Der Tragödie Erster Theil
Nacht. (11)
Faust allein.
Ich grüße dich, du einzige Phiole!690
Faust ist allein – die Szene beginnt in tiefer Einsamkeit und existenzieller Verzweiflung. Die Anrede an die »einzige Phiole« ist feierlich und fast liturgisch. Das Verb »grüßen« hat einen rituellen, respektvollen Klang. Die Phiole (ein kleines Glasgefäß) wird personifiziert, was ihre zentrale Bedeutung in diesem Moment betont: Sie ist keine bloße Sache, sondern Gegenstand einer fast religiösen Verehrung. Das Adjektiv »einzige« drückt aus, dass Faust all seine Hoffnung auf dieses Gefäß richtet – es ist sein letzter Ausweg, seine letzte Zuflucht, vielleicht auch sein letzter Trost. Damit bereitet Goethe die dramatische Spannung eines möglichen Selbstmords vor.
Die ich mit Andacht nun herunterhole,691
Die Geste des Herunterholens – vermutlich aus einem Regal oder Versteck – wird durch das Wort »Andacht« begleitet. »Andacht« ist ein stark religiös aufgeladener Begriff: Er evoziert die Haltung des Gebets, der inneren Sammlung, des Respekts vor dem Heiligen. Faust handelt nicht unbedacht oder verzweifelt-impulsiv – vielmehr mit ernster, fast zeremonieller Ruhe. Das Wort »nun« markiert den entscheidenden Moment: Es ist der Kulminationspunkt langer innerer Kämpfe. Die Bewegung ist zugleich einfach (er greift nach einem Gefäß) und ungeheuer symbolisch (er greift nach dem Tod, nach der metaphysischen Grenze).
In dir verehr’ ich Menschenwitz und Kunst.692
Hier löst sich der religiöse Ton in eine säkular-humanistische Richtung auf. Faust sieht in der Phiole nicht bloß ein Mittel zum Tod, sondern ein Produkt menschlicher Genialität: »Menschenwitz« steht für den scharfen, schöpferischen Verstand, »Kunst« für die technische Fähigkeit, Wissen wirksam umzusetzen. Damit verehrt er die Alchemie, die Pharmazie, vielleicht auch die moderne Naturwissenschaft – kurz: die gesamte geistige Schöpfungskraft des Menschen, die sich in diesem Destillat (vermutlich Gift) verkörpert. Dieser Vers verbindet Tod und Geist, Wissenschaft und Transzendenz. Die Phiole ist zugleich Werkzeug der Vernichtung und Symbol der höchsten menschlichen Leistung.
Zusammenfassend 690-692
In diesen drei Versen wird die Phiole als existenzielles Zentrum inszeniert. Fausts Haltung ist nicht panisch, sondern ehrfürchtig und tief reflektiert. Die Phiole steht für den Schnittpunkt zwischen Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, Geist und Stoff. Goethe schafft eine Atmosphäre zwischen liturgischem Ernst und rationalem Humanismus – und kündigt Fausts tragische Größe an: Er strebt nach mehr als Leben, nach letzter Erkenntnis, selbst wenn sie den Tod kosten sollte.
Du Inbegriff der holden Schlummersäfte,693
Dieser Vers ist eine poetische Anrufung eines Giftes oder eines narkotischen Tranks, das Faust mit dem Schlaf, ja mehr noch: mit dem Tod in Verbindung bringt. Die Metapher »Inbegriff der holden Schlummersäfte« umschreibt nicht einfach ein Schlafmittel, sondern erhöht es sprachlich ins Mythisch-Allegorische.
»Inbegriff« suggeriert eine Essenz, ein Konzentrat, gleichsam das destillierte Prinzip des Einschläferns oder des Sterbens.
»hold« adelt die Wirkung des Giftes: Es wird nicht als gewaltsam oder schrecklich empfunden, sondern als sanft, verführerisch, beinahe tröstlich.
»Schlummersäfte« ist eine poetische Umschreibung für ein narkotisches Mittel, das Schlaf herbeiführt – in Goethes Kontext oft mit Tod oder Bewusstlosigkeit assoziiert.
Die Anrufung selbst ist strukturell einem Gebet oder einer liturgischen Beschwörung ähnlich: Faust wendet sich nicht rational an ein Objekt, sondern personifiziert es, bittet es fast wie eine Gottheit um Gnade.
Du Auszug aller tödlich feinen Kräfte,694
Hier intensiviert Faust das Bild. Während im ersten Vers noch die Schlafwirkung im Vordergrund stand, benennt dieser Vers nun die tödliche Dimension.
»Auszug« bedeutet hier »Extrakt«, eine konzentrierte Essenz – eine alchemistische oder pharmazeutische Vorstellung, passend zu Fausts naturwissenschaftlichem Hintergrund.
»aller tödlich feinen Kräfte«: Die Kräfte sind fein – also subtil, ätherisch, nicht gewalttätig oder brutal –, und zugleich tödlich, was eine paradox-spirituelle Dimension aufruft: Der Tod kommt sanft, unsichtbar, beinahe elegant.
Die Phrase evoziert chemische oder alchemistische Vorstellungen – eine Giftmischung aus höchsten Essenzen –, ist zugleich aber auch metonymisch für einen Übergang: vom Leben zum Tod, vom Wachzustand zur Transzendenz.
Im Gesamten entsteht ein oszillierendes Bild zwischen Schlaf und Tod, zwischen Gnade und Selbstvernichtung. Faust sieht in der Substanz ein Mittel zur Überwindung seiner existenziellen Begrenztheit.
Erweise deinem Meister deine Gunst!695
Der dritte Vers ist performativ: Faust richtet eine Bitte oder eher einen Befehl an die Substanz, die er zuvor erhöht hat.
»Erweise« bedeutet hier: Zeige, gewähre, lasse wirksam werden. Das Verb impliziert Handlung und Wirkung – die passiv-meditative Anrufung wird zur aktiven Bitte um Wirkung.
»deinem Meister«: Faust bezeichnet sich selbst als Meister – in Anlehnung an seine naturwissenschaftliche und magische Kompetenz. Das ist mehr als nur Gelehrtentum: Es verweist auf die Hybris des Menschen, der sich selbst als Beherrscher der Naturkräfte begreift.
»deine Gunst«: Wieder eine Höflichkeitsformel, die an eine höfische Gnade erinnert – die Wirkung des Giftes erscheint nicht als Gewalt, sondern als Zuwendung, ja als Liebesbeweis.
Damit stellt Faust eine fast sakrale Beziehung zu dieser Substanz her: Er stilisiert sich zum Herrscher über das Gift, bittet aber zugleich wie ein Gläubiger um dessen Wirkung – ein Widerspruch zwischen Beherrschung und Unterwerfung, Kontrolle und Hingabe.
Zusammenfassend 693-695
Diese drei Verse markieren den Moment, in dem Faust aus seiner intellektuellen Verzweiflung heraus zum letzten Mittel greift: der selbstgewählten Überschreitung der Welt durch den Tod. Doch er bleibt ambivalent. Die Anrufung ist poetisch, beinahe zärtlich – kein Aufschrei der Verzweiflung, sondern eine liturgische, ja ästhetische Verklärung des Giftes. Faust steht an der Schwelle zwischen Weltflucht und metaphysischem Begehren. Dass er nicht trinkt, sondern durch die Osterglocken abgelenkt wird, zeigt, dass er noch nicht bereit ist, loszulassen – die Sehnsucht nach dem »Mehr« bleibt bestehen, und sie wird zur Triebfeder des Pakts mit Mephisto.
Ich sehe dich, es wird der Schmerz gelindert,696
Faust spricht hier zu einem Objekt oder einer Vision, die in der vorhergehenden Szene nicht explizit benannt ist, aber aus dem Kontext heraus (der »Mond« in Vers 693 oder das Buch mit dem Zeichen des Makrokosmos) interpretiert werden kann.
Der Akt des »Sehens« fungiert als Auslöser für eine seelische Erleichterung: »der Schmerz« – zuvor durch seine erkenntnistheoretische Verzweiflung und das Gefühl der Begrenztheit des menschlichen Wissens motiviert – wird durch das visuelle Erfassen eines transzendenten oder symbolischen Objekts gelindert.
Linguistisch steht die Zäsur zwischen »ich sehe dich« und »es wird der Schmerz gelindert« für eine Kausalität: Das Schauen ist nicht bloß passiv, sondern heilsam. Das Sehen wird so zu einer fast mystischen Handlung.
