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Der Tragödie Erster Theil

Vor dem Thor. (3)

Soldaten.
Burgen mit hohen884
Goethe eröffnet mit dem stolzen Bild wehrhafter Burgen. Das Adjektiv »hohen« evoziert Überlegenheit und Unbezwingbarkeit. Semantisch legt der Vers das Beute- und Ruhmesziel fest: militärische Macht demonstrieren, Höhen erklimmen. Metrisch setzt ein kraftvoller Auftakt (Trochäus), der die marschartige Klangkulisse der Szene betont.

Mauern und Zinnen,885
Die Aufzählung (Asyndeton: Verzicht auf »und« vor »Zinnen« wurde hier schon durch Komma ersetzt) konkretisiert die Burgen. »Mauern« stehen für Schutz, »Zinnen« für Angriffs- wie Verteidigungsarchitektur. Gemeinsam bilden sie ein Sinnbild des Widerstands, den es zu durchbrechen gilt. Die Alliteration Mauern – mit (aus vorigem Vers) verstärkt die akustische Wucht.

Mädchen mit stolzen886
Die Perspektive wechselt abrupt von Architektur zu Erotik. »Mädchen« fungieren hier als Trophäen des Siegers. Das Adjektiv »stolzen« spiegelt Selbstbewusstsein und vielleicht anfängliche Unnahbarkeit der Frauen - genau das reizt die Soldaten. Die Parallelität zu »Burgen mit hohen« (gleiche Wortstellung) verknüpft Eroberungskrieg und Liebeseroberung.

Höhnenden Sinnen887
Das Adjektiv »höhnenden« führt eine aggressive Note ein: Die begehrten Frauen scheinen Spott für den Werber übrigzuhaben. »Sinnen« (Gefühle, Gedanken, v. a. erotische Begierde) personifizieren ein inneres Bollwerk, das der Soldat überwinden will. Klanglich erzeugt die Alliteration Höhnenden – Sinnen zusammen mit dem vorigen stolzen eine harsche, staccatoartige Lautfolge, die den Kampfcharakter betont.

Möcht’ ich gewinnen!888
Der Ausruf fasst das Begierden-Doppelziel (Burg & Mädchen) zusammen. Das Personalpronomen »ich« individualisiert plötzlich den Chor, lässt aber zugleich jede einzelne Stimme sprechen. Das Modalverb »möcht’« verleiht dem Wunsch noch einen Hauch von Sehnsucht statt bloßer Prahlerei, während »ge-win-nen« das Motiv des Sieges final bekräftigt. Der Ausrufungscharakter liefert den klanglichen Schluss eines kleinen, in sich geschlossenen Feldherrn-Liedes.
Zusammenfassend 884-888
«Soldaten.»
Funktion: Regie‑ bzw. Sprecherangabe; markiert einen abrupten Rollenwechsel im Stimmen‑Gemisch.
Wirkung: Mit nur einem Wort evoziert Goethe ein ganzes Klangbild: Trommeln, Marschtritt, frische Abenteuerlust. Der Leser »hört« förmlich, dass gleich ein rauher Ton anschwillt.
Die fünf Verse werden von einer Gruppe Soldaten gesungen, während das großstädtische Publikum am Ostersonntag ins Freie zieht. Der Chor spiegelt das Idealbild soldatischer Abenteuerlust und Eroberung – ein Kontrast zu Fausts eigener innerer Unruhe.
Sie bündeln militärische und erotische Eroberungsfantasien in einer kompakten, leichthändig schaltenden Bildfolge. Goethe zeichnet damit:
Zeitkolorit – Soldaten als Teil des bunten Jahrmarkts vor den Stadttoren.
Kontrastfolie – Ihre klare Zielgerichtetheit (»gewinnen«) steht Fausts existenzieller Rastlosigkeit entgegen.
Doppelte Symbolik – Burg = äußere, Mädchen = innere Bastion; beide sollen bezwungen werden.
Metrisch dominiert der vierhebige Trochäus, dessen fallender Rhythmus dem Marschcharakter entspricht und die Publikumsszene akustisch strukturiert. So erscheint der Soldatenrefrain als lustvoll-brüskes »Gegenlied« zu den wehmütigen oder frommen Tönen anderer Gruppen (»Bürger«, »Junges Volk«, »Bettler«) – und macht die Vielfalt menschlicher Lebensentwürfe deutlich, die um Faust herum erklingen.

