faust-1-05-02-vor dem tor

Der Tragödie Erster Theil

Vor dem Thor. (2)

Bürger.
Nein, er gefällt mir nicht der neue Burgemeister!846
Dieser Vers ist eine klare, ablehnende Meinungsäußerung eines einfachen Bürgers. Die Negation »Nein« zu Beginn betont den entschiedenen Widerspruch.
Die Verwendung von »gefällt mir nicht« verweist nicht nur auf eine persönliche Antipathie, sondern offenbart eine bürgerliche Haltung, die politische Entscheidungen und Amtsträger auch aus einer gefühlten, nicht unbedingt rationalen Perspektive beurteilt.
Der bestimmte Artikel »der neue Burgemeister« zeigt, dass es sich um eine frisch eingesetzte Autorität handelt, deren Verhalten noch nicht konsolidiert oder akzeptiert ist. Der Ausdruck trägt auch etwas Spöttisches in sich – eine Art des Abkanzelns von oben herab, obwohl es ein Bürger sagt.

Nun, da er’s ist, wird er nur täglich dreister.847
Der zweite Vers baut auf dem ersten auf, liefert aber eine Begründung für die Ablehnung. »Nun, da er’s ist« zeigt eine gewisse Resignation oder Verwunderung darüber, dass ausgerechnet dieser Mann das Amt erhalten hat.
»Wird er nur täglich dreister« enthält eine progressive Steigerung: Mit der Macht wächst auch die Anmaßung. Das Adverb »täglich« verstärkt den Eindruck eines sich zuspitzenden Machtmissbrauchs.
Die Wortwahl »dreister« hat eine starke moralische Konnotation: Der Bürgermeister handelt nicht nur ungeschickt oder inkompetent, sondern übergriffig, frech, schamlos – also in einem ethischen Sinne verwerflich.
Zusammenfassend 846-847
Diese Äußerung ist Teil des polyphonen Stimmengewirrs in der Szene »Vor dem Tor«, in der Goethe verschiedenste Gesellschaftsschichten zu Wort kommen lässt. Die Bürgerstimme drückt allgemeines Misstrauen gegenüber Autoritäten aus – ein Grundmotiv der Aufklärung und ein Spiegel des sozialen Klimas um 1800.
Zugleich offenbart sich darin eine gewisse Ambivalenz: Der Bürger beschwert sich über Machtmissbrauch, bleibt aber auf eine rein persönliche, ressentimentgeladene Kritik beschränkt – es geht um »Gefallen«, nicht um Argumente.
Goethe gestaltet hier realistische Typen und zugleich eine subtile Gesellschaftssatire.

Und für die Stadt was thut denn er?848
Dieser Vers wird von einem »Bürger« gesprochen, der sich – ähnlich wie der »Erste« im vorherigen Verspaar – kritisch über Faust äußert. Die Frage ist rhetorisch und drückt Skepsis oder Enttäuschung über Fausts Wirken aus. Sie nimmt eine bürgerliche Perspektive ein, die Nützlichkeit und praktische Wirkung als Maßstab setzt. Der Ton ist fordernd und latent anklagend: Der Bürger erwartet vom Gelehrten sichtbaren Nutzen für das Gemeinwohl – konkret: für »die Stadt«.
Die Betonung liegt auf »was thut denn er« – mit dem Unterton: »Er mag viel wissen, aber was bringt das uns?« Die Vorstellung von Wissenschaft und Bildung wird also hier auf ihre soziale Funktion hin hinterfragt.

Wird es nicht alle Tage schlimmer?849
Diese Frage knüpft direkt an die vorige an, intensiviert aber die Klage: Nicht nur wird Fausts Nutzen bezweifelt – es wird sogar eine Verschlechterung der städtischen Verhältnisse festgestellt. Das »alle Tage« verstärkt den Eindruck einer kontinuierlichen, fortschreitenden Krise. Die Diagnose »schlimmer« bleibt vage, wirkt aber umso drastischer, weil sie aus dem Alltagserleben eines »Bürgers« gespeist ist.
In diesem Vers zeigt sich eine allgemeine Skepsis gegenüber gelehrtem Wissen ohne sichtbare Resultate, vielleicht auch ein Vorwurf gegen eine akademische Abgehobenheit. Gleichzeitig kann man hier den Unmut des gemeinen Volkes über eine Zeit wahrnehmen, in der alte Sicherheiten (z. B. durch Wissenschaft, Reformation, soziale Umbrüche) erschüttert wurden.
Zusammenfassend 848-849
Diese beiden Verse stehen in einer Reihe von kurzen Bürgerdialogen, die Fausts gesellschaftliche Rolle reflektieren. Während einige ihn fürchten oder bewundern, bringen andere – wie dieser Bürger – eine dezidiert pragmatische Haltung zum Ausdruck: Der Gelehrte wird daran gemessen, ob er zur Lösung realer Probleme beiträgt. Goethes Text zeigt hier in nuancierter Weise, wie unterschiedlich Fausts Rolle und Wirkung in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.

Gehorchen soll man mehr als immer,850
Wortstellung & Syntax
Das vorangestellte Infinitiv‑Verb »Gehorchen« (Inversion) rückt die Forderung nach Unterordnung ins Zentrum, noch bevor ein grammatisches Subjekt (»man«) erscheint. So wird der Befehlston wortwörtlich vorangestellt.
Steigerung & Ironie
Die Komparativform »mehr als immer« ist eigentlich paradox: Wenn man immer gehorcht, lässt sich das schwer steigern. Gerade diese Übertreibung (Hyperbel) macht die Verdrießlichkeit des Sprechers hörbar.
Metrik
Goethe nutzt hier den vierhebigen Jambus (Knittelvers‑Tradition); die feminine Kadenz (unbetonte Endsilbe »‑mer«) verdichtet das Klagehafte.
Sozialkritische Ebene
»Gehorchen« zielt auf wachsende Reglementierung durch Obrigkeit und Militärstaat (Goethes Entstehungszeit im Post‑Revolutions‑Europa). Das Bürger‑Ich fühlt sich entmündigt.

