Der Tragödie Erster Theil
Nacht. (10)
Faust allein.
Ist es nicht Staub?656
Dieser Vers steht als rhetorische Frage im Raum, von Faust an sich selbst gerichtet. Das Wort »Staub« ist zentral:
»Staub« verweist auf die Vergänglichkeit, auf das Tote, auf das geistige wie physische Verfallen. Es hat biblische Konnotationen (»Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück«) und evoziert Vanitas-Motive.
Die rhetorische Frage zeigt eine Mischung aus Zweifel, Selbstvergewisserung und Enttäuschung. Faust blickt auf seine Bücherwand und spürt keinen lebendigen Geist, sondern nur leblosen Staub.
Diese Einleitung lässt die Stimmung erkennen: Es ist Nacht – äußerlich wie innerlich. Faust ist einsam, er zweifelt an allem, was ihn bisher getragen hat – an der Wissenschaft, am Wissen, an der Tradition.
Der Vers ist knapp, fast wie ein Stoßseufzer. Die Interpunktion (»?«) markiert innere Unruhe und Zweifel.
was diese hohe Wand, / Aus hundert Fächern, mir verenget;657
Dieser Vers schließt unmittelbar an den vorigen an und entfaltet das Bild weiter:
»diese hohe Wand« ist wörtlich gemeint als Bücherwand – Regale voller Bücher, also das sichtbare Zeichen wissenschaftlicher Bildung, Erkenntnisstreben, Tradition, Autorität.
Doch sie ist nicht Quelle der Erleuchtung oder Befreiung – sondern »verenget«« Faust. Das Verb ist alt und bedeutungsschwer: Es bedeutet »einengen«, »einschränken«, aber auch »einsperren«. Das Wissen, das diese Bücher verkörpern, ist nicht befreiend, sondern bedrückend.
Die Wendung »aus hundert Fächern« lässt an die Gliederung des Wissens in Disziplinen denken – Jurisprudenz, Theologie, Medizin, Philosophie – also das, was Faust später aufzählt. Die Vielfalt der Fächer hat ihm keinen geistigen Ausgang eröffnet.
Das Personalpronomen »mir« hebt Fausts subjektives Empfinden hervor: Die Bedrängung ist nicht abstrakt, sondern ganz persönlich und existentiell spürbar.
Faust fühlt sich also nicht erhoben oder erleuchtet durch das Wissen, sondern gefangen und überwältigt – ein paradoxes Ergebnis jahrzehntelanger Gelehrsamkeit.
Zusammenfassend 656-657
Die Verse 656–657 bringen in zwei Zeilen Fausts ganze Lebenskrise auf den Punkt: Der Intellekt, auf den er sein Leben gebaut hat, wird ihm zur Last, ja zum Grab. Die Bücher, Sinnbilder des Wissens, sind Staub – tot, veraltet, leer. Die Wissenschaft, auf viele Fächer verteilt, bietet keine Einheit, keine Wahrheit, keinen Ausweg. Statt zu befreien, sperrt sie ihn ein.
Goethe gestaltet mit wenigen Worten die Dichte eines metaphysischen Dramas: Die Szene ist nicht nur ein Bericht über intellektuelle Erschöpfung, sondern ein Echo der Menschheitsfrage nach Erkenntnis, Wahrheit und Erlösung.
Der Trödel, der mit tausendfachem Tand658
Das Subjekt ist hier »der Trödel« – ein abwertendes Wort, das auf eine Ansammlung unnützer oder wertloser Dinge verweist. Faust bezieht sich nicht nur auf Gegenstände, sondern auf das Wissen, die Bücher, Instrumente und Zeichen seiner bisherigen Gelehrtentätigkeit. Der Begriff markiert bereits eine kritische Distanz zum intellektuellen Erbe, das ihn umgibt: Es ist für ihn nur noch Gerümpel, etwas Abgelegtes, Verstaubtes.
Gleichzeitig klingt in »Trödel« auch das Unorganisierte, das Chaos, das Unwesentliche an. Faust empfindet also das, was ihn umgibt, als überflüssige Last.
Die Alliteration »tausendfachem Tand« verstärkt die Abwertung: Tand bezeichnet glänzenden, oberflächlichen, aber wertlosen Zierrat – etwas, das vielleicht schön scheint, aber leer ist. Die Quantität (»tausendfach«) lässt den Eindruck von Überwältigung entstehen – Faust fühlt sich erdrückt von der Vielzahl der Dinge, die ihm nun als leere Hülsen erscheinen.