Ich fasse dich, das Streben wird gemindert,697
Die körperlichere Geste des »Fassens« folgt auf das »Sehen«. Das sinnliche Begreifen (im doppelten Sinne: körperlich und intellektuell) führt zur Minderung des »Strebens«.
»Streben« ist bei Goethe ein zentrales Motiv – es bezeichnet Fausts unstillbares Verlangen nach Erkenntnis, Erfahrung und Transzendenz. Dass dieses Streben »gemindert« wird, bedeutet nicht seine Auflösung, sondern eine temporäre Beruhigung.
Der Parallelismus zur vorigen Zeile verstärkt das Motiv: visuelle Wahrnehmung → Schmerz gelindert, taktile Erfahrung → Streben gemindert. Die Subjekt-Objekt-Beziehung wirkt hier nahezu magisch: das Du (oder Es), das er sieht und fasst, hat Macht über Fausts Innenleben.
Des Geistes Fluthstrom ebbet nach und nach. –698
Hier kulminiert der Effekt in einem Bild, das die vorhergehenden Wirkungen zusammenfasst. Die ungestüme Bewegung des Geistes, als »Fluthstrom« imaginiert, kommt langsam zur Ruhe.
Das Wort »ebbet« – archaisch für »ebbt«, also das Zurückweichen der Flut – evoziert ein Naturbild, das innere Zustände spiegelt. Das Streben des Geistes ist hier wie ein Ozean, der von übermäßiger Unruhe geprägt ist und nun allmählich verebbt.
Das Bild des Geistes als Flutstrom verweist zudem auf die Überfülle an Gedanken, Sehnsüchten und intellektuellen Ambitionen, die Faust überfordert haben. Das Nachlassen dieser Strömung zeigt eine seltene Szene der Ruhe, möglicherweise auch des Übergangs zu einer anderen Bewusstseinsstufe.
Der Gedankenstrich – isoliert stehend – markiert keine neue Aussage, sondern ein Innehalten. Er fungiert als dramatischer Raum der Stille. Dieser formale Kunstgriff unterbricht die Bewegung der Sprache selbst – wie das verebbende Streben des Geistes.
Gleichzeitig öffnet er semantisch einen Horizont: eine Pause im Textfluss, die den Leser in die Leerstelle zwingt. Hier endet kein Gedanke; vielmehr entsteht Raum für ein Schweigen, das selbst beredt ist. Es ist ein Schweigen der Kontemplation, der inneren Sammlung – oder auch der Sprachlosigkeit angesichts einer transzendenten Erfahrung.
Zusammenfassend 696-698
Diese Verse markieren einen inneren Wendepunkt. Faust erlebt eine Vision (möglicherweise durch das magische Zeichen), die ihn für einen Moment von seinem existenziellen Leid befreit. Die Linderung von Schmerz und Streben wird nicht als Erlösung, sondern als flüchtige Stille inmitten des Sturms dargestellt.
Die Sprache ist ruhig, der Rhythmus gleichmäßig, der Klang weich und fließend – ganz im Gegensatz zur vorangehenden leidenschaftlichen Verzweiflung.
Das Sehen und Fassen stehen für zwei klassische Stufen der Erkenntnis: Wahrnehmung und Aneignung. Doch beide führen nicht zu Erleuchtung, sondern zu Minderung. Goethes Anthropologie bleibt hier ambivalent: Der Geist muss sich beruhigen – aber nicht aufhören zu streben. Das Streben wird gemindert, nicht gelöscht.
Am Schluss steht das Schweigen. Ein Moment der mystischen Introspektion – bevor Mephisto eintritt und alles wieder in Bewegung gerät.
Ins hohe Meer werd’ ich hinausgewiesen,699
Faust verwendet hier ein kraftvolles, symbolisch aufgeladenes Bild: das »hohe Meer«. Das Meer ist traditionell ein Zeichen des Unbekannten, der Weite, aber auch der Gefährdung. »Hinausgewiesen« kann doppeldeutig verstanden werden:
1. Passivisch und schicksalhaft: Faust fühlt sich von einer höheren Macht oder vom Leben selbst aus dem sicheren, begrenzten Bereich des Bekannten hinausgedrängt.
2. Aktiv und sehnsüchtig: Gleichzeitig liegt im »hinausgewiesen werden« auch eine Bewegung des Aufbruchs – wie ein Schiffsreisender, der sich freiwillig auf den Weg ins Offene macht.
Der Vers evoziert somit sowohl den Impuls der Flucht als auch den des Aufbruchs. Es ist ein Bild für seine existenzielle Wende – der Gelehrte verlässt die Welt des Studierzimmers (des Wissens, der Bücher, der Grenzen) und wendet sich dem weiten, unbestimmten Raum des Lebens, der Erfahrung, des Erlebens zu.
Die Spiegelfluth erglänzt zu meinen Füßen,700
Hier erscheint das Meer nicht bedrohlich, sondern fast mystisch und schön: Die »Spiegelfluth« – ein poetisches Kompositum – beschreibt eine glatte, glänzende Wasserfläche, die das Licht reflektiert. Das Bild ist doppeldeutig:
Spiegelbildlichkeit: Das Meer wird zum Spiegel – ein Symbol der Selbsterkenntnis. Faust blickt symbolisch auf sich selbst, auf seine inneren Tiefen, auf das Unbewusste.
Verführungskraft der Schönheit: Das glänzende Meer wirkt verlockend, fast ästhetisch transzendierend. Das Glänzen zu seinen Füßen kann als Zeichen gelesen werden, dass sich ihm neue Horizonte eröffnen.
Der Vers gibt dem Aufbruch eine ästhetische, fast sakrale Note. Es ist kein Sprung ins Dunkle, sondern in eine verführerische Schönheit des neuen Tages. Auch ein Hauch romantischer Ironie liegt in der Tatsache, dass Faust – der zweifelt und verzweifelt – jetzt plötzlich auf Schönheit und Glanz reagiert.
Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag.701
Dieser Vers kulminiert den inneren Wandlungsprozess. Der neue Tag – Symbol der Hoffnung, des Anfangs, der Erneuerung – »lockt«. Die Verführung ist nun vollständig ausgesprochen: Faust wird von einer neuen Zukunft, einem anderen Dasein gerufen.
»Neue Ufer« stehen für neue Lebensbereiche, neue Erfahrungen, vielleicht sogar für das Transzendieren der bisherigen Existenz.
»Lockt« enthält sowohl die Hoffnung auf Erfüllung als auch den Hinweis auf eine mögliche Täuschung – denn das Locken kann auch zur Verführung durch Mephisto gehören.
Die Tagesmetaphorik steht hier im bewussten Kontrast zur Dunkelheit der vorherigen Szene – »Nacht« – und leitet poetisch über zur Entscheidung Fausts, sich mit der »anderen Macht« (Mephisto) einzulassen, um endlich ein anderes, erfahrungsreicheres Leben zu führen.
Zusammenfassend 699-701
Diese drei Verse verdichten in hochpoetischer Sprache Fausts existentielle Grenzerfahrung. Der Gelehrte wird an den Rand seines bisherigen Selbst gewiesen und zugleich vom Unbekannten, Glänzenden, Verheißungsvollen angelockt. Die Sprache spielt mit Ambivalenzen: Freiheit und Gefahr, Erkenntnis und Illusion, Sehnsucht und Verführung. Goethe gelingt damit ein poetisches Miniaturbild des faustischen Drangs – hinaus ins Offene, wissend um das Risiko und dennoch getrieben von der Hoffnung auf Mehr.
Ein Feuerwagen schwebt, auf leichten Schwingen,702
Goethe bedient sich hier einer stark visionären, fast apokalyptischen Bildsprache. Der »Feuerwagen« evoziert Assoziationen zur biblischen Himmelfahrt des Propheten Elias (vgl. 2 Kön 2,11). Der Wagen wird nicht gezogen, sondern »schwebt«, was Schwerelosigkeit, Überirdisches andeutet. »Leichte Schwingen« unterstreichen diesen Eindruck: sie symbolisieren die spirituelle Leichtigkeit, mit der sich Faust aus dem Bann der Erde zu lösen beginnt. Der Vers ist metrisch getragen und öffnet ein imaginatives Fenster in die Sphäre des Übersinnlichen.