Und zahlen mehr als je vorher.851
Parallelismus
Satzbau und Komparativ‑Konstruktion spiegeln die Vorzeile (→ Anapher »mehr als«). So entsteht eine rhetorische Klimax von Pflichten: erst Gehorsam, dann finanzielle Opfer.
Semantik
Das schlichte Alltagsverb »zahlen« konkretisiert die Beschwerde: Es geht nicht nur um moralische, sondern vor allem um wirtschaftliche Belastung (Steuern, Abgaben, Kriegsfinanzierung).
Metrik
Wieder vier jambische Hebungen; diesmal maskuline Kadenz auf »‑her«, was den Satz abrupt, fast hart enden lässt – passend zur Materie »Geld«.
Kontrast zum Ideal
Während das Ideal des aufgeklärten Bürgers Freiheit versprach, zeigt der Vers dessen Kehrseite: Pflichterfüllung ohne Gegenleistung.
Zusammenfassend 850-851
Der Bürger artikuliert hier stellvertretend die Unzufriedenheit des städtischen Mittelstands mit wachsender Obrigkeit und Steuerlast.
Couplet‑Funktion: Die zwei Zeilen bilden ein geschlossenes Sinn‑Paar; der Gleichklang immer / vorher liefert zwar keinen vollen Reim, verstärkt aber die klangliche Bindung (Halbreim).
Gesellschaftsbild: Gehorsam (politisch) und Zahlen (ökonomisch) fungieren als doppeltes Joch; der Bürger spürt, dass beides gleichzeitig zunimmt – ein unhaltbarer Zustand.
Foreshadowing: Dieses Murren weitet Goethes Panorama sozialer Spannungen, die später im Drama – vom Faust‐Mephisto‑Pakt bis zu Gretchens Tragödie – untergründig mitschwingen.
Stilmittel‑Verdichtung: In nur zwölf bzw. elf Silben komprimiert Goethe Ironie, Hyperbel, Parallelismus und Klimax – ein Lehrstück für die rhetorische Kraft des knappen Knittelverses.
Vers 850 beklagt die wachsende Autorität (»Gehorchen«), Vers 851 die steigende fiskalische Belastung (»zahlen«). Zusammen zeichnen sie ein pointiertes Stimmungsbild des frühbürgerlichen Unbehagens gegenüber Staat und Obrigkeit – prägnant, bissig, bis heute aktuell.

Bettler singt.
Ihr guten Herrn, ihr schönen Frauen,852
Sprecherrolle: Der Bettler tritt hier mit einem Gesang auf, der an eine höflich-bittende Anrede erinnert. Diese Form war typisch für das »Bettel-Lied« des 18. Jahrhunderts, oft mit Reimen und einer versöhnlichen, manchmal ironisch überhöhten Formulierung.
»Ihr guten Herrn«: Ausdruck von Unterwürfigkeit, zugleich soziale Markierung. Die »guten Herrn« sollen als wohlwollende, gebende Patrone erscheinen – ein typischer Appell an die bürgerliche oder adlige Mildtätigkeit.
»ihr schönen Frauen«: Der Bettler ergänzt die männliche Anrede um eine galante, fast schmeichelhafte Formel für die weibliche Gesellschaft. Dies dient ebenfalls der Einbindung, sogar Anbiederung – nicht ohne einen subtilen Zug von Ironie.
Funktion im Drama: Die höfliche Anrede konfrontiert Faust – den innerlich Zerrissenen – mit der Realität des Elends, ohne dass dieses sich anklagend gibt. Der Kontrast zur inneren Verzweiflung Fausts ist scharf.

So wohlgeputzt und backenroth,853
»wohlgeputzt«: Diese Beschreibung unterstreicht den äußeren Glanz der Angesprochenen – ihre Kleidung, ihren Stand, ihre Repräsentation. Sie hebt das soziale Gefälle zwischen dem Sprecher (arm, schmutzig, am Rande) und dem Publikum (wohlhabend, sichtbar gepflegt) hervor.
»backenroth«: Ein volkstümliches Bild, das die Gesundheit, Üppigkeit und Lebensfreude der »schönen Frauen« unterstreicht. Es ist ein sinnliches Detail, das Nähe schafft, aber auch Distanz markiert: Der Bettler beschreibt etwas, das er selbst nicht besitzt – nicht nur äußerlich, sondern lebensweltlich.
Sprachlich: Der Vers arbeitet mit Alliteration (backen–braun) und Assonanz. Dies verstärkt den liedhaften, fast volksliedartigen Charakter des Sprechgesangs.
Zusammenfassend 852-853
Der Bettler spricht als Figur des Außenseitertums mit der rhetorischen Maske der Höflichkeit. Der Gesang ist Teil einer theatralen Welt, in der die sozialen Gegensätze nicht angeklagt, sondern durch ritualisierte Formen wie das Bittlied verschleiert oder höflich verpackt werden. Gleichzeitig aber wirkt der Gesang als Kontrastfolie für Fausts innere Leere: Während draußen das Leben – wenn auch in Armut – seine Rollen spielt, erlebt Faust keine Verbindung mehr zu Welt, Glaube oder Form. Das Lied öffnet ein Fenster auf eine Gesellschaft, die Faust in seiner Einsamkeit nicht mehr erreicht.

Belieb’ es euch mich anzuschauen,854
Dieser Vers ist höflich und unterwürfig formuliert. Das Verb »belieben« ist eine altertümliche, respektvolle Wendung, die sich an höhergestellte Personen richtet. Der Bettler redet Faust also mit ausgesuchter Demut an – ein sprachlicher Ausdruck seiner sozialen Unterlegenheit. Der Konjunktiv (»Belieb’ es euch«) betont zudem seine Abhängigkeit vom Willen des anderen. Es ist kein fordernder Ton, sondern bittend: Die Möglichkeit, dass man ihn überhaupt ansieht, wird als ein Gnadenakt dargestellt. Schon das Anschauen wird zum Ausdruck von Mitleid und Anteilnahme – die bloße Wahrnehmung seines Elends ist für ihn von Bedeutung.
Der Vers zeigt, wie der Bettler um Anerkennung seines Leids ringt, und spiegelt das Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarkeit und sozialem Ausschluss: Wer nicht gesehen wird, dessen Not existiert gesellschaftlich nicht.

Und seht und mildert meine Noth!855
Hier steigert sich die Bitte vom bloßen Anschauen zur aktiven Hilfe. Die doppelte Verwendung von »und« verleiht dem Satz einen flehentlichen Rhythmus: »und seht und mildert...« – fast wie ein Stoßgebet. Auch wird eine implizite Verbindung hergestellt: Erst durch das Sehen kann überhaupt ein Mildern der Not erfolgen. Wieder also der Gedanke: Wer gesehen wird, kann erhört und erhört vielleicht erhört werden. Das Wort »Noth« umfasst hier nicht nur materielle Armut, sondern auch existentielle Verlassenheit – ein zentrales Motiv des gesamten »Nacht«-Monologs Fausts, der sich selbst ebenfalls als innerlich dürftig und leer empfindet.
Zusammenfassend 854-855
Die Bitte des Bettlers stellt damit eine thematische Spiegelung von Fausts eigener geistiger Not dar. Während der Bettler äußerlich leidet, leidet Faust innerlich – beide fordern Erlösung, der eine durch Hilfe, der andere durch Erkenntnis oder Erfahrung.

Laßt hier mich nicht vergebens leyern!856
»Laßt \[…] nicht« ist eine dringliche, fast flehentliche Anrede – der Bettler spricht direkt die Passanten an (implizit auch Faust, wenn dieser ihn hört), in der Hoffnung auf Mitleid.
»mich \[…] leyern« bezieht sich auf das Betteln mit der Leier (Drehleier), einem typischen Instrument fahrender Musikanten und Bettler.
Die Wortstellung (»nicht vergebens leyern«) betont den vergeblichen Aufwand, falls ihm niemand etwas gibt – er bittet also nicht nur um Almosen, sondern um die Anerkennung seines mühevollen Spiels.
Im Subtext schwingt Verzweiflung mit: Das Betteln ist nicht freiwillig, sondern existenzielle Not spricht aus dem Tonfall.