Der »Tand« bezieht sich also nicht nur auf physische Objekte, sondern auch auf geistige Inhalte, wissenschaftliche Erkenntnisse, theologische Spitzfindigkeiten, sprachliche Zeichen – all das, was Faust früher studiert hat und was ihm nun wertlos erscheint, weil es ihn der Wahrheit nicht näher gebracht hat.
In dieser Mottenwelt mich dränget?659
Diese Metapher ist tief symbolisch: Eine »Mottenwelt« ist eine Welt der Finsternis, des Verfalls, des Zerfalls. Motten sind Tiere der Nacht, sie zerstören Stoffe, sie leben im Dunkeln, im Verborgenen. Goethe evoziert damit ein Bild der geistigen Enge, der Erstarrung, der Lebensfeindlichkeit.
Diese Welt ist für Faust ein Ort der geistigen Dunkelheit, nicht der Aufklärung. Statt lebendiger Erkenntnis herrscht Stagnation, dumpfes Herumirren. »Mottenwelt« kann auch ein Hinweis auf den Akademismus sein – eine Welt des Staubs, der Bücher, der toten Buchstaben. Zugleich steht sie in Kontrast zur lebendigen Natur, zur göttlichen Schöpfung, nach der Faust sich sehnt.
Hier kulminiert die Klage in einem persönlichen Affekt: Das alles »drängt« Faust – es bedrängt, überfällt, erdrückt ihn. Das Subjekt erfährt hier die Last seines bisherigen Lebens als Enge, als Qual. Das ist keine rein intellektuelle Kritik, sondern eine existenzielle Krise: Faust leidet unter einer Welt, die er als eng, düster, bedeutungslos erlebt. Das Fragezeichen am Ende signalisiert nicht Neugier, sondern Erschöpfung, ein resignatives Infragestellen des Sinns der bisherigen Existenzform.
Zusammenfassend 658-659
In diesen beiden Versen kristallisiert sich Fausts tiefes Unbehagen an der akademischen Welt, die ihn bis zu diesem Punkt geprägt hat. Alles, was er angehäuft hat – Wissen, Bücher, Formeln, Zeichen – erscheint ihm als »Trödel« und »Tand«, als Last, die ihn in einer dunklen, geistig toten »Mottenwelt« gefangen hält. Diese Welt ist nicht die, in der wahre Erkenntnis, Erfüllung oder Transzendenz möglich ist. Faust steht hier am Wendepunkt: Diese Ablehnung des Alten ist Voraussetzung für die spätere Öffnung zum Pakt, zur sinnlichen und metaphysischen Grenzüberschreitung.
Hier soll ich finden, was mir fehlt?660
Faust spricht diesen Satz in einem Ton tiefer Skepsis und Resignation. Das »Hier« bezieht sich auf seine Studierstube, auf die Welt der Gelehrsamkeit, die ihn bisher getragen hat. Das »was mir fehlt« ist nicht konkret, sondern bewusst offen gehalten: gemeint ist Sinn, Erkenntnis, Erfüllung – vielleicht auch Erlösung oder eine unmittelbare Erfahrung des Lebens. Diese rhetorische Frage offenbart, dass Faust selbst daran zweifelt, dass er in der Welt des Wissens das finden kann, was er zutiefst begehrt. Es ist ein Wendepunkt: Der Gelehrte beginnt, seine eigene Welt zu hinterfragen.
Soll ich vielleicht in tausend Büchern lesen,661
Die Überlegung wird weitergeführt: Faust denkt darüber nach, ob das Lesen unzähliger Bücher ihn zur Antwort führen könne. Die Zahl »tausend« steht hier für die Unendlichkeit der Literatur, das ganze gesammelte Wissen der Menschheit. Doch bereits die Einleitung mit »Soll ich vielleicht...« legt nahe, dass er diesen Weg nicht mehr als aussichtsreich empfindet. Der Ton ist bitter und ermüdet, der Erkenntnisprozess erschöpft sich selbst.
Daß überall die Menschen sich gequält,662
Hier wird konkret, was Faust in diesen Büchern zu finden meint: das Elend der Menschheit. Die Geschichte ist für ihn eine Chronik des Leidens. Die menschliche Erfahrung, wie sie in Literatur, Philosophie und Geschichte festgehalten ist, erscheint ihm als ein beständiges Zeugnis von Qual. Das Wort »überall« verallgemeinert diese Erfahrung: Es gibt kein Entrinnen, kein anderes Bild des Lebens, das sich zeigt.