Kühn ist das Mühen,889
Sprecher : Die Soldaten treten in »Vor dem Tor« als eigene chorische Gruppe auf. Damit kontrastieren sie die Stimmen der Bürger und Handwerker, die eher beschaulich‑bürgerliche Werte vertreten.
Syntax & Wortstellung : Die kopulative Umkehr (»Kühn ist das Mühen« statt »Das Mühen ist kühn«) lenkt die Aufmerksamkeit sofort auf das Adjektiv »kühn«. Goethe nutzt die Inversion, um die Qualität (»Kühnheit«) noch vor das Subjekt zu stellen – ein klassisches Mittel der emphatischen Hervorhebung.
Semantik : »Mühen« steht hier für das kriegerische Unterfangen selbst, also das riskante Soldatenleben. »Kühn« signalisiert Mut und Angriffslust – Tugenden, die im Militärischen hochgehalten werden.
Klang & Metrum : Die Zeile ist, wie weite Teile des Dialoges, im freien Knittelvers gehalten (vier betonte Silben, gereimter Paarvers mit Halbfreiheiten). Die harten Plosive k und m / t geben dem Vers einen markigen, militärischen Rhythmus.
Bedeutung im Kontext : Gleich zu Beginn ihres Auftritts setzen die Soldaten das Thema »Wagnis« gegen die häusliche Sicherheit der vorangegangenen Sprecher. Damit leitet Goethe den Gegensatz »bürgerliche Ruhe ↔ soldatische Tat« ein.

Herrlich der Lohn!890
Parallelismus : Struktur und Länge spiegeln exakt den ersten Vers, was die beiden Halbsätze als feste, leicht erinnerbare Devise kennzeichnet.
Steigerung : Nach dem Attribut »kühn« folgt die Bewertung des Ergebnisses: »herrlich«. Die positive Steigerung (»kühn« → »herrlich«) bekräftigt, dass jede Gefahr lohnenswert ist.
Elliptische Knappheit : Das Prädikat (»ist«) fehlt, wird aber aus der ersten Zeile mitgehört. Diese Ellipse beschleunigt den Rhythmus und erzeugt Schlagkraft – fast wie ein militärischer Zuruf.
Ideologischer Kern : Der Vers kondensiert soldatisches Selbstverständnis: hohe Einsatzbereitschaft wird mit Ehre, Beute oder gesellschaftlicher Anerkennung entgolten. Goethe stellt damit ein Werbemotto für den Krieg vor – zugleich wirkt es, im ländlichen Osterspaziergang angesiedelt, leicht ironisch.
Dialogischer Kontrast : Kurz darauf beklagen die Handwerksburschen ihre wirtschaftliche Unsicherheit, während die Soldaten ihre »herrliche« Belohnung besingen. Goethe kontrastiert so materielle Not und militärische Verheißung und lässt den Leser die Ambivalenz solcher Verlockungen spüren.
Zusammenfassend 889-890
Mit nur neun Wörtern zeichnet Goethe ein ebenso prägnantes wie propagandistisches Programm: Risiko wird glorifiziert, die Belohnung verabsolutiert. Formale Strenge (symmetrische Bauweise, End‑/Stabreime), rhetorische Verdichtung und der pathetische Ausruf schaffen ein einprägsames Schlagwort, das die Faszination des Kriegerischen offenlegt – und zugleich durch seine Überzeichnung subtil hinterfragt.

Und die Trompete891
Goethe legt gleich zu Beginn den Klang‐ und Bedeutungsraum fest:
Trompete ruft Assoziationen an Schlachtfeld, Fanfare und festliche Signale hervor.