Nur der ist froh, der geben mag.857
Diese Zeile enthält eine fast sentenzhafte Wahrheit: Glück (oder Frohsinn) sei denen vorbehalten, die geben können – also denen, die genug besitzen.
Die Aussage hat eine doppelte Stoßrichtung:
Einerseits könnte sie den Almosengeber motivieren, durch Geben selbst Freude zu erlangen – ein Appell an christliche Barmherzigkeit.
Andererseits steckt darin eine bittersüße Ironie: Der Bettler selbst ist ausgeschlossen vom »froh sein«, da er nicht geben kann – sein »Frohsein« ist abhängig vom Wohlwollen anderer.
Im Hintergrund steht eine gesellschaftskritische Perspektive: Glück ist nicht gleich verteilt, sondern an Besitz (und Großzügigkeit) gebunden.
Auch religiös-ethische Implikationen klingen mit – Geben als Tugend, die den Geber über den Nehmenden erhebt.
Zusammenfassend 856-857
Insgesamt zeichnen die beiden Verse ein kurzes, aber tief eindrückliches Bild sozialer Ungleichheit, das sowohl Mitleid als auch Nachdenklichkeit hervorrufen soll. Goethes Sprache ist schlicht, aber wirkungsvoll – im Klang wie in der Moralität. Der Bettler wird nicht verspottet, sondern erhält eine authentische Stimme, die – mitten in Fausts intellektuellen Zweifeln – das menschliche Elend ins Spiel bringt.

Ein Tag den alle Menschen feyern,858
Dieser Vers wird vom »Bettler« gesungen, der – wie die anderen Stimmen draußen – durch das Fenster hörbar ist. Es ist Ostern, ein hoher christlicher Feiertag, und »alle Menschen« feiern diesen Tag gemeinsam.
Die Formulierung betont das Gemeinschaftliche, Universale: »alle Menschen« verweist auf eine kollektive Frömmigkeit oder wenigstens einen kollektiven Brauch, der auch den gesellschaftlichen Rand – wie den Bettler – einschließt.
Zugleich klingt in der Wendung »ein Tag, den alle … feiern« eine leise Melancholie: Es ist ein besonderer Tag für die Welt, aber was bedeutet er für den Einzelnen, für den Armen?
Der Vers ist formal ruhig und schlicht gebaut, mit einem feierlichen Tonfall durch das Wort »feyern« (in älterer Schreibung).
Im Kontext der Szene wirkt die Stimme des Bettlers wie ein Echo des Draußenlebens: sie ist ein Zeichen der Welt, die weitergeht, während Faust isoliert und innerlich zerrissen bleibt.

Er sey für mich ein Aerndetag.859
Der Bettler formuliert hier seinen Wunsch: Wenn andere feiern, so möge für ihn dieser Tag ein »Erntetag« sein.
»Aerndetag« (Erntetag) ist in doppeltem Sinn zu verstehen:
1. Wörtlich: Der Tag, an dem er durch Almosen seinen »Ertrag« einsammelt – Betteln ist seine Form des »Erntens«. Der Feiertag, an dem die Menschen milde gestimmt sind, bietet ihm die Gelegenheit, etwas zum Überleben zu bekommen.
2. Symbolisch/metaphorisch: Während andere geistlich oder festlich feiern, sieht er diesen Tag als Möglichkeit, etwas Lebensnotwendiges zu erlangen. Die Feier wird für ihn zu einem Akt der existenziellen Sicherung – eine Umdeutung des Festes aus der Perspektive sozialer Not.
Die Bitte »Er sey für mich …« ist sprachlich schlicht, fast biblisch, und drückt stille Hoffnung aus.
Der Kontrast zwischen Fest und Existenzsicherung macht die gesellschaftliche Spaltung sichtbar: Der Bettler ist nicht Teil der Feier im inneren Sinn, sondern bleibt auf die Gnade der Feiernden angewiesen.
Zusammenfassend 858-859
Die beiden Verse zeigen – fast beiläufig – wie Goethe die Osterthematik auch aus der Perspektive der Randfiguren beleuchtet. Während Faust in metaphysischem Zweifel gefangen ist, zeigt der Bettler eine einfache, lebensnahe Hoffnung: Dass der Tag ihm Nahrung bringt.
Diese Szene enthält in kurzer Form eine soziale Tiefendimension, wie sie für Goethes Dramaturgie typisch ist: Die großen Feste der Menschheit zeigen ihre Wirkung in jedem sozialen Detail – und das Feiern ist nie ohne die Frage: Wer kann mitfeiern, und wie?

Andrer Bürger.
Nichts bessers weiß ich mir an Sonn- und Feyertagen,860
Dieser Vers bringt eine alltägliche Lebenshaltung der »kleinen Leute« auf den Punkt.
»Nichts bessers weiß ich mir« drückt eine eingeschränkte Perspektive aus: Der Sprecher hat keinen Zugang zu anderen Möglichkeiten des Genusses oder der Bildung. Es spricht eine gewisse Schlichtheit oder auch Stumpfheit daraus.
»an Sonn- und Feyertagen« verweist auf die arbeitsfreie Zeit – eigentlich ein Raum für Erhebung, vielleicht auch Besinnung. Doch genau diese freie Zeit wird hier mit banalem, kriegerischem Gerede gefüllt.
Ironisch wird das »Nichts bessers«: Es ist keine Absage an Krieg, sondern eine affirmative, beinahe begeisterte Haltung dazu. Die scheinbare Harmlosigkeit des Gesprächs wird durch den Inhalt (Krieg!) konterkariert.
Dahinter steckt eine Kritik an bürgerlicher Beschränktheit und Sensationslust – ein Thema, das sich durch die ganze Szene »Vor dem Tor« zieht.

Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrey,861
Hier konkretisiert sich, worin das »Nichts Besseres« besteht.
»Gespräch« suggeriert scheinbare Kultur oder bürgerliche Kommunikation, doch der Inhalt (»Krieg und Kriegsgeschrey«) offenbart das Gegenteil: aggressive, gewaltzentrierte Inhalte.
»Krieg und Kriegsgeschrey« ist eine Alliteration, die das martialische Thema betont und zugleich die Monotonie und Lautheit solcher Gespräche nachahmt.
Das Wort »Kriegsgeschrey« wirkt archaisch und erinnert an barocke Schlachtenberichte oder gar biblische Gerichtsszenen. Es ist laut, hohl und schrill – ein Gegensatz zu echter Reflexion oder Tiefe.
Die Verdopplung »Krieg und Kriegsgeschrey« zeigt, dass es nicht um Verständnis oder Analyse geht, sondern um Aufregung, Lärm, vielleicht auch das Aufputschen nationalistischer Gefühle.
Zusammenfassend 860-861
Goethe zeichnet hier das Bild eines Bürgers, der seine Freizeit mit oberflächlicher, gewaltfixierter Unterhaltung füllt. Diese Zeilen sind Teil einer vielstimmigen Szene, in der die Gesellschaft in ihrer Breite vorgeführt wird. Der »andere Bürger« steht stellvertretend für eine Mentalität, die in oberflächlicher Sensationslust stagniert. Damit wird er zur Kontrastfolie für Faust, dessen existentielle Suche nach Wahrheit, Tiefe und Sinn durch solche Stimmen wie hohle Kulisse hindurchschallt.