An mich heran! Ich fühle mich bereit703
Der Wagen kommt nicht zufällig vorbei, sondern nähert sich »an mich heran« – Faust selbst wird zur Zielgestalt eines metaphysischen Ereignisses. Die lakonische Zwischenwendung »Ich fühle mich bereit« ist bedeutsam: Fausts Bereitschaft ist nicht rational begründet, sondern intuitiv (»fühle«). Die Wendung stellt eine existentielle Öffnung dar: Faust tritt aus der Verzweiflung der vorangehenden Zeilen (Selbstmordgedanken, Lebensüberdruss) in ein Stadium der Hoffnung oder zumindest Bereitschaft zur Grenzüberschreitung.
Auf neuer Bahn den Aether zu durchdringen,704
Die »neue Bahn« verweist auf einen alternativen Weg – nicht mehr den Weg der irdischen Wissenschaft und Gelehrsamkeit, sondern den einer anderen, vielleicht magisch-mystischen Erkenntnisform. »Aether« ist ein ambivalenter Begriff: bei den antiken Griechen war er die höchste, reinste Sphäre oberhalb der Luft, Ort der Götter – bei Goethe trägt er zudem naturphilosophische Konnotationen. Faust will ihn »durchdringen«, also nicht bloß betreten, sondern aktiv in ihn eindringen, ihn erforschen, ihn überwinden – eine Hybris, aber auch ein Akt höchsten Erkenntnisstrebens.
Zu neuen Sphären reiner Thätigkeit.705
Fausts Ziel ist nicht ein passives Verweilen in himmlischen Gefilden, sondern das Erreichen von »Sphären«, in denen »reine Thätigkeit« herrscht. Diese Wendung ist zentral: sie steht für eine idealisierte Welt des ungetrübten, schöpferischen Wirkens – jenseits der Beschränkungen des irdischen Lebens, frei von Enttäuschung, Zweifel und Stillstand. Das Adjektiv »rein« hebt hervor, dass es sich um eine von allen sinnlichen oder niederen Regungen gereinigte Aktivität handelt – das Ideal des tätigen Geistes in reiner Form.
Zusammenfassend 702-705
Diese vier Verse sind hochverdichtet und markieren eine existentielle Wende. Faust ist an einem Schwellenmoment, in dem das Mystische, Visionäre in sein Bewusstsein einbricht. Die Szene lässt sich sowohl als Vision innerer Transformation lesen als auch als theatralische Vorbereitung auf die Erscheinung des Erdgeistes wenige Verse später. Der »Feuerwagen« bleibt dabei ein schillerndes Symbol für Erlösung, Sehnsucht, aber auch Gefahr: denn was Faust sucht, übersteigt das Menschliche – und das wird Folgen haben.
Dieß hohe Leben, diese Götterwonne!706
Faust ruft hier in einem pathetisch-ergriffenen Ton aus, was er als Ideal höchsten Daseins empfindet: ein »hohes Leben«, eine »Götterwonne«. Beide Begriffe sind stark überhöht: »hohes Leben« bezeichnet eine Lebensform, die nicht mehr irdisch, sondern geistig-transzendent ist – ein Leben auf einer höheren, vielleicht göttlichen Bewusstseinsstufe. »Götterwonne« ist eine dichterische Intensivierung dieses Zustands und spielt auf eine ekstatische Glückseligkeit an, wie sie den Göttern zugeschrieben wird – ein Zustand jenseits von Leid, Begrenztheit und irdischer Mühsal.
Die Alliteration (Leben – Wonne) und das Pathos der Exklamation betonen, dass Faust in diesem Moment eine Ahnung von einer übermenschlichen Daseinsform hat – das Ziel seines rastlosen Strebens. Doch diese Vision ist nicht ruhig kontemplativ, sondern aufgeladen mit Spannung, Selbstinfragung und Tragik.
Du, erst noch Wurm, und die verdienest du?707
Die zweite Zeile folgt unmittelbar mit einer selbstkritischen Wendung. Faust spricht sich selbst an (»du«), stellt sich aber in denkbar niedrigstem Bild dar: als »Wurm«. Dieses Bild hat biblische und literarische Tiefenschichten. Es verweist auf die Vergänglichkeit und Niedrigkeit des Menschen (»Ich bin ein Wurm und kein Mensch«, Psalm 22,7), auf seine Erdverbundenheit und Unwürdigkeit. Der Kontrast zur »Götterwonne« könnte größer kaum sein.
Mit dem rhetorischen Mittel der rhetorischen Frage – »und die verdienest du?« – zweifelt Faust an der Legitimität seines Anspruchs auf das Höhere. Er erkennt im selben Atemzug, in dem er das Transzendente anruft, seine eigene Unzulänglichkeit und Erdenhaftigkeit. Die Frage ist nicht bloß moralisch gemeint, sondern existentiell: Wie kann ein Wesen, das eben noch ein »Wurm« war, das Göttliche verdienen?
Zugleich liegt in diesem Moment aber auch die Tragik Fausts: sein Drang nach Höherem kollidiert mit seiner Selbstsicht als unzureichendes Geschöpf. Der ganze dramatische Spannungsbogen der Figur – zwischen titanischem Streben und tiefem Zweifel – verdichtet sich in diesen zwei Zeilen. Es ist das Grundthema der Hybris und der Selbstreflexion des modernen Menschen.
Zusammenfassend 706-707
Insgesamt zeigt sich in diesen beiden Versen das Doppelgesicht Fausts: die Sehnsucht nach Übermenschlichkeit und der gleichzeitige Zweifel an der eigenen Würde und Fähigkeit dazu. Die Sprache ist aufgeladen, emotional, bilderreich – Ausdruck einer Seele im Extremzustand. Der »Wurm« spricht von der Demutstradition der Mystik und der biblischen Anthropologie, die »Götterwonne« von faustischer Auflehnung gegen die Begrenztheit des Menschen. Diese Spannung treibt das gesamte Drama.
Ja, kehre nur der holden Erdensonne708
»Ja«: Dieses bekräftigende Partikel gibt den Ton der Entschlossenheit an. Es ist kein Zögern mehr, sondern ein inneres »Ja« zur Wende, vielleicht sogar zum Tod.
»kehre nur … den Rücken zu«: Das Bild des Rückenkehrens ist ein symbolisch starker Ausdruck für endgültigen Abschied. Es ist ein bewusster, aktiver Akt des Sich-Abwendens.
»der holden Erdensonne«: Diese Metapher trägt eine doppelte Bedeutung. Wörtlich meint sie die Sonne als Lebensspenderin, Lichtquelle und Symbol des Tages und des Lebens. Poetisch steht sie aber auch für das irdische Dasein, für Schönheit, Hoffnung, Natur, Sinnlichkeit und Freude. Dass Faust dieser »holden« – also lieblichen, anmutigen – Sonne den Rücken kehren will, zeigt seinen tiefen existenziellen Bruch mit dem Leben.
Er nimmt nicht nur Abschied vom Licht des Tages, sondern auch von allem, was das Leben lebenswert macht.
Entschlossen deinen Rücken zu!709
»Entschlossen«: Das Adjektiv bringt den inneren Zustand Fausts auf den Punkt: Er zögert nicht mehr. Der Entschluss zum Suizid scheint gereift. Es ist ein Moment der kalten Klarheit.
Wiederholung des Gedankens: Durch die zweite Zeile wird der Gehalt der ersten verstärkt. Es liegt hier eine Art Appell an sich selbst vor – ein innerer Befehl, eine Selbstverhärtung, wie ein letzter Anstoß zur Tat. Der Rücken wird nicht zufällig zugekehrt, sondern entschlossen – dies betont die Willensmacht, aber zugleich auch den tiefen Verzweiflungsgrad.
Zusammenfassend 708-709
Diese zwei Verse verdichten ein zentrales Moment des Faust-Dramas: das existenzielle Nein zum Leben. Es ist kein wütendes, impulsives Nein, sondern ein reflektiertes, erschöpftes. Faust ist an einem Punkt angelangt, wo das Licht der Welt ihn nicht mehr wärmt. Und obwohl er weiß, dass es »hold« ist, hat er sich bereits abgewandt. Die Formulierungen sind klassisch streng und von innerer Dramatik getragen – Goethes Sprache erreicht hier eine starke emotionale Verdichtung bei äußerster formaler Einfachheit.
Wenn du möchtest, können wir den weiteren Verlauf (z. B. was nach dem Glockenschlag passiert) oder auch intertextuelle Verbindungen (z. B. zu biblischer oder stoischer Motivik) näher betrachten.