Lassen wir werben892
lassen wir werben spielt doppelt: »werben« bedeutet (1) anwerben / rekrutieren und (2) umwerben, d. h. faszinieren. Die Soldaten sind sich der verführerischen Kraft des Militärs bewusst – sie »lassen« das Instrument für sich sprechen, fast als hätten sie keine eigene Entscheidungsfreiheit.
Metrisch handelt es sich um einen vierhebigen, leicht knittelversartig klingenden Jambus, der dem Marschrhythmus ähnelt und das Militärische klanglich untermauert.

Wie zu der Freude,893
Das Wie eröffnet einen Vergleich: Die Trompete dient nicht nur dem Krieg, sondern kann auch Freude stiften (paraden, Siege feiern, Feste begleiten).
Semantisch baut der Vers einen Erwartungshorizont auf – Marschmusik als etwas Positives, Belebendes.
In der Szene »Vor dem Tor« (Ostersonntag!) ergänzt diese Zeile die Ambivalenz zwischen österlicher Freude des Volkes und der Präsenz des Militärs.

So zum Verderben.894
Das anschließende So vollendet den Vergleich und kippt ihn ins Gegensätzliche: derselbe Klang, der Freude verkündet, führt auch ins Unheil.
Verderben ist ein starkes, final klingendes Wort; es schließt den Vergleich ab und lässt keinen Zweifel an der tödlichen Konsequenz.
Klanglich bilden Freude und Verderben einen harten Gegensatz von hellem »eu« zu dumpfem »er«, was die semantische Spannung auditiv verstärkt.
Zusammenfassend 891-894
Zusammen bilden die Zeilen eine rhetorische Antithese (»Freude ↔ Verderben«), die das zentrale Motiv der militärischen Verlockung entlarvt: Begeisterung und Zerstörung sind untrennbar.
Durch den Wechsel von wie zu so entsteht ein korrektives Parallelgefüge, das beim Zuhörer ein »Ja, aber…« erzeugt.
Die Soldatenstrophe kontrastiert mit dem friedlichen Treiben der Bürger auf dem Osterfeld und foreshadowt die spätere Tragik des gesamten Dramas: Auf Erhebung folgt Katastrophe.
Goethe komprimiert hier also in nur vier Zeilen den ganzen Zwiespalt einer Gesellschaft, die Krieg als glanzvollen Berufsweg verklärt und dabei dessen tödliche Kehrseite mit in Kauf nimmt.

895
Das ist ein Stürmen!
Semantischer Kern: Stürmen – das energische Anrennen auf eine Festung; zugleich Metapher für leidenschaftliches, ungehemmtes Handeln.
Stilmittel
Exklamation (Ausruf) spiegelt Begeisterung und Lautstärke der Truppe.
Enjambement gibt es hier nicht; der Vers steht isoliert wie ein Trommel­schlag.
Bedeutung: Kriegerisches Angriffs‑Ideal wird als höchstes Erlebnis gepriesen – schon im ersten Vers ein klares Bekenntnis zur Gewalt als Lebensinhalt.

Das ist ein Leben!896
Parallelismus / Anapher: Die Wiederholung von »Das ist…« verknüpft Sturmangriff und Lebenssinn – Soldatische Tätigkeit ist »Leben«.
Ironischer Unterton: Aus moderner Sicht klingt das entlarvend; für die Soldaten jedoch ehrlich hymnisch.
Psychologischer Effekt: Durch Gleichsetzung von Kampf und Lebensfreude legitimiert sich der Soldat selbst – ein Proto‑Nationalismus bzw. frühromantische Kriegsverklärung.