Wenn hinten, weit, in der Türkey,862
Dieser Vers eröffnet mit einer räumlichen Distanzierung: »hinten, weit« signalisiert geografische Ferne – es geht nicht um das Hier und Jetzt des deutschen städtischen Lebens, sondern um einen Schauplatz in der Fremde. Die Türkey (damals übliche Schreibung für »Türkei«) fungiert im damaligen europäischen Bewusstsein oft als Projektionsfläche für das Fremde, Gefährliche, Exotische oder auch Bedrohliche – ein Erbe der osmanisch-habsburgischen Konflikte.
Das »weit hinten« hat dabei doppelte Funktion: Zum einen lokalisiert es das Geschehen außerhalb des unmittelbaren Lebensraums der Sprechenden (vermeintliche Sicherheit), zum anderen klingt bereits hier ein Moment von Sensationslust oder Neugier auf das Ferne an.

Die Völker auf einander schlagen.863
Der zweite Vers bringt den Inhalt: Es ist von Kriegen oder Kämpfen zwischen »Völkern« die Rede – nicht etwa von organisierten Armeen, sondern generalisierend von ganzen Ethnien oder Kulturen. Das Verb »auf einander schlagen« ist drastisch und bewusst plakativ: Es deutet rohe Gewalt an, kollektives Aufeinanderprallen, ein Geschehen ohne Differenzierung – vielleicht auch ein Zeichen für mangelnde politische Bildung oder für den »simplen Blick« des gemeinen Bürgers.
Gleichzeitig zeigt sich hier ein Kontrast zwischen der Provinzialität des Bürgerlichen – das Weltgeschehen wird nur schemenhaft und klischeehaft wahrgenommen – und Fausts eigener, kosmischer Unruhe, die im Zentrum der Szene »Nacht« steht. Der Bürger scheint sich durch fremde Gewaltkonflikte zu definieren, während Faust an Erkenntnis und Überschreitung des Irdischen leidet.
Zusammenfassend 862-863
Die beiden Verse demonstrieren eine trivialisierte Weltsicht: Der »andere Bürger« betrachtet Kriegsnachrichten aus der Ferne (hier: aus der Türkei) als Gesprächsthema, vielleicht mit einer Mischung aus Faszination und Distanz. Goethe zeichnet hier die beschränkte Perspektive bürgerlicher Öffentlichkeit: Weltgeschehen ist weit weg, wird vergröbert wahrgenommen und dient eher als Ablenkung oder Unterhaltung denn als echte politische oder moralische Herausforderung.
Diese Sprechhaltung steht im scharfen Kontrast zur hochkomplexen, innerlich getriebenen Haltung Fausts.

Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus864
Dieser Vers evoziert ein ruhiges, beinahe kontemplatives Bild: eine Person steht still am Fenster, in einer typischen bürgerlichen Geste, und trinkt ihr Glas aus.
»Man«: Das unbestimmte Pronomen generalisiert die Szene. Es geht nicht um ein Individuum, sondern um ein exemplarisches Verhalten. Die Szene hat etwas Alltägliches, fast Ritualisiertes.
»steht am Fenster«: Das Fenster ist ein symbolisch bedeutungsvoller Ort – eine Schwelle zwischen Innen und Außen, zwischen Privatsphäre und Welt. Wer am Fenster steht, ist Beobachter, nicht Handelnder.
»trinkt sein Gläschen aus«: Die Diminutivform »Gläschen« vermittelt eine heimelige, bürgerliche Atmosphäre. Es geht um Genuss, Gewohnheit, vielleicht auch um eine gewisse Selbstzufriedenheit. Gleichzeitig schwingt eine gewisse Passivität mit: Die Welt zieht vorbei, während man selbst konsumiert.

Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;865
Dieser Vers erweitert das Bild in die Außenwelt hinein.
»sieht«: Auch hier bleibt der Sprecher passiv, rein beobachtend. Sehen ersetzt Handeln.
»den Fluß hinab«: Die Richtung »hinab« lässt an den natürlichen Lauf der Dinge denken – das Leben fließt wie der Strom. Es kann aber auch eine gewisse Wehmut oder Vergänglichkeit andeuten.
»die bunten Schiffe«: Die Farbadjektivierung »bunten« bringt einen Hauch von Lebendigkeit, Vielfalt, vielleicht auch Fernweh ins Spiel. Die Schiffe sind ein klassisches Symbol für Bewegung, Reise, Freiheit – im Gegensatz zur unbewegten Figur am Fenster.
»gleiten«: Das Verb suggeriert Leichtigkeit und Lautlosigkeit – ein ruhiges, elegisches Bild. Es unterstreicht die Friedlichkeit des Moments, aber auch die Unentrinnbarkeit der Zeit.
Zusammenfassend 864-865
Die beiden Verse spiegeln eine stille Abendstimmung wider – geprägt von Beobachtung, Gewohnheit und einer leisen Sehnsucht nach der Ferne. Die Figur des »Andern Bürgers« scheint in einem Zustand der Zufriedenheit, aber auch der Resignation zu sein. Der Fluss des Lebens geht weiter – farbenfroh, beweglich –, während man selbst innehält, schaut, trinkt. In der Konstellation dieser Motive klingt ein feiner Kontrast an zwischen dem dynamischen Außen (Schiffe, Fluss) und dem stillen, inneren Erleben (Fenster, Glas). In der Gesamtstruktur von Faust I steht diese Szene exemplarisch für das kleinbürgerliche Dasein, von dem Faust sich mit Verzweiflung abwendet.

Dann kehrt man Abends froh nach Haus,866
Dieser Vers vermittelt ein Gefühl der Ruhe, Geborgenheit und Zufriedenheit im Alltäglichen. Die Formulierung »Dann kehrt man« verweist auf ein kollektives, wiederkehrendes Handlungsmuster – es geht um eine alltägliche, fast ritualisierte Bewegung, die den Tageslauf beschließt. Die Abendzeit wird hier nicht mit Finsternis oder Gefahr verbunden (wie häufig in romantischer oder früherer Dichtung), sondern mit Freude (»froh«) und Heimkehr. Die Heimkehr an sich steht sinnbildlich für Sicherheit, für das Private und auch für die Ordnung eines bürgerlichen Lebens, das im Einklang mit sich und der Welt steht.

Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.867
Der zweite Vers intensiviert diese Grundstimmung noch weiter. Das Verb »segnet« hat eine doppelte Bedeutung: zum einen im religiösen Sinn, also das Danken oder Weihen, zum anderen auch im profanen Sinne eines tiefen, innerlichen Glücksgefühls. Die doppelte Nennung – »Fried’ und Friedenszeiten« – stellt eine poetische Verstärkung dar, fast eine tautologische Formulierung, die den Wert des Friedens überdeutlich herausstellt. Dabei klingt nicht nur politischer Friede mit (möglicherweise als Kontrast zu den politischen Umbrüchen und Kriegen der Zeit Goethes), sondern auch innerer, seelischer Frieden. Das Ideal eines Lebens im Gleichgewicht – mit sich selbst und der Gesellschaft – wird so betont.
Zusammenfassend 866-867
Diese beiden Verse gehören zur Szene vor dem Tor, in der verschiedene Bürger und gesellschaftliche Gruppen auftreten und die Welt schildern, wie sie sie erleben. Der Sprecher hier, ein Bürger, steht für das bürgerlich-konservative Ideal: Arbeit am Tag, Ruhe am Abend, Dankbarkeit für Sicherheit und Ordnung. Das Bild kontrastiert stark mit Fausts innerem Zustand, der von Unruhe, Sehnsucht und existenzieller Unzufriedenheit geprägt ist. Die Bürgerwelt, wie sie hier geschildert wird, verkörpert das Maß und die Mitte – genau das, was Faust nicht aushält.
In diesem Sinne ist die Szene auch eine soziale Spiegelung: Während Faust an der Unzulänglichkeit des Wissens und der Begrenztheit menschlicher Erfahrung leidet, findet der Bürger Glück im Alltäglichen, ja im Kleinbürgerlichen. So steht dieser Verskomplex auch symbolisch für eine der zentralen Gegensätze des Werkes: Maß vs. Streben.

Dritter Bürger.
Herr Nachbar, ja! so laß ich’s auch geschehn,868
»Herr Nachbar, ja!« – Die Anrede und Zustimmung signalisieren eine gesellige, fast resignative Haltung des Sprechers gegenüber dem Vorredner (Zweiter Bürger), der sich zuvor über die gelehrten Streitereien echauffiert hat. Es klingt nach kollegialem Schulterschluss im Ton der Volkstümlichkeit.
»so laß ich’s auch geschehn« – Diese Formulierung drückt eine Haltung des Sich-Fügens aus: Der Sprecher will sich nicht weiter in die Streitfragen der Gelehrten oder Intellektuellen einmischen. Die Formulierung impliziert Passivität oder vielleicht auch eine gewisse Lebenserfahrung: Er lässt es geschehen, weil er weiß, dass man daran ohnehin nichts ändert.

Sie mögen sich die Köpfe spalten,869
»Sie« – Die Pronomenwahl schafft Distanz: Gemeint sind die Gebildeten, Intellektuellen, Philosophen oder Theologen – also eine gesellschaftliche Gruppe, der sich der Sprecher nicht zugehörig fühlt. Diese Distanzierung unterstreicht die Perspektive des einfachen Volkes.
»mögen sich die Köpfe spalten« – Eine doppeldeutige Wendung:
Im wörtlichen Sinn klingt es drastisch und fast gewalttätig – wie ein Bild des Kopfzerbrechens, das zu echtem Schaden führen könnte.
Im übertragenen Sinn beschreibt es das übermäßige, oft sinnlose Grübeln, das sich bis zur Selbstzerstörung steigert: die Köpfe »spalten« sich an ihren eigenen Gedanken.
Die Redewendung kritisiert also die Selbstverlorenheit der Gelehrten in ihre theoretischen Diskurse, die am realen Leben vorbeigehen. Diese Kritik ist nicht aggressiv, sondern eher spöttisch und gleichgültig – ganz im Ton der bürgerlichen Zuschauer im Volk.
Zusammenfassend 868-869
Der dritte Bürger spricht mit einer Mischung aus resignierter Duldung und ironischer Distanz über die Welt der Intellektuellen. Die Verse spiegeln die Haltung des gemeinen Volkes wider, das die gelehrten Streitereien zwar bemerkt, sich aber von deren Inhalt abwendet – nicht aus Ignoranz, sondern aus pragmatischer Lebenserfahrung. Damit bringt Goethe eine soziale Spannung ins Spiel: das Misstrauen der einfachen Menschen gegenüber einer abgehobenen, sich selbst genügenden Wissenswelt – ein zentrales Thema im Faust.

Mag alles durcheinander gehn;870
Satzstruktur und Ton: Dieser Vers ist ein konditional geprägter Nebensatz, der hypothetisch-universale Geltung beansprucht. Die Verwendung des Modalverbs »mag« im Konjunktiv drückt Toleranz oder Resignation gegenüber dem Wandel aus – eine Haltung der Gelassenheit oder Gleichgültigkeit: Es »mag« alles geschehen, wie es will.
Semantik von »alles« und »durcheinander«: Das Wort »alles« verallgemeinert die Aussage auf die gesamte Weltlage oder zumindest auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. »Durcheinander« evoziert Chaos, Umsturz, Unsicherheit – möglicherweise politische Umwälzungen, soziale Neuordnungen oder kulturelle Unruhe. In Goethes Zeit (und für das Drama zentral) sind hier insbesondere die Folgen der Aufklärung, der Französischen Revolution oder der wachsenden Industrialisierung als Kontexte mitzuhören.
Bürgerliche Mentalität: Der Sprecher nimmt eine typische Position ein, die Goethe dem Bürgertum zuschreibt: äußerlich nachgiebig gegenüber der Welt, innerlich jedoch konservativ verankert. Es wird angedeutet, dass die äußere Welt unkontrollierbar geworden ist, was zu einer Rückzugsbewegung in den privaten Bereich führt (siehe nächster Vers).

Doch nur zu Hause bleib’s beym Alten.871
»Doch nur« – einschränkende Konjunktion: Mit dieser Formulierung wird dem vorherigen Vers ein Kontrast entgegengesetzt. Der Wandel mag draußen geschehen – aber es gibt eine Grenze, die nicht überschritten werden darf: das »Zuhause«.
»Zu Hause« als Symbol: Das Zuhause steht hier nicht nur für die Wohnung oder das private Leben, sondern symbolisiert das Vertraute, die Ordnung, das Altbewährte – letztlich das Weltbild des Bürgers selbst. Es ist der Ort der Kontrolle, der Gewissheit, der Identität. Im Chaos der Welt soll wenigstens dieser Ort unverändert bleiben.
»Beym Alten« – Konservatismus: Diese Wendung bringt die Essenz des bürgerlichen Denkens auf den Punkt: der Wunsch, das Bestehende zu bewahren. »Alt« ist hier kein negativ konnotiertes »veraltet«, sondern wird positiv als verlässlich, vertraut, stabil verstanden. Goethe spielt hier mit dem Wunsch nach Sicherheit – und zeigt zugleich dessen Begrenztheit.
Zusammenfassend 870-871
Die Szene spielt in der »Nacht«, kurz nach Fausts Selbstmordversuch. Auf dem Osterfest drängen sich Bürger auf dem Platz. Die Stimmen der Bürger stehen im Kontrast zu Fausts metaphysischer Verzweiflung – sie wirken banal, politisch oder resignativ. Der Dritte Bürger repräsentiert dabei eine bürgerliche Haltung, die Wandel hinnimmt, solange das Eigene davon nicht betroffen ist. Diese Aussage entlarvt – typisch für Goethe – die Trägheit und Selbstzufriedenheit des »gewöhnlichen« Volkes.
Goethe stellt mit dieser Stimme eine tiefere Frage: Wie viel Wandel ist zumutbar? Und: Was ist das Zuhause wert, wenn die Welt sich ändert? – Fausts Streben, das Absolute zu ergreifen, steht diesem Rückzug in die bürgerliche Gemütlichkeit diametral entgegen.