Vermesse dich die Pforten aufzureißen710
»Vermesse dich«
Die Formulierung »vermesse dich« hat eine doppelte Bedeutung: Zum einen als Imperativ von »sich vermessen«, also sich etwas wagen, was über das gewöhnlich Erlaubte oder Mögliche hinausgeht – eine kühne, vielleicht auch vermessene Tat. Zum anderen klingt in »vermesse dich« auch das Wagnis an, die Grenzen des Menschlichen zu überschreiten – ein zentrales Motiv Fausts. Der Imperativ richtet sich an ihn selbst: Es ist ein Akt des Selbstanspornes, eine Provokation gegen seine eigene Zaghaftigkeit.
»die Pforten aufzureißen«
Hier wird ein Bild des Gewaltsamen und Grenzüberschreitenden gezeichnet. Die »Pforten« sind nicht einfach zu öffnen – sie müssen aufgerissen werden. Das ist eine Geste, die einen Bruch mit dem Gewöhnlichen markiert. In metaphorischer Hinsicht stehen diese Pforten für die Grenzen der Erkenntnis, der verbotenen oder metaphysischen Sphären, möglicherweise auch für das Tor zur anderen Welt, zum Übersinnlichen, zum »Geistreich«.
Der Ausdruck erinnert an religiöse oder mystische Schwellenorte – Pforten zu jenseitigem Wissen, zur Wahrheit, vielleicht auch zur Verdammnis. In Goethes Kontext sind sie mehrdeutig: einerseits das Tor zu höherer Erkenntnis, andererseits auch das Tor zur dämonischen Sphäre, die Faust in seiner Hybris anstrebt.
Vor denen jeder gern vorüber schleicht.711
»Vor denen«
Bezieht sich eindeutig auf die zuvor genannten »Pforten«. Diese Schwelle ist für andere ein Ort der Furcht oder zumindest des Zögerns.
»jeder«
Mit dieser Verallgemeinerung stellt Faust sich selbst als Ausnahme dar. Die Menschheit im Allgemeinen, so behauptet er, scheut sich, diesen Grenzbereich zu betreten. Dies hebt seine eigene Haltung als besonders hervor: Er ist bereit, das zu tun, wovor alle anderen zurückschrecken.
»gern vorüber schleicht«
Das »Schleichen« evoziert ein Bild von Angst, Heimlichkeit und Vermeidung. Der Begriff hat etwas Tierhaftes, Unentschlossenes, beinahe Feiges. Das Wort »gern« unterstreicht die Freiwilligkeit dieser Vermeidung: Die Menschen ziehen es nicht nur vor, diese Grenze nicht zu überschreiten – sie tun es aus einer inneren Bequemlichkeit oder Angst heraus sogar mit einem gewissen Wohlwollen.
Diese Passage enthält eine leise Verachtung für jene, die sich mit dem Gewöhnlichen zufriedengeben – ein Zug, der Fausts tiefes Unbehagen mit dem akademischen, bürgerlichen Leben und seiner Begrenztheit ausdrückt.
Zusammenfassend 710-711
Diese beiden Verse spiegeln Fausts existenziellen Entschluss, eine Grenze zu überschreiten, die andere aus Angst meiden. Es ist der Moment der Selbstzuspitzung: Er appelliert an seinen Willen, er will sich nicht länger mit oberflächlichem Wissen, mit konventioneller Frömmigkeit oder Wissenschaft zufriedengeben. Der Aufbruch zum Übersinnlichen ist gewaltsam, riskant – und einsam. Goethe setzt hier ein dichtes Bild für den Drang des Menschen, das Unerlaubte zu erforschen, selbst auf die Gefahr des Untergangs hin.
Die Szene ist ein Vorbote des Pakts mit Mephistopheles: Wer sich so weit vorwagt, ruft zwangsläufig Kräfte herbei, die sich dem Menschlichen entziehen. Der Wille zum Aufreißen der verbotenen Pforte ist bereits Teil des Falls – oder der Befreiung.
Hier ist es Zeit durch Thaten zu beweisen,712
Dieser Vers leitet eine neue Haltung Fausts ein. Die Wendung »Hier ist es Zeit« ist performativ – sie zeigt eine Dringlichkeit, einen Umschlag im inneren Zustand. Es ist kein bloßes Nachdenken mehr, sondern ein Moment der Entscheidung: jetzt muss gehandelt werden.
Das »durch Thaten zu beweisen« verweist auf ein zentrales Motiv der Aufklärung und zugleich der Moderne: Erkenntnis allein genügt nicht – es braucht die Tat. Faust will nicht länger passiver Wissender oder Grübler sein, sondern aktiv Eingreifender, Weltgestalter.
Gleichzeitig schwingt in der Formulierung ein Rechtfertigungsbedürfnis mit: »beweisen« impliziert, dass Faust sich selbst und vielleicht einer höheren Instanz zeigen will, dass er nicht gescheitert ist. Die Tat wird zum Prüfstein des Menschseins.
Daß Mannes-Würde nicht der Götterhöhe weicht,713
Der zweite Vers formuliert den Anspruch, den Faust an sich selbst stellt: Die »Mannes-Würde« – also die Würde des Menschen, besonders in seiner männlich-aktiven, schöpferischen Ausprägung – soll sich nicht vor der »Götterhöhe« beugen oder ihr nachstehen. Hier klingt ein titanischer Impuls an, der an die Hybris der antiken Tragödie erinnert.
»Mannes-Würde« ist bewusst pathetisch gewählt. Sie meint nicht nur individuelle Würde, sondern die der ganzen Gattung Mensch, in ihrer höchsten Bestimmung: als freier, tätiger Geist.
»Götterhöhe« verweist auf die transzendente Sphäre, auf das Unerreichbare. Faust anerkennt deren Größe, aber will zeigen, dass der Mensch nicht notwendig geringer ist. Im Unterton klingt ein Aufbegehren mit: Warum sollten wir Menschen uns den Göttern unterordnen? Ist nicht im Menschen selbst eine göttliche Kraft?
Die Stellung des Verbs »weicht« am Ende des Verses bringt die Spannung dieser Behauptung auf den Punkt. Das Bild ist militärisch oder ritterlich: nicht ausweichen, nicht fliehen, sondern standhalten – in der Konfrontation mit dem Göttlichen.
Zusammenfassend 712-713
Die beiden Verse bilden eine klare antithetische Bewegung: vom inneren Entschluss (»Hier ist es Zeit …«) zur Herausforderung des Göttlichen (»… nicht der Götterhöhe weicht«). Sie stehen am Übergang zwischen kontemplativer Resignation und tätigem Weltzugriff.
Faust begreift sich hier als Repräsentant des menschlichen Strebens. Diese zwei Verse fassen in nuce das Grundmotiv des ganzen Dramas: das Streben des Menschen nach mehr – nach Erkenntnis, nach Tat, nach Gottgleichheit.
Zugleich sind sie hochambivalent: Ist Fausts Anspruch heroisch oder überheblich? Ist seine Tatkraft eine Form der Selbstermächtigung oder bereits ein Fall ins Dämonische? Gerade diese doppelte Lesbarkeit macht den dramatischen Reiz aus.
Vor jener dunkeln Höhle nicht zu beben,714
Faust beschreibt hier sich selbst im Versuch, keine Furcht zu zeigen vor der »dunkeln Höhle«. Diese Höhle ist nicht konkret, sondern eine metaphorische Chiffre. Sie verweist auf einen inneren seelischen Ort, einen Grenzbereich des Bewusstseins, vielleicht das Unterbewusste oder die Schattenzonen des Ichs, wo sich Erkenntnis, Einbildungskraft und Ungewissheit überlagern.
»Vor jener«: Die demonstrative Formulierung markiert eine bestimmte, ihm bereits bekannte oder vorgestellte Sphäre – nicht irgendeine dunkle Höhle, sondern jene, die er im Innersten kennt.
»dunkeln Höhle«: Das Bild evoziert archetypische Assoziationen: Die Höhle als Ursprungsort, als Ort der Initiation, aber auch der Angst, des Unbewussten, der Begrenzung. In Goethes Symbolik oft ein Ort metaphysischer Herausforderung.
»nicht zu beben«: Ausdruck des Widerstandes gegen Angst, aber auch ein Eingeständnis, dass Furcht real ist. Das »nicht« markiert ein Ziel, kein Faktum – Faust will sich nicht fürchten, was heißt: er fürchtet sich durchaus.
