tauschwert für den Zaubermantel. Damit zeigt sich seine Verachtung für äußeren Reichtum und Macht. Ihn lockt nicht das, was andere Menschen begehren. Vielmehr steht der Zaubermantel als Allegorie für eine höhere Dimension der Existenz, in der geistige Bewegung, Erkenntnis und Erfahrung mehr wiegen als gesellschaftliche Stellung.
Zusammenfassend 1122-1125
In diesen vier Versen kondensiert sich ein zentrales Motiv der Faust-Figur: die radikale Weltunzufriedenheit und das Streben nach Grenzüberschreitung. Faust sehnt sich nicht nach Macht, Besitz oder Ruhm – all das lehnt er in der Vorstellung vom »Königsmantel« ab. Stattdessen verlangt er nach einem Werkzeug der metaphysischen Bewegung: der Zaubermantel ist ein Vehikel der Sehnsucht, ähnlich wie die Engelsschwingen in der Mystik oder die Ekstase bei Platon.
Diese Passage verweist auf einen Idealismus jenseits des Irdischen – sie markiert Fausts grundsätzliche Orientierung auf das »Mehr«, das »Andere«, das »Noch-nicht-Seiende«. Damit stellt sich Faust in eine Reihe mit den großen suchenden Figuren der Geistesgeschichte – von Odysseus bis zu Kierkegaards »Ritter des Glaubens«. Seine Ablehnung des Königsmantels ist nicht politisch, sondern erkenntnistheoretisch: Ihn interessiert nicht Herrschaft, sondern Horizonterweiterung, nicht Besitz, sondern Durchdringung des Seins. Das macht seine Tragik wie seine Größe aus.
Wagner.
1126 Berufe nicht die wohlbekannte Schaar,
Wagner warnt Faust davor, sich mit jenen unsichtbaren Mächten einzulassen, die ihm bereits »wohlbekannt« sind – gemeint sind Dämonen, Geister oder andere metaphysische Wesen.
Der Begriff »berufen« steht in direkter Beziehung zum magisch-hermetischen Vokabular der Geisterbeschwörung. In der frühneuzeitlichen Esoterik (z. B. Agrippa von Nettesheim oder Paracelsus) bedeutet das »Berufen« ein aktives Hervorrufen über Worte oder Rituale.
Philosophisch lässt sich dies als Warnung vor der aktiven Grenzüberschreitung deuten – ein Thema, das auch Kant beschäftigt: Der Mensch solle die Grenzen der reinen Vernunft nicht überschreiten, um nicht in spekulativen Dogmatismus zu geraten. Wagner vertritt hier also eine aufklärerisch-skeptische Haltung.
1127 Die, strömend, sich im Dunstkreis überbreitet,
Diese Wesen werden als eine »strömende Schaar« beschrieben – ein Bild, das auf ihre Überfülle und Allgegenwart anspielt. Der Begriff »Dunstkreis« (wörtlich: die Zone zwischen Erde und Himmel) verweist auf ein kosmologisches Weltbild, das in der Antike (z. B. bei Aristoteles) und in der Scholastik weitergetragen wurde.
Der »Dunstkreis« galt als Übergangsraum zwischen Irdischem und Himmlischem, bewohnt von Geistern, Dämonen und meteorologischen Phänomenen.
Mythologisch erinnert das Bild an Schwärme von Dämonen in der gnostischen oder spätantiken Tradition – etwa die Lemuren oder die Geister, die zwischen den Sphären schweben. Literarisch knüpft es an die dämonischen Heerscharen an, die auch in Miltons Paradise Lost oder bei Klopstock (Messias) auftreten.
1128 Dem Menschen tausendfältige Gefahr,
Die »wohlbekannte Schaar« ist nicht nur diffus und unsichtbar, sondern gefährlich: Sie bereitet dem Menschen »tausendfältige Gefahr«.
Das betont die Unüberschaubarkeit und Vielfalt dieser Mächte. Philosophisch steht hier das Motiv der limitation humana, also der Erkenntnis- und Handlungsgrenzen des Menschen, im Zentrum. Wagner warnt vor dem Überschreiten dieser Grenze – im Sinne der stoischen und aufklärerischen Vernunftethik.
Mythologisch findet sich das Motiv auch in der griechischen Vorstellung von Hybris und Nemesis: Wer das göttlich oder dämonisch Verbotene berührt, zieht Strafe auf sich.
Literarisch spiegelt sich das in zahllosen Warnfiguren, etwa Vergils Sibylle, die Aeneas den Abstieg in die Unterwelt nur unter strengen Bedingungen gestattet.
1129 Von allen Enden her, bereitet.
Diese Mächte wirken umfassend – sie kommen »von allen Enden her«, also aus allen Richtungen, aus allen Sphären der Welt.