Alte zu den Bürgermädchen.
Ey! wie geputzt! das schöne junge Blut!872
»Ey!« – Ein Ausruf spontaner Bewunderung oder Erstaunen, volkstümlich und expressiv. Die Sprache ist direkt, ungekünstelt und typisch für eine Figur aus dem einfachen Volk – hier die »Alte«, also wohl eine Nachbarin oder ein zufälliger Straßenkommentar.
»wie geputzt!« – Das Adjektiv »geputzt« meint hier: herausgeputzt, also auffällig gekleidet und geschmückt. Es trägt eine Mischung aus Bewunderung und möglicher Ironie. Die Betonung liegt auf dem äußeren Schein.
»das schöne junge Blut« – Ein idiomatischer Ausdruck der Zeit für junge, attraktive Frauen. »Blut« steht hier nicht wörtlich, sondern metonymisch für Lebenskraft, Frische, Jugend. Die Bezeichnung ist zugleich sinnlich und reduzierend: Die jungen Frauen werden als Objekte der Begierde gesehen. Der Artikel »das« verstärkt die generalisierende Betrachtung – als ob es sich um ein Schaustück handele.
Der Vers zeigt eine Mischung aus volkstümlichem Erstaunen, Bewunderung und möglicher Spott. Die »Alte« spricht aus der Perspektive des gemeinen Volkes, das die jungen, gut gekleideten Mädchen in einem Ton anspricht, der zwischen Neid, Sehnsucht und Ironie schwankt.

Wer soll sich nicht in euch vergaffen?873
»Wer soll sich nicht …« – Eine rhetorische Frage, die keine Antwort erwartet, sondern Erstaunen und Zustimmung einfordert. Die Konstruktion ist emphatisch und lässt keine Ausnahme zu: Jeder müsse sich »vergaffen«.
»… in euch vergaffen« – »Vergaffen« bedeutet: jemanden mit offenem, bewunderndem oder auch lüsternem Blick anstarren. Der Ausdruck hat eine leicht negative Konnotation: Er weist auf die Oberflächlichkeit des Begehrens und auf eine gewisse Lächerlichkeit des männlichen Blicks – oder auch auf die Eitelkeit, sich diesem Blick bewusst auszusetzen.
Die rhetorische Frage steigert den Effekt des ersten Verses: Die jungen Frauen gelten als so auffallend schön und reizvoll, dass sich niemand – Mann oder Frau – ihrem Anblick entziehen kann. Gleichzeitig liegt in der Formulierung ein ironischer Unterton: Das Vergaffen verweist auf eine oberflächliche, rein äußerliche Wahrnehmung, die den wahren Wert der Person unbeachtet lässt.
Zusammenfassend 872-873
Diese zwei Verse spiegeln eine Szene des alltäglichen Stadtlebens. Die Stimme der »Alten« wirkt wie ein chorischer Kommentar und bringt Volkston, Umgangssprache und soziale Realität ins Stück. Die Passage zeigt, wie das weibliche Äußere öffentlich kommentiert wird – zwischen Bewunderung und Objektifizierung, zwischen Spott und Sehnsucht. Goethe lässt hier eine Nebenfigur für das »Volk« sprechen, das die äußere Erscheinung der Jugend und Weiblichkeit mit aufmerksamer, aber nicht unbedingt respektvoller Stimme beobachtet. Die Szene bereitet auch die kommende Begegnung mit Gretchen und Fausts erste Faszination vor.
Sprech­anweisung: Alte (zu den Bürgermädchen) – Noch vor dem ersten Vers verrät die Regie­anweisung, dass hier eine namenlose »Alte« – also eine deutlich ältere Frau aus dem Volk – die bürgerlichen Mädchen direkt anspricht. Sie wird als außen­stehende, aber rede­gewandte Figur eingeführt, deren volkstümliches Auftreten und Erfahrungsschatz sie befähigen, Rat‑ und Dienst­leistungen (wahrscheinlich Liebesorakel oder kleine Zaubermittel) anzubieten. Schon die bloße Existenz dieser Figur verweist auf ein untergründiges, magisches Wissen des »einfachen Volkes«, das sich vom akademisch‑gelehrten Wissen Fausts deutlich unterscheidet.

Nur nicht so stolz! es ist schon gut!874
Imperativische Warnung – Die Zeile beginnt abrupt mit dem Adverb »Nur« und dem negierten Imperativ »nicht so stolz«, ein mündlicher, fast tadelnder Ausruf. Damit bricht die Alte das oberflächliche Kompliment aus Vers 872/873 ab und ermahnt die Mädchen zur Bescheidenheit.
Knittelvers‑Duktus – Vier Hebungen (»Nur | nicht so | stolz ‖ es | ist schon | gut«) und eine deutliche Zäsur nach dem Doppelpunktähnlichen Ausrufezeichen erzeugen einen lakonischen Rhythmus. Das passt zum volkstümlichen, manchmal schroffer Ton des Knittelverses, den Goethe in Faust I bevorzugt, wenn er Figuren aus dem Volk sprechen lässt.
Sozialer Subtext – Indem die Alte Stolz tadelt, stellt sie eine soziale Hierarchie her: Die modisch herausgeputzten Bürgermädchen verhalten sich – aus ihrer Sicht – bereits überheblich. Gleichzeitig bereitet sie das Angebot im nächsten Vers vor: »Runter vom hohen Ross, dann kann ich euch helfen.« ([Faustedition][1])

Und was ihr wünscht das wüßt’ ich wohl zu schaffen.875
Versprechen magischer Hilfe – Mit der anaphorisch betonten Konjunktion »Und« knüpft die Alte direkt an die Zurecht­weisung an und bietet im gleichen Atemzug ihre Dienste an: Sie weiß (»wüßt’ ich«) nicht nur, was die Mädchen wünschen, sondern auch, wie sie es »zu schaffen« (d. h. zu bewerkstelligen) vermag. Das schließt an einen weit verbreiteten Volksglauben an, nach dem ältere, als Hexen oder Wahrsagerinnen geltende Frauen Liebes‑ und Zukunftswünsche erfüllen können – hier ein dramaturgischer Vor­aus­blick auf das große Thema Magie im Stück (Faust/Mephisto, Hexenküche, Walpurgisnacht).
Syntax & Semantik – Der Relativsatz »was ihr wünscht« rückt das Begehren der Mädchen in die Mitte; der anschließende Hauptsatz unterstreicht mit dem Konjunktiv‑Präteritum »wüßt’« die selbstbewusste Haltung der Alten. Sie überschreitet damit die Grenze zwischen harmloser Schmeichelei und offenem Geschäfts­angebot.
Sozialkritik – Die Zeile macht sichtbar, wie schnell menschliche Wunschvorstellungen (Liebe, Zukunft, gesellschaftlicher Aufstieg) in eine Ökonomie von Leistung und Gegenleistung übergehen. Die Alte personifiziert eine »Dienstleisterin« der vorindustriellen Gesellschaft, die zugleich stigmatisiert (als »Hexe«) und gebraucht wird (als Ratgeberin). ([Faustedition][1])
Zusammenfassend 874-875
In den zwei Versen verdichtet Goethe somit:
die Abwertung jugendlicher Überheblichkeit,
das niederschwellige Versprechen von Wunscherfüllung,
das allgegenwärtige Motiv des Handels (zwischen Menschen, Klassen, sogar zwischen Mensch und Teufel).
Die Alte wird dadurch zur kleinen, aber prägnanten Spiegel­figur Gret­chens und Mephistos zugleich: Sie kennt die Sehnsüchte junger Frauen, bietet gegen »Bezahlung« (explizit oder implizit) ihre Künste an und erinnert ironisch daran, wie verführerisch – und wie gefährlich – die Erfüllung von Wünschen sein kann.