Der Vers steht im Modus des heroischen Anspruchs, ein stoisches Ich gegenüber dunklen Mächten zu behaupten – doch genau das ist Fausts Tragik: seine Erkenntnissuche konfrontiert ihn mit Zonen, die sich der Ratio entziehen.
In der sich Phantasie zu eigner Quaal verdammt,715
Hier wird die zuvor genannte Höhle weiter charakterisiert – nun als innerer Ort der Phantasie, die sich selbst zur Qual wird.
»In der«: Rückverweis auf die »dunkle Höhle« – sie ist nicht leer, sondern bewohnt, und zwar von einem Teil des Ichs: der Phantasie.
»Phantasie«: In Goethes Zeit steht dieses Wort für Imagination, Vorstellungskraft, schöpferische Kraft – aber auch für Einbildung, Trugbild und Wahnsinn. Es ist eine ambivalente Größe: schöpferisch und zerstörerisch zugleich.
»zu eigner Quaal«: Die Phantasie richtet sich gegen sich selbst, sie ist kein Instrument der Befreiung mehr, sondern ein sich selbst verzehrendes Feuer.
»verdammt«: Das Verb gibt dem Satz einen theologischen, endgültigen Klang. Es geht nicht nur um psychische Erschöpfung, sondern um eine Art metaphysischer Selbstverurteilung. Fausts inneres Erleben wird hier in eschatologischen Begriffen gefasst – Verdammnis ist mehr als Leiden, sie ist ein Zustand ohne Ausweg.
Zusammenfassend 714-715
Faust steht am Rand des Wahnsinns. Seine wissenschaftliche Bildung hat ihn an existenzielle Grenzen geführt. Er ist hineingeraten in einen inneren Abgrund, wo ihn weder Ratio noch Glaube retten. Die beiden Verse bringen eine zentrale Spannung des ganzen Dramas auf den Punkt: das Oszillieren zwischen Erkenntnishunger und seelischer Überforderung, zwischen heroischem Forschergeist und der Dämonie des Inneren.
In dieser Passage spricht der Mensch, der auf das Absolute zielt – aber nicht in der Lage ist, sich selbst zu tragen, wenn ihm keine metaphysische Stütze bleibt. Die dunkle Höhle ist eine Seelenlandschaft, und die Qual ist selbstgemacht – ein Selbstgericht des Menschen, der seine Einbildungskraft überschätzt und sich in ihr verliert.
Nach jenem Durchgang hinzustreben,716
Wortwahl und Syntax:
Das Partizip »hinzustreben« enthält eine starke Bewegungsrichtung: »hin zu« etwas, also zielgerichtetes Streben. Es geht um eine Bewegung nicht aus Neugier, sondern aus innerer Not oder metaphysischem Drang.
»Nach jenem Durchgang« ist eine vage, beinahe mystische Ortsangabe. Das Demonstrativpronomen »jenem« impliziert, dass Faust bereits eine Ahnung oder Vorstellung davon hat – es ist ein bestimmter, aber nicht klar benennbarer Ort des Übergangs.
Symbolik:
Der »Durchgang« steht symbolisch für eine Grenzüberschreitung: von Wissen zu Erfahrung, von Leben zu Tod, vom Menschlichen zum Übermenschlichen. Faust sucht nicht das Diesseitige, sondern das Transzendente.
Dieser Durchgang kann auch als Schwelle zur dämonischen oder höllischen Sphäre gedeutet werden – ein Übergang, der nicht nur metaphorisch, sondern tatsächlich gefährlich ist.
Psychologische Dimension:
Faust steht hier am Rand des Rationalen. Er möchte aus dem engen Gehäuse des bürgerlichen und wissenschaftlichen Daseins ausbrechen – was ihn anzieht, ist das Unbekannte, das Verbotene, das Totale.
Um dessen engen Mund die ganze Hölle flammt;717
Bildlichkeit:
Der »enge Mund« personifiziert den Durchgang als etwas Lebendiges, sogar Unheimliches. Der Ausdruck wirkt fast organisch – als handle es sich um den Eingang zu einem Wesen.
Die Formulierung »die ganze Hölle flammt« ist ein starkes, visuelles und emotionales Bild: Hitze, Gefahr, Verderben. Faust weiß, dass dieser Übergang von dämonischer Energie umgeben ist – und dennoch zieht es ihn dorthin.
Intertextuelle Bezüge:
Die Bildwelt erinnert stark an die Höllenschlünde mittelalterlicher Mystik und christlicher Theologie – etwa an Dantes Inferno, wo Hölleneingänge ebenfalls als »Münder« erscheinen, aus denen Feuer quillt.
Auch alchemistische Vorstellungen vom »Feuer der Läuterung« könnten hier anklingen – Faust will sich reinigen, selbst wenn es durch das Feuer der Hölle geschieht.
Existenzielle Spannung:
Der enge Mund ist nicht einfach ein Zugang – er ist gleichzeitig verheißend und vernichtend. Faust will mehr als nur Wissen: Er ist bereit, sich selbst der Vernichtung auszusetzen, um »mehr« zu erfahren.
Der Vers zeigt die Radikalität seines Strebens – es geht nicht mehr um Erkenntnisgewinn, sondern um totale Erfahrung, auch unter Einsatz seiner Seele.
Zusammenfassend 716-717
In diesen zwei Versen verdichten sich zentrale Motive der gesamten Faust-Tragödie: das Streben über Grenzen, das Spiel mit dem Verbotenen, die Nähe zur Hölle. Faust ist bereit, alles zu riskieren, um hinter die Oberfläche des Daseins zu blicken. Goethes Sprache ist dabei bildgewaltig, dicht und doppeldeutig: Die Hölle ist nicht bloß mythologische Kulisse, sondern Ausdruck einer inneren Wirklichkeit, die Faust bewusst sucht.
Zu diesem Schritt sich heiter zu entschließen718
Dieser Vers beschreibt einen paradoxen Seelenzustand: Faust erwägt, einen finalen, radikalen Schritt zu tun – die Selbsttötung – und will sich dazu »heiter«, also mit einer Art innerer Ruhe oder Gelassenheit, entschließen.
»Zu diesem Schritt« meint das Trinken des Gifts, also den Akt des Freitods, den er konkret vorbereitet hat.
»sich entschließen« bezeichnet eine bewusste, willensgesteuerte Entscheidung – kein Affekt, sondern das Ergebnis einer intellektuellen und existenziellen Reflexion.
»heiter« wirkt dabei irritierend, da es normalerweise mit Freude, Leichtigkeit oder innerer Harmonie assoziiert wird. In diesem Kontext bekommt es eine beinahe stoisch-mystische Färbung: Faust möchte nicht aus Verzweiflung handeln, sondern mit überlegter Klarheit – als sei das Überschreiten der Grenze zum Tod ein Akt der Freiheit oder des Triumphs über das sinnentleerte Dasein.
Damit spiegelt sich hier eine romantisch-existenzielle Haltung: das »heiter Entschlossene« ähnelt der Idee einer Erhebung über die Angst, wie sie bei Schopenhauer oder Nietzsche später aufgenommen wird.
Und, wär’ es mit Gefahr, ins Nichts dahin zu fließen.719
Dieser Vers entfaltet die Konsequenz des vorausgehenden Entschlusses.
»Und, wär’ es mit Gefahr«: Der Konjunktiv (»wär’«) zeigt eine hypothetische, aber akzeptierte Möglichkeit. Faust ist bereit, das Risiko einzugehen – selbst wenn der Schritt ins Nichts gefährlich ist. Hier wird jedoch eine tiefere Schicht sichtbar: Kann es überhaupt Gefahr geben im Übergang zum »Nichts«? Der Ausdruck wirkt paradox und verweist eher auf die metaphysische Unsicherheit, ob das »Nichts« wirklich bloßes Nichtsein ist oder doch eine andere Daseinsform.
»ins Nichts«: Dies ist der zentrale Begriff. Das Nichts steht für das Ende aller Erfahrung, aller Erkenntnis, aller Qual – aber zugleich auch für das Ende des Strebens, das Faust bis dahin erfüllt hat. Die Vorstellung, ins Nichts »zu fließen«, hat eine fast pantheistische Sanftheit – kein gewaltsames Zerbrechen, sondern ein lautloses Übergehen, ein Sich-Auflösen.