Mädchen und Burgen / Müssen sich geben.897-898
Doppelte Beute‑Metapher
Burgen stehen fürs militärische Ziel.
Mädchen werden in dieselbe Kategorie gezwungen – Sexual‑ bzw. Liebeseroberung als Pendant zur Kriegstrophäe.
Alliteration: Mädchen … müssen betont den Imperativ der Unterwerfung.
Gleichsetzungslogik: Weiblichkeit = Besitz, der sich dem Stärkeren fügt. Dies spiegelt patriarchale Herrschafts‑ und Besitzdenken der Epoche.
Foreshadowing: Im weiteren Drama wird Gretchen (Margarete) tatsächlich »belagert« und erliegt schließlich Faust – ein bitteres Echo auf diese Soldatenhymne.
Zusammenfassend 895-898
Die Szene »Vor dem Tor« zeigt das bunte Oster‑Volksleben vor den Mauern der Stadt. Stimmen verschiedenster Gruppen erklingen – Lehrlinge, Bürger, Bettler, später auch Soldaten. Ihre kurzen Lieder zeichnen soziale Typen und Stimmungen. Die Soldaten haben hier ihren – typisch »herrischen« – Auftritt, bevor Faust und Wagner in den Gesprächsfluss der Menge eintreten.
Rhythmus: Kürze (jeweils vier Hebungen) und Exklamationszeichen erzeugen Marsch‑ und Rufcharakter – ideal fürs freiluftige Markttreiben.
Tonfall: Markig, laut, unreflektiert. Goethe kontrastiert so das philosophische Grübeln Fausts mit der simplen Soldaten­welt.
Gesellschaftskritik: Durch ihre eigenen Worte entlarven sich die Soldaten – Eroberungs‑ und Besitzmentalität werden nicht kommentiert, sondern durch den Kontext als bloße Stimme im Stimmen­chaos relativiert.
Dramaturgie: Das Soldatenlied reißt das Publikum kurz aus Fausts innerem Konflikt und malt ein Zeitkolorit, in dem Gewalt selbstverständlich ist. Das steigert später die Tragik von Gretchens Schicksal und Fausts Verantwortung.
So liefert Goethe in nur vier Versen ein Mini‑Panorama militärischer Ideologie, gender‑Stereotypen und gesellschaftlicher Stimmung – eingebettet in das lebendige Stimmengewirr des Oster­spaziergangs.

Kühn ist das Mühen,899
Wortwahl & Semantik »Kühn« (mutig, verwegen) adelt das gewöhnliche »Mühen« → Arbeit erscheint als heroische Tat.
Stilfigur Antithetische Grundstruktur (kühnes Bemühen ↔ herrlicher Lohn in V. 900).
Metrum & Klang Trochäischer Zwei‑ bzw. Dreitakter mit Auslassung der Schlusssilbe (Kadenz fällt hart ab) – passend zum Marschschritt.
Funktion Eröffnet den Werbeslogan: Mut wird als Voraussetzung für militärisches Handeln gepriesen.

Herrlich der Lohn!900
Elliptischer Satzbau Das Verb »ist« fehlt – lässt die Aussage wie einen Ausruf wirken; Wirkung: verbindliche Gewissheit statt bloßer Behauptung.
Klang & Rhythmus Alliteration »L‑L« ( Lohn / Herrlich ) verstärkt Ausrufcharakter.
Ideologischer Subtext Verspricht materielle und ideelle Belohnung (Ruhm, Beute, Aufstieg) – typische Rekrutierungsrhetorik.

Und die Soldaten901
Parataxe & Anapher Das wiederholte »und« in Volksliedern signalisiert Kollektivgefühl; der bestimmte Artikel »die« verleiht der Gruppe Identität und Auszeichnung.
Prosodische Pause Der eigenständige Vers verschafft Atempause vor der Aktion im Folgevers, steigert Erwartung.

Ziehen davon.902
Verb vorangestellt »Ziehen« betont Bewegung; Lakonie des Zweitakt‑Verses vermittelt rasches, entschlossenes Aufbrechen.
Bildhaftigkeit Man »sieht« die Marschkolonne abrücken; klangliche Abrundung durch Assonanz »ie – on«.
Symbolik Soldaten werden als rastlos dargestellt: immer unterwegs, stets dem nächsten Einsatz entgegen.
Zusammenfassend 899-902
In nur vier Versen entwirft Goethe ein kompaktes Rekrutierungs‑Plakat in Klangform: Mut → Belohnung → Gemeinschaft → Aufbruch. Der straffe, trochäische Rhythmus, die prägnanten Ellipsen und die klare Bildsprache erzeugen einen militärischen »Werbejingle«, der die Faszination wie auch die Verführungskraft soldatischer Ideale bündelt – und damit später Fausts Skepsis gegenüber solchen Verlockungen umso deutlicher kontrastiert.

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