Bürgermädchen.
Agathe fort! ich nehme mich in Acht876
Anrede & Imperativ: Mit »Agathe fort!« stößt das Bürgermädchen seine Freundin fast körperlich von sich weg. Der knappe Imperativ (»fort!«) erzeugt Bewegung und Dringlichkeit – sie will sofort Distanz schaffen.
Selbstschutzformel: »ich nehme mich in Acht« ist eine zeittypische Redewendung für »ich passe auf meinen Ruf auf«. Das eingefügte Personalpronomen »ich« betont ihre Eigenverantwortung und deutet zugleich den sozialen Druck an, unter dem junge Frauen stehen.
Metrik & Klang: Im lockeren Knittelvers (vier Hebungen, freier Füllungsdruck) fällt der einsilbige Imperativ »fort!« wie ein Schlagwort, bevor der Rhythmus in der Wendung »ich neh‑me mich in Acht« wieder ins Gleichmaß zurückgleitet – ein lautlicher Spiegel der hastigen Abwehr, gefolgt von demonstrativer Selbstkontrolle.
Sozialer Kontext: Die Sorge gilt nicht einer realen Gefahr, sondern möglichen Gerüchten. Goethe zeichnet hier den engen Moralkodex des Kleinbürgertums nach und lässt früh anklingen, welch machtvolle Rolle die »öffentliche Meinung« im Faust‑Drama spielen wird.

Mit solchen Hexen öffentlich zu gehen;877
Abwertung & Projektion: Das Wort »Hexen« dient nicht als okkultes, sondern als gesellschaftliches Stigma – eine ältere, vielleicht freizügigere Frau wird zur Außenseiterin erklärt. Das Bürgermädchen projiziert eigene Unsicherheit auf eine vermeintlich moralisch zweifelhafte Andere.
Steigerung durch Deixis: »solchen« verallgemeinert den Vorwurf; es genügt der geringste Verdacht, um jemanden in die Schublade »Hexe« zu stecken. Damit entlarvt Goethe den Mechanismus vorschneller Verurteilung.
Schlüsselwort »öffentlich«: Nicht das Zusammensein an sich, sondern der Anblick »in der Öffentlichkeit« ist bedrohlich. Die Zeile lenkt den Blick auf den Schauplatz Stadtmauer/Tor – eine Schwelle zwischen privatem und öffentlichem Raum, wo Beobachtet‑Werden allgegenwärtig ist.
Foreshadowing im Motiv »Hexe«: Das Wort wirft einen Schatten auf spätere Szenen – besonders Gretchens Begegnung mit der echten Hexenküche. Schon hier flackert das Thema Aberglauben auf, das Fausts Welt mit der volkstümlichen Sphäre verbindet.
Zusammenfassend 876-877
In diesen zwei scheinbar beiläufigen Zeilen kulminieren mehrere zentrale Motive des »Faust«: Kontrolle des weiblichen Rufes, Macht des öffentlichen Blicks, und die rasche Dämonisierung des Fremden. Das Bürgermädchen wirkt komisch‑bieder, doch seine Angst vor Rufschädigung ist ernst­­‑haft – sie kündet von jener gesellschaftlichen Engstirnigkeit, an der Gretchen später tragisch zerbrechen wird. Goethe verwebt also schon im frühen »Spaziergang vor dem Tore« (V. 808 ff.) soziales Kolorit mit subtiler Vorausdeutung des Dramas.

Sie ließ mich zwar, in Sanct Andreas Nacht,878
»Sie« verweist auf eine Personifikation oder eine mythische, schicksalhafte Macht – gemeint ist hier eine volkstümliche Tradition oder magische Praktik, welche dem Mädchen eine Zukunftsschau ermöglicht hat.
Die »Sanct Andreas Nacht« bezeichnet den Vorabend des Andreasfestes (Andreasnacht, 29. auf 30. November). Im Volksglauben galt diese Nacht als Zeitpunkt für Liebesorakel, bei denen unverheiratete Mädchen ihren zukünftigen Partner »sehen« konnten.
Die Erwähnung eines spezifischen christlichen Heiligentages verbindet volkstümliche Rituale mit kirchlichem Kalender und vermittelt so ein Spannungsverhältnis zwischen christlicher und heidnisch-magischer Tradition.
Sprachlich entsteht eine geheimnisvolle Stimmung durch die präzise Nennung des Tages. Die Formulierung »ließ mich zwar« impliziert jedoch, dass dieses Erlebnis vielleicht nicht ganz zuverlässig oder endgültig ist.

Den künftgen Liebsten leiblich sehen.879
»Den künftgen Liebsten« meint den zukünftigen Geliebten oder Ehemann, also das Ziel des Liebesorakels.
»leiblich« betont die körperlich-konkrete Erscheinung. Damit hebt das Bürgermädchen hervor, dass es sich nicht bloß um eine abstrakte Vision oder einen Traum handelte, sondern um eine lebendige, nahezu reale Begegnung.
Die Formulierung impliziert Glauben und gleichzeitig ein Spiel mit der Glaubwürdigkeit. Die erzählende Person ist überzeugt oder will zumindest überzeugend wirken, doch die Betonung des Körperlichen hat etwas Naives, ja sogar ironisch Unterstreichendes. Das Körperliche (»leiblich«) kontrastiert mit dem eigentlich immateriellen Charakter eines Orakels oder einer Zukunftsvision.
Ein Bürgermädchen berichtet von einem volkstümlichen Aberglauben, wonach in der Andreasnacht (30. November) jungen Frauen im Traum oder in einer Vision ihr zukünftiger Geliebter oder Ehemann erscheinen könne. Das Bürgermädchen gibt zu erkennen, dass sie dieses Ritual tatsächlich durchgeführt und dabei tatsächlich eine konkrete Erscheinung ihres zukünftigen Partners gehabt habe.
Zusammenfassend 878-879
Goethe verwendet in diesen Versen volkstümliche Sprache und greift ein traditionelles Motiv (Liebesorakel) auf, um eine volkstümliche, volkstheatrale Atmosphäre zu schaffen.
Der Rhythmus und der Reim sind unauffällig; die Verse sind im jambischen Versmaß geschrieben und fügen sich natürlich in den Dialog der Szene ein.
Goethe zeigt hier exemplarisch, wie Volksglauben und Alltagszauber im Leben einfacher Bürger eine Rolle spielen, und schafft dadurch Nähe zu den Figuren.
Diese Verse dienen dazu, die Atmosphäre des Ostersonntags-Spaziergangs (»Vor dem Thor«) zu vertiefen, indem sie die Vermischung von Volksfrömmigkeit, Magie und Alltagsleben illustrieren. Das Aberglaubenmotiv verweist zugleich auf Fausts eigene spätere Erfahrungen mit Magie, Visionen und Realitätssuche. Die scheinbar harmlose, naiv-volkstümliche Erwähnung des Liebesorakels wirft implizit zentrale Fragen von Wahrheit und Einbildung, Wunsch und Realität auf, die später zentrale Themen des Stückes werden.