»dahin zu fließen«: Diese Metapher ist bewusst weich gewählt. »Fließen« steht im Gegensatz zu einem abrupten Tod. Es evoziert ein Hineingleiten, ähnlich wie ein Tropfen im Meer. Auch hierin klingt ein mystisches Motiv an: die Auflösung des Individuums im Absoluten – wie in der Ekstase der Mystiker, etwa bei Meister Eckhart oder Johannes vom Kreuz.
Zusammenfassend 718-719
Diese beiden Verse verdichten Fausts existenzielle Grenzerfahrung: Er steht am Rand des Todes, nicht getrieben von bloßer Verzweiflung, sondern mit dem Wunsch, sich »heiter« – also in erhabener Freiheit – ins Nichts aufzulösen. Die Verse verbinden philosophische Tiefe mit lyrischer Sanftheit: Tod als Möglichkeit der letzten Erkenntnis oder Erlösung. Zugleich bleibt eine Ungewissheit, die in der Formulierung »mit Gefahr« anklingt: Das Nichts ist nicht einfach nur das Ende – es ist eine dunkle Schwelle, die alles relativiert, was Faust bisher gedacht, gewollt und erfahren hat.
Nun komm herab, krystallne reine Schaale!720
Der Vers beginnt mit der Anrede an die Giftphiole, die Faust poetisch als »krystallne reine Schaale« bezeichnet. Das Attribut »krystallne« betont die Transparenz, Kälte und Härte des Glases – Eigenschaften, die sowohl ästhetisch als auch symbolisch mit Tod und Reinheit verbunden sind. »Rein« hebt nicht nur die optische Klarheit hervor, sondern auch eine metaphysische Reinheit: Die Phiole ist für Faust das Werkzeug einer »reinen« Lösung seines Dilemmas, einer Art ritueller Reinigung durch den Tod.
Gleichzeitig offenbart die feierlich-beschwörende Formulierung einen rituellen Tonfall, fast wie in einer sakralen Handlung. Der Suizid wird nicht als Verzweiflungstat inszeniert, sondern als bewusstes, beinahe kultisches Überschreiten der Grenze des Irdischen – ein Thema, das Fausts Streben nach Transzendenz durchzieht.
Hervor aus deinem alten Futterale,721
Hier spricht Faust die Phiole direkt an und fordert sie auf, ihr »Futteral«, also ihre Hülle oder Aufbewahrung, zu verlassen. Das »alte« Futteral suggeriert, dass die Phiole schon lange in Fausts Besitz ist – ein stilles, verborgenes Werkzeug, auf das er in tiefer Verzweiflung zurückgreift. Der Ausdruck deutet auf eine lange, innere Vorbereitung hin, eine seit Jahren mitgeführte Möglichkeit des Auswegs, die nun zur Realität werden soll.
Das »Hervor« zeigt den Übergang vom bloßen Gedanken zur Handlung: Die bisher latent gehaltene Todessehnsucht wird konkret. Sprachlich ist auch auffällig, dass Goethe hier eine sehr schlichte, beinahe prosaische Bewegung beschreibt – das Herausnehmen eines Objekts –, doch gerade in ihrer Schlichtheit wirkt die Zeile erschütternd und endgültig.
An die ich viele Jahre nicht gedacht.722
Diese retrospektive Feststellung offenbart eine verdrängte, aber stets vorhandene Möglichkeit: Faust hatte die Phiole – und damit den Gedanken an den Suizid – viele Jahre nicht aktiv erinnert, doch sie war stets im Hintergrund präsent. Das spricht für eine latente Lebensverzweiflung, die ihn schon lange begleitet. Der Vers ist nüchtern und reflektierend, was ihm eine große emotionale Wucht verleiht: Er offenbart nicht den plötzlichen Entschluss, sondern einen alten, zurückgedrängten Impuls, der nun unaufhaltsam hervorbricht.
Der melancholische Ton schwingt mit: Faust ist ein Mensch, der nicht erst seit kurzem an der Welt leidet – seine Krise ist tief, langwährend und durchdringt sein gesamtes geistiges Leben.
Zusammenfassend 720-722
Diese drei Verse markieren den Übergang vom Denken zum Handeln, vom Geistigen zum Körperlichen, vom Leben zum Tod. Fausts Sprache ist durchdrungen von einer Mischung aus Feierlichkeit, Kälte und Resignation. Die Phiole wird nicht als banales Objekt, sondern als symbolisch aufgeladenes Gefäß einer ersehnten Grenzüberschreitung dargestellt. Die Szene ist durchtränkt von der Romantik des Todes, der metaphysischen Sehnsucht und einer tiefen existenziellen Müdigkeit – zugleich der dramatische Tiefpunkt, aus dem später durch das Eingreifen des Chores und der Osterszene eine erste Erneuerung erfolgen kann.
Du glänztest bey der Väter Freudenfeste,723
Dieser Vers richtet sich an das Zeichen des Makrokosmos bzw. symbolisch an eine höhere, kosmische Macht oder Erscheinung. Das »Du« ist das Bild, das Faust in der Vision des Makrokosmos erblickt hat – eine Manifestation des Alls, des Weltganzen.
»Glänztest« unterstreicht den Eindruck von Erhabenheit, Schönheit und überirdischem Licht.
»Bey der Väter Freudenfeste« evoziert eine vergangene, fast mythologische Zeit: »die Väter« sind dabei nicht nur familiäre Vorfahren, sondern stehen für eine frühere, weisere, vielleicht noch mit dem Kosmos verbundene Menschheit.
Die Formulierung erinnert an antike Gelage oder kultische Feiern, in denen das Göttliche gegenwärtig war. Das Bild steht für eine Zeit, in der höhere Erkenntnis nicht nur intellektuell, sondern auch lebensnah und freudvoll war.
Erheitertest die ernsten Gäste,724
Der angesprochene Glanz (»Du«) hatte eine lebensbejahende, ja geradezu tröstende Wirkung.
»Erheitertest« spricht eine emotionale Wirkung an: Freude, Licht, geistige Klarheit – möglicherweise auch ein Aufbrechen der Schwere des Daseins.
Die »ernsten Gäste« stehen sinnbildlich für die nachdenklichen, forschenden oder frommen Menschen früherer Zeiten.
Sie könnten auch für die Gelehrten, Philosophen oder Weisen der Vergangenheit stehen, die – im Gegensatz zu Faust – durch diesen Glanz nicht in Verzweiflung, sondern in eine Art metaphysisches Gleichgewicht geführt wurden.
Die Umkehrung der Stimmung (»ernst« wird »erheitert«) verdeutlicht eine Harmonie zwischen Wissen und Leben, zwischen Streben und Genießen.
Wenn einer dich dem andern zugebracht.725
Dieser Vers spielt auf die Weitergabe des Lichts, des Wissens oder der kosmischen Wahrheit von Mensch zu Mensch an.
»Wenn einer dich dem andern zugebracht«: Der Glanz, die Offenbarung, wurde nicht exklusiv gehalten, sondern vermittelt, geteilt – wie eine Fackel, die von einem zum nächsten gereicht wird.
Hier wird ein Idealbild von Wissen und Erkenntnis skizziert: nicht als einsame, verzweifelte Suche, wie sie Faust erlebt, sondern als freudvolle, gemeinschaftliche Weitergabe einer erhellenden Wahrheit.
Es ist eine Art geistiger Kette der Einweihung, bei der Menschen einander die tiefere Wirklichkeit offenbaren konnten – im Kontrast zu Fausts Gegenwart, in der solche Offenbarung ihm nicht zuteil wird.
Zusammenfassend 723-725
Faust erinnert sich (oder halluziniert) ein Ideal einer früheren, sinnstiftenden Beziehung zur Welt. Dort war das Streben nach Erkenntnis kein Leiden, sondern wurde von einem Glanz begleitet, der Freude spendete und die Gemeinschaft stärkte. Diese Erinnerung oder Vision steht in krassem Kontrast zu Fausts innerer Leere und seinem Gefühl des Abgeschnittenseins vom Ganzen. Die Verse sind geprägt von Sehnsucht nach einem verlorenen, ganzheitlichen Wissen – einer verloren gegangenen geistigen Weltordnung. Es ist der Schmerz über das Zerbrechen einer Verbindung zwischen Mensch und Kosmos.
Der vielen Bilder künstlich reiche Pracht,726
Sprachlich:
»Der vielen Bilder«: Genitiv; bezieht sich auf eine Fülle von Vorstellungen, Metaphern, Allegorien – ein poetischer oder religiöser Bilderschatz.