Kosmologisch ist das ein Hinweis auf eine chaotisch durchwirkte Welt, in der metaphysische Kräfte omnipräsent und gefährlich sind.
Philosophisch könnte man hierin eine vor-aufklärerische, ja beinahe manichäische Weltsicht erkennen: Das Böse ist nicht lokal begrenzt, sondern überall lauernd. Wagner fürchtet diese Allgegenwart – und steht damit im Kontrast zu Fausts Streben, der gerade das Grenzüberschreitende sucht.
Literarisch lässt sich hier ein Echo mittelalterlicher Dämonenvorstellungen hören (z. B. Malleus Maleficarum, Visio Tnugdali), in denen das Böse sich aus allen Richtungen nähert. Auch Dantes Höllenvisionen wirken hier nach.
Zusammenfassend 1126-1129
Philosophisch: Wagners Rede ist von erkenntnistheoretischer Skepsis geprägt. Er warnt vor transzendentalen Spekulationen und der Überschreitung menschlicher Erkenntnisgrenzen – im Sinne Kants, aber auch der stoischen Ethik.
Mythologisch: Die strömende Geisterschar erinnert an antike und mittelalterliche Dämonenbilder, an astrale Wesenheiten zwischen Himmel und Erde – chaotisch, verführerisch und zerstörerisch.
Literarisch: Wagner übernimmt die Rolle des warnenden, rationalen Gegenpols zu Faust, ähnlich wie Mephisto später – jedoch ohne dessen Ironie. Die dämonischen Scharen erinnern an Geisterheere in der klassischen und biblischen Literatur.
1130 Von Norden dringt der scharfe Geisterzahn
»Von Norden« – Die Himmelsrichtung »Norden« wird hier metaphorisch verwendet. In der europäischen Geistesgeschichte (z. B. in mittelalterlicher Kosmologie und auch in der biblischen Symbolik) ist der Norden oft mit Kälte, Dunkelheit, Bedrohung oder barbarischem Einfluss assoziiert. In Goethes Kontext könnte dies die Bedrohung durch kalte Rationalität oder spöttischen Intellekt symbolisieren.
»dringt … herbey« – Das Verb »dringen« evoziert eine aggressive, durchbrechende Bewegung. Etwas Fremdes, vielleicht auch Feindliches nähert sich – gegen den Willen des Betroffenen.
»der scharfe Geisterzahn« – Ein starkes Bild. »Geisterzahn« ist eine metaphorische Zusammensetzung, die nicht wörtlich zu verstehen ist. Sie spielt auf eine geistige oder intellektuelle Kraft an – »Geister-« im Sinne von geistige Kräfte, nicht »Geister« als Spukgestalten. Der »Zahn« suggeriert zugleich Schmerz, Angriff, ein Einbeißen. Die Schärfe intensiviert diese Vorstellung und verweist auf intellektuelle Schärfe, Polemik oder kritische Rationalität.
Wagner beschreibt hier bildhaft eine intellektuelle oder rhetorische Bedrohung, die aus dem »Norden« auf Faust zukommt – wohl als Ausdruck seiner (Wagners) Vorstellung eines feindseligen, spöttischen, rationalen Geistesklimas.
1131 Auf dich herbey, mit pfeilgespitzten Zungen;
»Auf dich herbey« – Wieder wird die Bewegung betont, nun direkter adressiert: Sie richtet sich gegen Faust. Wagner warnt oder beklagt, dass diese feindlichen, geistigen Kräfte Faust direkt treffen werden.
»pfeilgespitzte Zungen« – Eine eindrückliche Metapher: Die Zunge als Organ des Sprechens steht hier für Sprache, Rede, Rhetorik. In Kombination mit »pfeilgespitzt« wird Sprache zu einer Waffe. Das Bild ist zugleich poetisch und aggressiv: Rede als Waffe, als gezielter Angriff, der verletzt. Die Vorstellung erinnert an Sprichwörter wie »die Zunge ist schärfer als ein Schwert«.
Wagner beschreibt hier die Bedrohung durch scharfe, angreifende Rhetorik – möglicherweise durch Kritiker, Spötter oder ketzerische Intellektuelle. Der Fokus liegt auf einer Welt, in der Sprache nicht zur Erkenntnis, sondern zur Zerstörung eingesetzt wird.
Zusammenfassend 1130-1131
Diese beiden Verse geben Einblick in Wagners geistige Welt – und durch Kontrast auch in Fausts innere Zerrissenheit:
Wagner fürchtet die Macht der Sprache als destruktives Werkzeug. Er sieht in der geistigen Auseinandersetzung keinen Weg zur Wahrheit, sondern eine Bedrohung. Der »Geisterzahn« ist für ihn nicht kreativ oder erleuchtend, sondern zerstörerisch – eine Art intellektuelle Kälte oder Skepsis, die Menschen »zernagt«.