Die Andre.
Mir zeigte sie ihn im Krystall,880
Die zweite Sprecherin berichtet von einer Wahrsagerin (»sie«), die ihr den Geliebten oder zukünftigen Partner in einer Kristallkugel gezeigt hat. Die Kristallkugel als magisches, esoterisches Symbol verweist auf Volksaberglauben, romantische Sehnsucht sowie die Neugierde auf das eigene Schicksal. Die Verwendung des Kristalls steht sinnbildlich für eine verschwommene, aber faszinierende Zukunftsvorstellung, typisch für Goethes kritische Darstellung volkstümlichen Aberglaubens.
Formal besteht dieser Vers aus jambischen Hebungen (»Mir zeig-te sie ihn im Krys-tall«), was einen leicht fließenden, rhythmischen Ton erzeugt, der die geheimnisvolle Atmosphäre unterstreicht.

Soldatenhaft, mit mehreren Verwegnen;881
Der Geliebte wird näher beschrieben: Er erscheint in der Kugel als Soldat, in militärischer Haltung und in Gesellschaft anderer, vermutlich ebenso kühner Kameraden. Das Attribut »Soldatenhaft« verweist auf Kraft, Männlichkeit, Abenteuerlust, aber auch Gefahr und Instabilität. Der Ausdruck »mit mehreren Verwegnen« suggeriert ein gesellschaftliches Umfeld von Mut und Draufgängertum, das sowohl anziehend als auch bedrohlich wirken kann.
Der jambische Rhythmus setzt sich hier fort (»Sol-da-ten-haft, mit meh-re-ren Ver-weg-nen«). Dabei wird das Wort »Verwegnen« besonders hervorgehoben, was einerseits die Faszination, andererseits aber auch die Gefahren andeutet, die mit einer solchen Verbindung verbunden sein könnten.
Zusammenfassend 880-881
Die beiden Verse spiegeln exemplarisch den Kontrast zwischen romantischer Erwartung und harscher Realität wider, wie Goethe ihn im gesamten Stück immer wieder inszeniert. Die junge Frau, die hier spricht, sieht ihren idealisierten Partner im Kristall, einem Symbol der Sehnsucht und Mystik. Doch er ist kein friedlicher Liebhaber, sondern ein Soldat unter waghalsigen Kameraden. Dies deutet bereits unterschwellig an, dass die Zukunft weniger romantisch als vielmehr ungewiss oder sogar gefährlich sein könnte, und lässt zugleich eine kritisch-ironische Haltung Goethes gegenüber populärer Wahrsagerei und naiven Hoffnungen erkennen.

Ich seh’ mich um, ich such’ ihn überall,882
Der Vers eröffnet mit einer emotionalen, unruhigen Atmosphäre. Die Sprecherin ist innerlich unruhig, sie erwartet oder erhofft etwas (bzw. jemanden), und diese Erwartung prägt ihre Wahrnehmung.
Die Verwendung der Verben »seh’« und »such’« in paralleler Struktur zeigt ihre intensive Anstrengung und ihre zielgerichtete Erwartungshaltung. Es entsteht ein Bild von ungeduldiger Hoffnung und zugleich wachsender Frustration.
Das Wort »überall« unterstreicht ihre Rastlosigkeit und innere Anspannung. Die Weite dieses Wortes kontrastiert stark mit der Leere der tatsächlichen Begegnung, die ausbleibt.

Allein mir will er nicht begegnen.883
Die Konjunktion »Allein« steht hier im Sinne von »aber« und signalisiert eine Enttäuschung, ein klares Gegenbild zur vorherigen Hoffnung.
Auffällig ist, dass das Verb »will« hier personalisiert verwendet wird. Der Gesuchte wird nicht zufällig nicht gesehen; die Sprecherin empfindet sein Ausbleiben, als sei es ein bewusster Akt seines Willens. Diese subjektive Wahrnehmung gibt dem Vers eine emotionale Intensität und Dramatik.
Die Negation »nicht begegnen« verstärkt die melancholische Stimmung. Trotz intensiver Suche findet die Begegnung nicht statt; die Figur bleibt einsam, unerfüllt in ihrer Sehnsucht zurück.
Zusammenfassend 882-883
Diese Verse stammen aus der Szene »Vor dem Thor«, wo Faust und Wagner unter die einfache Bevölkerung treten, die am Ostersonntag spazieren geht. In diesem Abschnitt entsteht ein lebendiger, volksnaher Dialog verschiedener Figuren. Die »Andre« ist hier ein junges Mädchen, das offensichtlich nach einem bestimmten jungen Mann Ausschau hält, ihn aber vergeblich sucht.
Goethe verwendet hier eine einfache, klare Sprache, typisch für den volksnahen Charakter dieser Szene.
Der jambische Rhythmus, für Goethes Faust typisch, vermittelt die Natürlichkeit des Volksgesprächs, zugleich trägt er die emotionale Unruhe der Sprecherin.
Die beiden Verse bilden einen emotionalen Spannungsbogen: erst die hoffnungsvolle, aktive Suche, dann die resignierte Feststellung des Scheiterns dieser Erwartung.
Symbolisch betrachtet spiegelt diese kurze Passage ein zentrales Thema in Goethes Faust: das Suchen und Nicht-Finden, die Sehnsucht nach Begegnung und Erfüllung, die letztlich oft unerfüllt bleibt.
Diese Stelle steht exemplarisch für das Scheitern der menschlichen Bemühung, durch bloße eigene Aktivität Glück und Zufriedenheit zu erreichen.
Die Figur des jungen Mädchens steht hier stellvertretend für eine alltägliche, menschliche Erfahrung: Das Leben ist geprägt von Hoffnungen und Erwartungen, die oft genug nicht erfüllt werden.
Die beiden Verse bilden somit eine kleine, aber prägnante Momentaufnahme menschlicher Sehnsucht und Enttäuschung, eingebettet in den lebendigen Volksdialog, der für die Szene »Vor dem Thor« charakteristisch ist.

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