»künstlich reiche Pracht«: »künstlich« bedeutet hier nicht »falsch«, sondern »kunstvoll«, also im Sinne von elaboriert, durch Kunst geschaffen. »Reiche Pracht« betont den Überfluss, vielleicht auch die Überfrachtung mit symbolischen Bildern.
Deutung:
Faust beschreibt einen Überfluss an bedeutungsvollen, künstlerisch gestalteten Bildern – vermutlich bezieht er sich hier auf alte Texte, vor allem religiöse oder mythologische Dichtung, die voller symbolischer Darstellungen sind. Es schwingt ein Unterton von Kritik mit: Diese Bilder sind zwar prachtvoll, aber künstlich – also gemacht, vermittelt, nicht mehr ursprünglich oder lebendig. Faust ist daran nicht mehr interessiert. Es ist eine Ästhetik der Leere geworden.
Des Trinkers Pflicht, sie reimweis zu erklären,727
Sprachlich:
»Des Trinkers Pflicht«: Ironisch-sarkastisch. Faust spielt auf das herkömmliche Ritual an, wie solche Texte in akademischen oder klösterlichen Kontexten tradiert werden – etwa bei der Lektüre heiliger Texte oder poetischer Werke.
»Trinker« ist hier doppeldeutig: einerseits der »Wissensdurstige«, andererseits aber auch spöttisch gemeint – ein Scholastiker, der aus den alten Texten wie aus einem Weinkelch trinkt, ohne eigenen Durst, sondern aus Pflicht.
»reimweis zu erklären«: bezieht sich auf die Praxis, solche Texte in gereimter Form, also traditionell-poetisch oder predigtartig, auszulegen.
Deutung:
Hier attackiert Faust die Mechanisierung des Denkens und der Interpretation. Es geht nicht mehr um Wahrheit oder Erleuchtung, sondern um ein Pflichtritual: Man nimmt die »Bilder« aus alten Texten und kommentiert sie im Schema des Reims, also in der Form, wie es eben üblich ist. Die Ironie liegt in der Verbindung von »Pflicht« und »reimweis« – das Dichten ist nicht mehr schöpferisch, sondern zum bloßen Handwerk, ja fast zur Parodie verkommen.
Zusammenfassend 726-727
Faust kritisiert hier die Tradition des »gelehrten« Zugangs zur Welt und zum Geistigen. Bilder, Symbole und Texte – einst Ausdruck tiefer Erfahrung oder göttlicher Wahrheit – sind zu einer bloßen Pflichtlektüre geworden, die von »Trinkern« (Pflichtgelehrten) mechanisch interpretiert wird. Die einst lebendige Verbindung zur Welt ist verloren gegangen.
Dieser Moment zeigt Fausts tiefes Unbehagen am bloßen Wort, an der Form, an der bloßen Tradition – was ihn ja im weiteren Verlauf dazu bringt, den Osterspaziergang zunächst zu verachten, später den Erdgeist zu rufen, schließlich sogar den Pakt mit Mephistopheles einzugehen. Er will keine »künstlich reiche Pracht«, sondern das »Was die Welt im Innersten zusammenhält«.
Auf Einen Zug die Höhlung auszuleeren,728
Sprachliche Struktur:
Der Ausdruck »Auf Einen Zug« verweist auf das Trinken in einem Zug – also hastig, ohne Unterbrechung. Der Satz beginnt mit einer Temporalkonstruktion, wirkt dadurch fast wie ein Tagebucheintrag, spontan, unmittelbar.
»die Höhlung« ist eine metonymische Umschreibung für ein Trinkgefäß, möglicherweise einen Becher, einen Kelch – oder symbolischer: für den Menschen selbst, als leeres Gefäß.
»auszuleeren« steht im Infinitiv mit »zu«; das Ganze ist also kein vollständiger Satz, sondern ein Gedankensplitter – als hänge er einem Impuls oder einer Erinnerung nach.
Bedeutungsebene:
Der Akt des Leerens verweist auf Selbstvergessenheit, auf ein impulsives Sich-Hingeben, das mit Trinken, Rausch, vielleicht auch mit einer Form von Verzweiflung einhergeht.
Es kann eine triviale Erinnerung an jugendliche Gelage sein – doch im Kontext Fausts ist es mehr: ein Akt, der das Sehnen nach der Grenze, nach dem Rauschhaften, nach der Selbstauflösung anspricht.
Die Leere (in »Höhlung«) kann zudem als Bild für Fausts inneren Zustand verstanden werden: leer an Sinn, voller Sehnsucht nach Erfüllung.
Erinnert mich an manche Jugend-Nacht,729
Sprachliche Struktur:
»Erinnert mich« lässt erkennen, dass Faust retrospektiv spricht. Es ist eine spontane Rückwendung an seine eigene Biografie.
»manche Jugend-Nacht« ist vage, fast schwelgerisch – der Plural (»manche«) deutet auf Wiederholung, das Motiv eines bestimmten Lebensgefühls.
Bedeutungsebene:
Es geht um ein Lebensgefühl der Jugend: das nächtliche, suchende, sich über die Grenzen Wagende. Die Nacht steht in der romantischen und auch in der frühmodernen Literatur oft für Geheimnis, Sehnsucht, Transzendenz, aber auch für Einsamkeit und dunkle Leidenschaft.
Die Jugendnächte, an die sich Faust erinnert, waren geprägt vom Streben, vom Auflehnen gegen Begrenztheit – das Gleiche, was ihn jetzt, im Alter und in seiner Gelehrtenexistenz, erneut umtreibt.
In diesen Nächten lag offenbar ein Gefühl von Intensität, das nun verloren scheint – was seine existenzielle Krise vertieft.
Zusammenfassend 728-729
Der kurze Abschnitt bringt in schlichter Form eine tiefe existenzielle Struktur zum Ausdruck: Faust greift reflexhaft zum Trank – eine Geste der Resignation und des Erinnerns. Doch was er erinnert, ist nicht bloß ein Trinkgelage, sondern der Zustand des Suchens, des jugendlichen Drangs, sich mit der Welt, mit Gott, mit dem Sinn zu messen.
Diese Geste steht am Übergang zu seinem Entschluss, das magische Zeichen zu beschwören. Die Vergangenheit – die Jugendnächte – stehen im Kontrast zu seiner jetzigen Leere. Die Bewegung, die von außen wie ein banaler Griff zum Becher wirkt, ist innerlich eine Vorbereitung auf eine metaphysische Grenzüberschreitung.
Ich werde jetzt dich keinem Nachbar reichen,730
Faust spricht den Becher an, den er in der Hand hält. Das Personalpronomen »dich« richtet sich also an das Gefäß mit dem Gift.
»Ich werde jetzt dich keinem Nachbar reichen« verweist auf das traditionelle Trinksittenritual, bei dem ein Becher nach einem feierlichen Trinkspruch weitergereicht wird – ein Akt der Gemeinschaft, des Feierns, oft mit spirituellem oder rituellem Beiklang.
Dass Faust den Becher nicht weiterreichen will, hebt hervor, dass dies kein soziales, sondern ein zutiefst einsames, existenzielles Trinken ist.
Der Begriff »Nachbar« kann hier auch symbolisch verstanden werden: kein Mitmensch, kein anderer Teilhaber an der Welt soll daran teilhaben. Faust schließt sich von der Welt ab – radikal.
Dieser Vers etabliert eine Atmosphäre der Isolation. Faust grenzt sich nicht nur ab, er bricht bewusst mit Ritual und Gemeinschaft.
Ich werde meinen Witz an deiner Kunst nicht zeigen,731
Dieser Vers ist mehrschichtig und rhetorisch raffiniert gebaut.
»Witz« meint im 18. Jahrhundert nicht primär Humor, sondern die Fähigkeit zu geistiger Schärfe, Einfallsreichtum, Ironie – eine zentrale Fähigkeit des Intellektuellen.
»Kunst« des Bechers verweist auf das kunstvolle, vielleicht sogar alchemistische oder medizinisch-symbolische Gefäß, das Tränke enthält – es ist also nicht bloß ein Gegenstand, sondern steht für Technik, für Gestaltung, für Transformation.
Faust will nicht mit geistvollem Kommentar oder rhetorischem Spiel »zeigen«, was er an Verstand und Sprachkunst hat – er lehnt die intellektuelle Selbstdarstellung ab, die er bisher gepflegt hat.
Dieser Vers bringt eine Abkehr von der Ratio, von der akademischen Selbstinszenierung – Faust will nicht mehr brillieren, sondern handeln, schweigend und endgültig.