Sprache wird hier nicht als Medium der Wahrheit, sondern als Mittel der Verunsicherung und Auflösung erfahren. Dies steht im Gegensatz zu Fausts Streben nach einer lebendigen, ganzheitlichen Erkenntnis, die über bloße Begriffe hinausgeht.
Philosophisch steht hier also die Frage im Raum, wie intellektuelle Erkenntnis und Sprache in der modernen Welt erlebt werden:
Ist das Denken ein lebendiger Weg zur Wahrheit (wie bei Faust)?
Oder ist es eine kalte, zerstörerische Macht, die das Leben untergräbt (wie Wagner befürchtet)?
Fazit
Diese Verse stellen die Ambivalenz des »Geistes« dar – sowohl im aufklärerischen als auch im romantischen Sinne: Geist als Lichtquelle oder als destruktiver Zahn. Die Rhetorik selbst wird zur ethischen und erkenntnistheoretischen Herausforderung.
1132 Von Morgen ziehn, vertrocknend, sie heran,
Wagner beschreibt hier den Tagesverlauf der »Geister«, die Faust zuvor erwähnt hat. Er gibt sich aufgeklärt und rational, glaubt nicht an das Übersinnliche und interpretiert die von Faust gespürten Kräfte (Geister, Dämonen, Visionen) naturwissenschaftlich: Als Nebel oder Dünste, die am Morgen »heranziehn«. Die Formulierung »vertrocknend« deutet darauf hin, dass sie mit dem Tageslicht an Kraft verlieren oder sich verflüchtigen. Diese Erklärung reduziert das mystische Erlebnis auf ein meteorologisches Phänomen und steht im klaren Kontrast zu Fausts metaphysischer Sehnsucht.
1133 Und nähren sich von deinen Lungen;
Wagner setzt seine materialistische Deutung fort: Die »Dünste« (oder vermeintlichen Geister) scheinen sich vom Atem des Menschen zu nähren. Das Bild ist grotesk: Als würden unsichtbare Wesen beim Atmen in uns eindringen und dadurch existieren. In seiner Weltanschauung bedeutet das aber eher: Die Sinnestäuschungen oder Empfindungen (die Faust als metaphysische Erscheinungen wahrnimmt) entstehen physiologisch durch Wechselwirkungen zwischen Körper und Umwelt, speziell durch das Atmen. Die Lunge, als Organ der Verbindung von Innen- und Außenwelt, wird hier zum Sitz eines mechanistischen Geschehens, nicht eines geistigen.
Zusammenfassend 1132-1133
Diese beiden Verse sind ein Schlüssel zur Gegensätzlichkeit zweier Denkweisen, die Goethe exemplarisch in Faust und Wagner gegenüberstellt:
1. Materialismus vs. Metaphysik
Wagner steht für einen aufklärerisch-rationalistischen, mechanistischen Weltzugang, wie ihn der Positivismus und der frühe Empirismus vertreten: Alles lässt sich physikalisch erklären, das Geistige ist eine Funktion des Materiellen. »Geister« sind demnach nichts anderes als verdampfende Feuchtigkeit, die durch Einatmung auf das Bewusstsein wirken.
2. Entmythologisierung des Daseins
Wagners Sicht ist symptomatisch für das entzauberte Weltbild der Moderne. Der Zauber, den Faust sucht, wird hier durch wissenschaftliche Rationalität ersetzt. Damit wird das Erhabene, das Faust meint zu erleben, auf einen biologischen Reiz reduziert – ein klassischer Fall von Reduktionismus.
3. Das Verhältnis von Innen- und Außenwelt
Die Lunge als Metapher betont die Durchlässigkeit des Ichs gegenüber der Welt. Wagner sieht darin einen einseitigen Prozess (Einwirkung von außen auf das Ich), während Faust das Ich als aktiv suchend, leidend, transzendierend versteht. Dies berührt tiefere Fragen der Bewusstseinsphilosophie: Ist der Mensch passives Produkt äußerer Reize oder ein aktives, geistiges Wesen?
4. Kritik an eindimensionaler Aufklärung
Indem Goethe Wagner diese Zeilen in den Mund legt, kritisiert er unterschwellig eine zu enge Auslegung wissenschaftlichen Denkens, das das Wunder, das Geheimnisvolle, das Uneinholbare des Daseins ausblendet. Fausts Suche hingegen verlangt nach einer umfassenderen Erkenntnis, die über das Messbare hinausgeht.