Hier ist ein Saft, der eilig trunken macht.732
Mit diesem Vers wendet sich Faust direkt dem Trank zu, den er trinken will.
»Saft« ist eine altertümlich-poetische Bezeichnung für Flüssigkeit mit Wirkung – häufig Heiltrank, Gift oder Wein. Hier ist es eindeutig ein Gifttrank.
»eilig trunken« verweist auf die Schnelligkeit der Wirkung: Das Getränk berauscht – und wohl tötet – sofort.
Das Wort »trunken« hat eine doppelte Konnotation: Es meint Rausch (also Entrückung, Taumel), aber auch Tod (Endgültigkeit, Auslöschung). In der dichterischen Sprache Goethes ist dieser Doppelsinn stets mitgedacht.
Dieser Vers schließt die kleine Strophe mit einer düsteren Finalität ab. Der Trank ist Mittel zum Zweck: Entgrenzung und Vernichtung in einem. Er ersetzt die erhoffte metaphysische Erleuchtung, die Faust durch Wissenschaft nicht gefunden hat.
Zusammenfassend 730-732
Diese drei Verse bilden einen inneren Monolog von großer existenzieller Dichte. Faust kehrt der Welt, der Sprache, der Ratio und der Gesellschaft den Rücken. Stattdessen sucht er in der radikalen Tat – dem Selbstmord – den Ausweg aus seiner inneren Leere. Goethes Sprache ist dabei von symbolischer Aufladung, subtiler Ironie und psychologischer Präzision durchdrungen. Hier kulminiert Fausts intellektuelle Verzweiflung in einem Akt existenziellen Nihilismus – kurz bevor das Ostersingen ihn zurück ins Leben ruft.
Mit brauner Flut erfüllt er deine Höhle.733
Inhalt:
Faust beschreibt ein alchemistisches oder magisch-symbolisches Geschehen: Eine »braune Flut« füllt eine »Höhle«. Diese Bilder sind mehrdeutig und entstammen der Symbolsprache der Alchemie, Mystik und Naturphilosophie.
»braune Flut«: Das Braun könnte auf Erde, Ursprung, Vergänglichkeit oder auf ein alchemistisches Substrat (z. B. das prima materia) anspielen. In der Farbe steckt Erdhaftigkeit, Dunkelheit, auch Unreinheit. Die »Flut« dagegen evoziert Bewegung, Energie, eine unaufhaltsame Kraft.
»erfüllt«: Das Verb zeigt einen Übergang von Leere zu Dichte, von Potenzial zu Wirkung – eine Art Geburt oder Übergang.
»deine Höhle«: Die »Höhle« ist ein uraltes Symbol – sie kann stehen für das Unbewusste, das Innere, das Labyrinthische. Im alchemistischen Kontext ist sie auch ein Schmelzofen, eine Retorte – ein Ort der Verwandlung. Zugleich kann sie den Körper oder die Seele ansprechen.
Wirkung:
Die Zeile evoziert eine geheimnisvolle, ja bedrohlich-unheimliche Atmosphäre. Der Leser fühlt, dass sich ein Moment der Transformation anbahnt, vielleicht etwas Dämonisches oder Magisches, das Faust selbst angestoßen hat.
Den ich bereitet, den ich wähle,734
Inhalt:
Faust spricht hier über ein Mittel oder einen Trank – vermutlich das Gift in der Phiole, das er vorbereitet hat, um seinem Leben ein Ende zu setzen.
»Den«: Bezieht sich grammatikalisch auf ein maskulines Substantiv. Im Kontext der Szene: Die Phiole, der Trank, eventuell auch metaphorisch ein Schicksalsweg, eine Entscheidung, ein Instrument der Befreiung oder Selbstzerstörung.
»ich bereitet«: Faust hat aktiv vorgesorgt – das zeigt seine Entschlossenheit, seinen Willen zur Tat. Die Formulierung ist biblisch-hochgestimmt: kein Alltagsdeutsch, sondern fast liturgisch.
»den ich wähle«: Entscheidungsakt. Es ist nicht nur etwas, das vorbereitet wurde – es ist auch bewusst und willentlich ausgewählt. Der freie Wille wird betont – zentral in Goethes Anthropologie. Faust bleibt Subjekt seiner Handlung, auch im Moment größter Verzweiflung.
Wirkung:
Dieser Vers hat etwas Endgültiges, Feierliches. Es ist ein Moment existenzieller Entscheidung. Doch die Syntax bleibt offen – der Satz ist elliptisch. Was geschieht mit dem, den Faust gewählt hat? Die Antwort bleibt in der Schwebe – Ausdruck der Unsicherheit und inneren Spannung.
Zusammenfassend 733-734
Die beiden Verse markieren einen dramatischen Wendepunkt: Faust steht am Rand der Selbstvernichtung, in einer Schwelle zwischen Alchemie, Mystik und existenziellem Entschluss. Die Dichte der Bilder, die alchemistisch-metaphorische Sprache und der hohe Tonfall verbinden sich zu einer Szene höchster seelischer Aufladung. Zugleich bereitet diese Stelle die übernatürliche Intervention vor – die Oster-Glocken, die Faust später vom Suizid abhalten.
Der letzte Trunk sey nun, mit ganzer Seele,735
Dieser Vers ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam:
»Der letzte Trunk«: Diese Wendung evoziert zugleich ein Abschiednehmen vom alten Leben und eine liturgisch-sakramentale Geste. »Letzter Trunk« kann an das Abendmahl erinnern, wird aber hier pervertiert – es ist ein Gifttrank, kein Wein des Heils. Der Ausdruck besitzt also eine makabre Feierlichkeit.
»sey nun«: Die altorthographische Form »sey« (statt »sei«) verstärkt den pathetischen Ton und deutet auf eine feierliche, beschwörende Haltung hin – als wolle Faust diesen Akt magisch sanktionieren. Das »nun« hebt die Unmittelbarkeit des Entschlusses hervor: Es ist keine Überlegung mehr, sondern Vollzug.
»mit ganzer Seele«: Dieser Ausdruck betont die Totalität der Hingabe. Faust trinkt nicht aus halbherzigem Trotz oder Überdruss, sondern mit existentieller Entschlossenheit. Es ist ein Akt der Identifikation – er verschmilzt mit der Tat, mit seinem Wunsch nach transzendierender Auflösung.
Diese Zeile bündelt also Fausts Verzweiflung, seine Todessehnsucht, aber auch sein trotziger Wille, alles zu geben – sein Bewusstsein, sein Leben, seine Seele.
Als festlich hoher Gruß, dem Morgen zugebracht!736
Dieser Vers öffnet das Geschehen auf eine paradoxe Weise:
»festlich hoher Gruß«: Die Geste des Trinkens wird hier rituell überhöht, fast als wäre es eine religiöse Zeremonie oder ein heiliger Trinkspruch. Die Adjektive »festlich« und »hoch« verleihen dem Moment eine gravitätische, fast sakrale Aura. Doch diese Festlichkeit ist trügerisch: Sie gilt nicht einem Lichtfest, sondern einem suizidalen Übergang.
»dem Morgen zugebracht«: Diese Formulierung enthält eine bittere Ironie. »Der Morgen« ist traditionell ein Symbol für Neubeginn, Licht, Hoffnung, Auferstehung – doch hier wird er mit einem Todestrunk begrüßt. Zugleich kann man es auch dialektisch lesen: Der Tod ist der Zugang zu einem anderen »Morgen«, zu einer neuen Form von Dasein – was sich in der folgenden Szene (Osterspaziergang) und im Pakt mit Mephisto bestätigen wird.
Zusammenfassend 735-736
Die beiden Verse stellen einen inszenierten Augenblick existenzieller Grenzüberschreitung dar. Faust erhebt den Giftbecher nicht bloß als Zeichen der Resignation, sondern als Akt eines mystisch überhöhten Willens. Der »Trunk« wird zur rituellen Handlung, zum Tor zwischen Nacht und Morgen, Tod und Verwandlung. In seiner Verzweiflung schafft Faust sich selbst einen bedeutungsvollen Akt – das ist zugleich tragisch und größenwahnsinnig.
Die Dichtung sprengt hier das rein Psychologische und berührt das Theologisch-Mythische: Faust ist der moderne Mensch, der im Angesicht des Nichts dennoch nach einem letzten, wahren Akt dürstet – und dabei eine neue Ordnung erzwingt.
Er setzt die Schaale an den Mund.