1134 Wenn sie der Mittag aus der Wüste schickt,
Wagner spricht hier von der Mittagshitze, die aus der »Wüste« kommt – ein starkes Bild für extreme, lebensfeindliche Naturkräfte. Die Vorstellung ist biblisch und symbolträchtig: Die Wüste steht in der christlich-abendländischen Tradition oft für Prüfung, Einsamkeit und geistige Läuterung (etwa Jesu Versuchung in der Wüste). Dass die Mittagshitze »geschickt« wird, klingt fast wie ein gerichtetes Strafgericht der Natur oder göttliche Prüfung. Auch wird eine gewisse Personifizierung des »Mittags« angedeutet, als handle es sich um eine Macht, die aktiv agiert. Für Wagner jedoch hat dies keinen spirituellen Gehalt – es ist eher Ausdruck der realistischen, nüchternen Weltwahrnehmung, die er Faust entgegensetzt.
1135 Die Glut auf Glut um deinen Scheitel häufen,
Hier steigert sich das Bild ins Extrem: Glut wird auf Glut gehäuft, also eine zunehmende Intensivierung von Hitze und Leiden. »Scheitel« meint ursprünglich den Scheitelpunkt des Hauptes, aber auch im übertragenen Sinn den Höhepunkt einer Belastung. Die Vorstellung ist, dass die brennende Hitze sich wie ein drückendes Gewicht auf den Kopf des Menschen legt. Das Bild evoziert nicht nur physische Qual, sondern auch geistige Erschöpfung oder innere Glut, ohne jedoch – wie bei Faust – spirituelle oder existenzielle Dimensionen zu erreichen. Wagner verwendet diese drastischen Naturbilder, um Fausts unstillbaren Erkenntnisdrang zu relativieren: Selbst solche Erfahrungen (wie Faust sie ersehnt) seien nichts als schmerzhafte Selbstüberforderung.
Zusammenfassend 1134-1135
Diese Verse sind Teil von Wagners Versuch, Fausts Streben zu rationalisieren und zu disziplinieren. Philosophisch gesehen repräsentiert Wagner die Haltung des aufklärerisch-rationalen Weltbilds: Der Mensch soll sich mit Maß, Vernunft und Wissen begnügen – und extreme Erfahrungen meiden. In dieser Passage argumentiert Wagner implizit gegen das existentielle Verlangen Fausts, sich ins Absolute zu stürzen.
Die Natur – hier in Form der sengenden Mittagshitze – ist für Wagner nicht mythisch oder spirituell durchdrungen, sondern eine gefährliche Realität, der man sich besser nicht aussetzt. Während Faust in der Glut der Erfahrung Reinigung, Erkenntnis oder Transzendenz sucht, sieht Wagner darin nur destruktive Überforderung. Damit lehnt Wagner – wenn auch höflich – eine metaphysisch-experimentelle Existenzweise ab.
Zugleich spiegelt sich in dieser Stelle ein Konflikt zwischen zwei philosophischen Positionen:
Rationalismus/Wissenschaftlichkeit (Wagner):
Erkenntnis erfolgt durch geordnetes Denken, Studium und Selbstbegrenzung.
Existenzialismus/Erfahrungsdrang (Faust):
Wahres Wissen verlangt Grenzüberschreitung, Schmerz und metaphysische Risiken.
Goethe stellt diesen Gegensatz nicht moralisierend dar, sondern lässt beide Stimmen ernsthaft erklingen. In Wagners Bildsprache liegt eine gewisse Sorge: Er ahnt, dass Fausts Streben gefährlich werden könnte – für ihn selbst, aber auch für die Ordnung, die Wagner verteidigt.
1136 So bringt der West den Schwarm, der erst erquickt,
Wagner spricht hier vom Westwind, der zunächst als lebensspendend empfunden wird. Das Wort »erquickt« deutet auf eine belebende, erfrischende Wirkung hin – gemeint ist wohl der sanfte Frühlingswind, der Natur und Menschen aufatmen lässt. Doch in diesem Lob liegt schon ein ambivalenter Unterton: Der »West« bringt auch den »Schwarm«, was einerseits auf Insekten (z. B. Mücken oder Fliegen) hindeuten könnte, andererseits metaphorisch auf eine Menschenmenge, eine Plage oder eine Naturgewalt. Die Doppeldeutigkeit verweist auf eine Natur, die ambivalent ist: sie schenkt Leben – und ist doch auch bedrohlich.
1137 Um dich und Feld und Aue zu ersäufen.
Hier folgt die dramatische Kehrseite: Der vorher noch »erquickende« Wind treibt jetzt Wassermassen oder gar eine Sturmflut (»Schwarm« nun verstanden als Regenfront oder Naturgewalt) heran, die alles »ersäuft« – also untergehen lässt. Die Aufzählung »dich und Feld und Aue« zeigt die Totalität dieser drohenden Vernichtung: nicht nur der Mensch ist betroffen, sondern auch die fruchtbare Natur (Aue: grüne Wiesenlandschaft). Die Bedrohung richtet sich gegen das Leben selbst. Es schwingt ein biblischer Ton mit – wie bei der Sintflut –, aber zugleich eine naturwissenschaftlich-rationale Beobachtung: Alles ist dem Wechselspiel der Elemente unterworfen.
Zusammenfassend 1136-1137
Diese beiden Verse verdichten ein zentrales Thema Goethes: die Ambivalenz der Natur. Was zuerst als vital und wohltuend erscheint, kann sich unversehens in sein Gegenteil verkehren. Der Westwind als Bild für Erneuerung, Aufbruch und Lebenskraft wird zugleich zum Träger der Zerstörung. Wagner – als Vertreter des nüchternen Gelehrtentums – sieht in der Natur keine höhere Harmonie, sondern einen mechanistischen Kreislauf von Aufbau und Zerstörung.
Zugleich lassen sich diese Verse als Kontrast zu Fausts Sicht deuten: Während Faust nach transzendenter Bedeutung sucht und sich mit metaphysischen Fragen nach Sinn und Erlösung quält, bleibt Wagner auf der Ebene empirischer Beobachtung und resignativer Rationalität. Für ihn bringt das Leben keine Erlösung, sondern bestenfalls eine nüchterne Erkenntnis der Unberechenbarkeit und Gefährlichkeit der Natur.
Auch steckt eine implizite Kritik an Fortschrittsdenken und naivem Optimismus in dieser Aussage: Was als Fortschritt oder Wohltat erscheint, kann schnell ins Destruktive kippen. Das ist nicht nur naturphilosophisch relevant, sondern auch kulturgeschichtlich: Der Mensch lebt in einem Spannungsfeld von Hoffnung und Bedrohung – ein zentrales Motiv des ganzen »Faust«.
1138 Sie hören gern, zum Schaden froh gewandt,
Wagner beschreibt hier das Volk – also die einfachen Leute, die sich auf dem Osterspaziergang versammelt haben – als empfänglich für Reden, die ihnen zwar gefallen, aber letztlich schädlich sind.
»Sie hören gern«: Das Volk ist leicht zu begeistern, es konsumiert Reden, Theater oder Predigten bereitwillig.
»zum Schaden froh gewandt«: Der Ausdruck ist paradox – sie wenden sich Dingen zu, die ihnen schaden, aber in einer Weise, die sie als erfreulich empfinden. Die Formulierung deutet eine tiefere Kritik an: Das Volk sei naiv oder selbstzerstörerisch geneigt, sogar das Schädliche als erfreulich aufzunehmen – etwa schmeichelhafte Lügen, ideologische Illusionen oder rhetorisch verpackte Demagogie.
Wagners Aussage zeigt sein skeptisches, rationalistisches Menschenbild: Er sieht im Menschen ein leicht zu täuschendes Wesen, das sich lieber blenden lässt als sich mit Wahrheit zu konfrontieren.
1139 Gehorchen gern, weil sie uns gern betrügen;
Auch dieser Vers lebt von einer paradoxen Umkehrung.
»Gehorchen gern«: Das Volk unterwirft sich freiwillig der Autorität – sei es der Kirche, der Wissenschaft oder der staatlichen Ordnung.
»weil sie uns gern betrügen«: Diese Unterwerfung ist jedoch nicht Ausdruck von Vertrauen oder Tugend, sondern Teil eines Spiels: Das Volk gehorcht nicht aus Überzeugung, sondern um die Oberen (wie Wagner selbst) in falscher Sicherheit zu wiegen – sie »betrügen« durch Schein-Gehorsam, schmeicheln, um sich Vorteile zu erschleichen oder Verantwortung abzuwälzen.
Wagner zeichnet ein Bild von doppelbödiger Machtbeziehung: Die Herrschenden glauben, Gehorsam zu genießen, während die Beherrschten mit Täuschung und Verstellung arbeiten. Hier zeigt sich eine fast machiavellistische Anthropologie: Das Verhältnis zwischen Führenden und Geführten beruht auf gegenseitigem Missverständnis und Täuschung.
Zusammenfassend 1138-1139
1. Anthropologischer Pessimismus:
Wagner äußert ein grundsätzlich negatives Menschenbild. Er sieht den Menschen nicht als aufgeklärtes, moralisches Wesen, sondern als oberflächlich, leicht verführbar und intrinsisch manipulativ. Damit steht er im Gegensatz zu Fausts tieferem Existenzdrang und idealistischer Sehnsucht.
2. Spannung zwischen Wahrheit und Wirkung:
Wagner glaubt, dass das Volk nicht an der Wahrheit interessiert ist, sondern an dem, was gefällig und bequem ist. Dies erinnert an die sokratische Unterscheidung zwischen Doxa (Meinung) und Aletheia (Wahrheit), sowie an Platons Kritik an der Rhetorik der Sophisten, die ebenfalls das Angenehme über das Wahre stellen.
3. Machtkritik und Illusion:
Trotz seiner elitären Haltung erkennt Wagner, dass die Macht der Intellektuellen trügerisch ist: Wer glaubt, durch Wissen oder Reden Einfluss zu haben, wird selbst getäuscht. Das Verhältnis von Redner und Zuhörer ist kein einseitiges, sondern ein wechselseitiges Spiel von Kontrolle und Illusion.
4. Goethes Kritik an bloßer Gelehrsamkeit:
Indem Goethe diese Aussage Wagner in den Mund legt, karikiert er zugleich den trockenen, belehrenden Typus des Gelehrten, der glaubt, alles durchschauen zu können, dabei aber die Tiefe der menschlichen Existenz verkennt. Wagner sieht nur Manipulation, nicht Sehnsucht, nicht Gnade, nicht Liebe.
Fazit
Diese beiden Verse stellen ein Schlüsselstück in Wagners Weltbild dar. In ihnen kulminiert seine Rationalität in Menschenverachtung, sein Glaube an Bildung in Misstrauen gegen das Volk. Goethe kontrastiert hier das intellektuelle Sicherheitsdenken Wagners mit Fausts radikaler innerer Suche – was das zentrale Spannungsfeld des ganzen Dramas bildet.
1140 Sie stellen wie vom Himmel sich gesandt,
»Sie stellen« bedeutet hier: sie geben sich aus, sie tun so, als ob. Wagner spricht von bestimmten Personen – gemeint sind Dichter, vielleicht auch schwärmerische Idealisten oder »Volksverführer« –, die sich eine überhöhte Rolle anmaßen.
»wie vom Himmel sich gesandt« evoziert religiöse und göttliche Konnotationen. Die Angesprochenen geben sich den Anschein, als ob sie eine göttliche Mission erfüllten, gleichsam als »Gesandte des Himmels«. Dies verleiht ihrem Auftreten eine quasi-messianische oder prophetische Aura – sie erscheinen als Autoritäten »von oben«, obwohl sie es nicht sind.
Wagner kritisiert die Wirkung dieser Menschen auf das Volk. Er hält sie für Blender, die mit übernatürlicher Attitüde auftreten, um andere zu beeindrucken oder zu täuschen. Er selbst ist Rationalist und Gelehrter – seine Skepsis gegenüber dem Pathos, der Emotionalität und dem Inspirierten (wie es z.B. Faust verkörpert) ist hier spürbar. Er vertraut nur dem klaren Denken, nicht dem Eindruck oder Gefühl.
1141 Und lispeln englisch, wenn sie lügen.
»lispeln« ist ein negativ konnotiertes Verb: Es klingt schwach, heimlich, verschleiernd – es suggeriert Unaufrichtigkeit oder Koketterie.
»englisch« im frühneuhochdeutschen Sinne bedeutet nicht in englischer Sprache, sondern wie ein Engel (vgl. auch »Engelszunge«, »engelsgleich«).
»wenn sie lügen« ist der Schlüsselmoment: Sie sprechen süß, schmeichelnd, beinahe himmlisch – aber in Wahrheit lügen sie. Die Lüge wird also nicht aggressiv oder offen verkündet, sondern verschleiert durch Schönheit, durch anmutige Sprache, durch den Eindruck moralischer oder spiritueller Autorität.
Wagner denunziert hier rhetorische Verführung: Menschen, die durch sprachliche Schönheit (das »englische Lispeln«) ihre Lügen tarnen. Die Wahrheit wird damit zur Frage der Darstellung – ein zentrales Motiv in Faust insgesamt. Auch der Teufel lügt nicht plump, sondern schmeichelnd. Insofern hat dieser Vers eine vorwegnehmende Funktion: Er kündigt an, was später in Mephistos Reden eine Rolle spielen wird.
Zusammenfassend 1140-1141
Diese beiden Verse zeigen exemplarisch Wagners nüchterne, aufklärerisch-rationale Weltsicht – und sie werfen zentrale Fragen auf:
1. Schein vs. Sein:
Wagner unterscheidet nicht zwischen Wahrheit und Lüge durch ihren Inhalt, sondern durch den Stil der Darbietung. Was schön klingt, ist ihm verdächtig. Wahrheit wird entzaubert – es zählt nur die Substanz, nicht der Eindruck.
2. Misstrauen gegenüber Inspiration:
Die Kritik an »vom Himmel Gesandten« betrifft auch den dichterischen Genius, den Schwärmer oder Prophetentyp. Dies steht in direktem Kontrast zu Fausts Suche nach dem Göttlichen im Irdischen. Wagner stellt das rationale, akademisch korrekte Denken über jede Art von Intuition oder Erleuchtung.
3. Sprache als Mittel der Täuschung:
Sprache kann Wahrheit verschleiern, nicht nur vermitteln. Diese Erkenntnis zieht sich durch das ganze Drama und wird in Mephistos Figur kulminieren. Wagners Argwohn ist eine Vorform der Sprachkritik, wie sie später Nietzsche oder Wittgenstein in unterschiedlicher Weise thematisieren werden.
4. Frühaufklärung gegen Romantik:
Wagner steht mit diesen Versen für die skeptische Tradition der Aufklärung, die Pathos und Schwärmerei als Bedrohung der Vernunft sieht. Seine Haltung kündigt den inneren Konflikt an, den Faust mit sich selbst austrägt – zwischen nüchterner Wissenschaft und metaphysischer Sehnsucht.
1142 Doch gehen wir! ergraut ist schon die Welt,
»Doch gehen wir!«
Wagner schlägt aktiv vor, sich auf den Heimweg zu machen. Das »Doch« ist ein einschränkendes Signal – möglicherweise eine Reaktion auf vorherige Bemerkungen oder Stimmungen. Es klingt pragmatisch und nüchtern, ganz im Geiste seiner Figur: rational, ordentlich, auf Sicherheit bedacht.
»ergraut ist schon die Welt«
Ein bildhafter Ausdruck für den Übergang vom Tag zur Dämmerung. Das Tageslicht schwindet, die Farben verblassen – die Welt erscheint »ergraut«. Die Formulierung ist mehr als nur meteorologisch: Sie kann auch als Metapher für Vergänglichkeit und das Altern gelesen werden. Wagner erkennt dies jedoch nur als äußeres Phänomen, ohne es existenziell zu vertiefen.
1143 Die Luft gekühlt, der Nebel fällt!
Eine sinnliche Beschreibung der heraufziehenden Nacht. Wagner registriert das kälter werdende Wetter und den sinkenden Nebel – Zeichen für das Nahen der Dunkelheit.
Auch hier wird Naturbeobachtung nicht zur Meditation über das Sein, sondern bleibt funktional: Die Atmosphäre wird für den Heimweg unangenehm, das ist alles, was Wagner daraus folgert. Es fehlt jegliche transzendente oder symbolische Tiefendimension – ganz im Gegensatz zu Fausts Wahrnehmung der Natur.
1144 Am Abend schätzt man erst das Haus.
Hier spricht Wagner ein bürgerliches Lebensgefühl aus: Der Wert des Hauses, also der Geborgenheit, Sicherheit und Ordnung, wird erst nach einem Tag in der Außenwelt richtig gewürdigt.
Das Haus steht für das Feste, Verlässliche, Eingeschlossene – im Gegensatz zur offenen, veränderlichen, ja auch bedrohlichen Natur draußen. Es ist ein Bekenntnis zur Sesshaftigkeit und zur Geborgenheit im Innenraum.
Diese Haltung ist exemplarisch für den philiströsen Charakter Wagners: Er sieht keinen Reiz im Draußen, keine metaphysische Herausforderung, sondern nur Unbequemes. Die Welt ist ihm kein Geheimnis, sondern ein Ort, den man zeitig verlassen sollte.
Zusammenfassend 1142-1144
Wagners drei Verse stehen sinnbildlich für eine bürgerlich-aufklärerische Weltsicht, die auf Rationalität, Nützlichkeit und Sicherheit ausgerichtet ist. In ihnen artikuliert sich:
1. Ablehnung des metaphysischen Fragens:
Die Welt wird ausschließlich in physischen, äußerlich wahrnehmbaren Kategorien beschrieben (ergraut, gekühlt, Nebel) – es fehlt jegliche existenzielle Tiefenschärfe. Wagners Blick ist rein phänomenologisch, nicht ontologisch.
2. Bevorzugung des Hauses (der Innenwelt) gegenüber der offenen Natur:
Während Faust in der Natur den Drang nach Erkenntnis und Transzendenz erfährt, sucht Wagner die Zuflucht im Gewohnten, im geregelten Dasein, im »Haus«. Es steht für eine Lebensform, die Risiken und metaphysische Abenteuer meidet.
3. Zeitverständnis und Vergänglichkeit:
Das »Ergrauen« der Welt kann als Hinweis auf die Zeitlichkeit menschlicher Existenz gelesen werden. Doch Wagner bleibt an der Oberfläche – für ihn ist es schlicht der Moment, heimzukehren. Damit verkörpert er eine Verdrängung der Tiefe des Daseins, wie sie Faust umtreibt.
4. Kontrast zu Fausts Streben:
Wagner ist der Gegenpol zu Faust: Während Faust an der Oberfläche der Erscheinungen leidet und nach dem innersten Grund der Dinge forscht, begnügt sich Wagner mit dem, was sich sehen, messen und fühlen lässt. Er verkörpert das saturierte, selbstzufriedene Bewusstsein, das Goethe nicht idealisiert, sondern kritisch ins Spiel bringt.
Fazit
Diese drei scheinbar einfachen Verse geben dem Leser ein präzises Psychogramm Wagners: Er ist der Mensch, der den Abend nicht als Schwelle zum Geheimnisvollen begreift, sondern als Signal, die Tür zu schließen. In ihnen wird Goethes Kritik an einer geistig verengten, nur empirisch-rationalen Weltauffassung deutlich. Wagner lebt in der Welt – Faust aber sucht das Sein.
Vers 1145 Was stehst du so und blickst erstaunt hinaus?
Wagner spricht Faust direkt an und bemerkt dessen ungewöhnliches Verhalten. Die Formulierung ist auffällig konkret: »stehst du so« verweist auf eine plötzliche Bewegungslosigkeit, eine kontemplative Haltung. Das »erstaunte« Hinausblicken legt nahe, dass Faust von etwas draußen — sei es die Natur, die untergehende Sonne oder das Treiben der Welt — tief bewegt ist. Wagner scheint irritiert, weil ihm die seelische Regung, die Faust überkommt, fremd bleibt. Das Verb »erstaunt« lässt zudem auf eine Mischung aus Staunen, Faszination und innerer Bewegung schließen – Gemütslagen, die dem nüchtern-rationalen Wagner schwer nachvollziehbar sind.
1146 Was kann dich in der Dämmrung so ergreifen?
Wagner wiederholt seine Verwunderung in anderer Form, wobei der Ausdruck »in der Dämmrung« eine doppelte Bedeutung trägt: Zum einen beschreibt er den realen Tageszeitpunkt – die Abenddämmerung –, zum anderen verweist er symbolisch auf einen Zwischenzustand, eine Übergangsphase zwischen Licht (Erkenntnis, Tag, Vernunft) und Dunkelheit (Nacht, Gefühl, Unbewusstes). Die Frage »Was kann dich ... ergreifen?« zeigt, dass Wagner Ergriffenheit – eine seelische Tiefe oder intuitive Erleuchtung – nicht aus eigenem Erleben kennt. Er denkt in rationalen Bahnen und sucht nach einer Ursache, einem Gegenstand, das »etwas« Faust ergreifen müsse. Fausts momentaner Zustand aber ist eben nicht objektgebunden, sondern ein Ausdruck seiner metaphysischen Sehnsucht, seiner existenziellen Unruhe. Das bleibt Wagner verschlossen.
Zusammenfassend 1145-1146
Diese beiden Verse spiegeln den grundlegenden Gegensatz zwischen zwei erkenntnistheoretischen und anthropologischen Haltungen:
1. Rationalismus vs. Existenzialismus/Mystik:
Wagner verkörpert die rationale, bürgerlich-gelehrte Denkhaltung, die in Kausalitäten und empirischen Beobachtungen denkt. Für ihn muss es einen greifbaren Grund geben, warum jemand in der Dämmerung »ergriffen« ist. Faust hingegen erlebt hier einen Moment existenzieller Offenheit – eine ahnende Ahnung, eine mystische Sehnsucht, die sich nicht begründen lässt. Dieser Moment der »Ergriffenheit« ist Ausdruck einer transzendentalen Dimension der Erfahrung, die über Sprache und Logik hinausgeht.
2. Begrenztheit der Gelehrsamkeit:
Goethes Darstellung zeigt, dass bloße Bildung – wie Wagner sie repräsentiert – nicht zur Wahrheit oder Sinnfindung führt. Die Ergriffenheit Fausts verweist auf ein tieferes Verständnis des Menschseins, das Gefühl, Intuition und Offenheit für das Geheimnisvolle einschließt.
3. Symbolik der Dämmerung:
Die Dämmerung steht im ganzen Werk Faust oft für Schwellenmomente: Sie ist weder Tag noch Nacht, sondern der Übergang – ein »Zwischenzustand«, der dem Menschen tiefe Einblicke ermöglichen kann. Es ist eine Zeit der Offenheit, der seelischen Instabilität, aber auch der spirituellen Chance. Wagner erkennt diese Qualität nicht; Faust spürt sie zutiefst.
4. Ergriffenheit als Zugang zur Wahrheit:
Während Wagner nach äußeren Gründen sucht, erlebt Faust einen Zustand, der an eine mystische Erfahrung erinnert – ähnlich wie in Meister Eckharts »Gelassenheit« oder der Erfahrung der Unio mystica. Die Frage, was einen in der Dämmerung »ergreifen« könne, stellt sich für Faust nicht in rationaler Form – er ist bereits von etwas Höherem ergriffen.