Daß hie und da ein Glücklicher gewesen?663
In diesem letzten Vers kommt die leise Möglichkeit des Glücks zur Sprache – aber in sehr abgeschwächter Form. »Hie und da« – also äußerst selten und verstreut – deutet auf Einzelfälle hin, auf Ausnahmen inmitten des universalen Leids. Der »Glückliche« ist nicht definiert; seine Glückserfahrung bleibt vage, fast zweifelhaft. Die Vergangenheitsform »gewesen« betont zudem, dass dieses Glück vergangen ist, nicht aktuell, nicht erreichbar. Auch hier spricht tiefer Pessimismus.
Zusammenfassend 660-663
Diese vier Verse bilden eine komprimierte Klage über das Scheitern der menschlichen Erkenntnis in Buchwissen und über die Begrenztheit intellektuellen Zugangs zum Sinn des Lebens. Faust sehnt sich nach einer anderen, tieferen, unmittelbaren Erfahrung – vielleicht nach Transzendenz oder Leben selbst. Die Verse sind getragen von Weltschmerz, aber auch von der Ahnung, dass es einen anderen Weg geben muss – eine Ahnung, die schließlich zur Beschwörung des Erdgeistes und später zum Pakt mit Mephisto führen wird.
Was grinsest du mir hohler Schädel her?664
Faust spricht hier zu einem Totenschädel, vermutlich ein Requisit aus seiner Gelehrtenstube – ein klassisches Vanitas-Symbol. Die Anrede des »hohlen Schädels« gibt der Szene einen makabren, fast morbiden Ton. Das »Grinsen« ist eine Projektion Fausts: der leere, zahnige Kiefer wirkt auf ihn wie ein höhnisches Lächeln. Dieses »Grinsen« verweist nicht nur auf die Vergänglichkeit alles Lebendigen, sondern auch auf eine gewisse Spottgestalt des Todes, die Faust zu verhöhnen scheint. Das Du des Schädels wird zur dunklen Gegenfigur des Ichs: Faust erkennt sich im Tod – oder im bloßen Gerippe – wieder.
Als daß dein Hirn, wie meines, einst verwirret,665
Hier findet eine Identifikation statt: Faust stellt sich vor, dass auch in diesem Totenschädel einst ein denkendes Hirn war, das – wie das seine – »verwirret« war. Das Verb »verwirret« verweist auf geistige Zerrüttung, Desorientierung, aber auch auf eine Art dämonischen Erkenntnisdrang. Faust fühlt sich also dem toten Gelehrten verbunden – beide streben, beide irren. Der Totenschädel wird zur Mahnung an die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis, ja an das tragische Schicksal des Suchenden.
Den leichten Tag gesucht und in der Dämmerung schwer,666
Diese Zeile bringt eine poetische Metapher für das Streben nach Wahrheit: Der »leichte Tag« steht für Erkenntnis, Klarheit, Wahrheit – das Licht der Vernunft oder gar göttliche Erleuchtung. Doch statt den Tag zu finden, gerät das strebende Hirn in die »Dämmerung« – eine Zwischenzone aus Licht und Dunkel, Orientierung und Verlorenheit. Das Adjektiv »schwer« beschreibt die Anstrengung, die Last dieses Suchens, aber auch das Gefühl des Verlorenseins in einem Zustand des Halbwissens oder Scheins.
Mit Lust nach Wahrheit, jämmerlich geirret.667
Diese letzte Zeile steigert die Tragik: Trotz »Lust nach Wahrheit« – also trotz aufrichtiger, vielleicht sogar leidenschaftlicher Sehnsucht – endet das Streben im »jämmerlichen« Irren. Die Wortkombination von »Lust« und »jämmerlich« schafft eine Spannung: Sie kontrastiert das idealistische Begehren mit dem tragischen Resultat. Die Suche nach Wahrheit wird zur tragischen Verfehlung, zur wiederholten Erfahrung von Scheitern.
Zusammenfassend 664-667
Diese vier Verse stehen exemplarisch für Fausts existentielle Krise: Er spürt das Scheitern der akademischen Wissenschaft, erkennt das menschliche Streben als tragisch begrenzt und ringt gleichzeitig mit metaphysischem Hunger. Der hohle Schädel ist Spiegel und Mahnmal zugleich: ein Memento Mori, aber auch eine Verdopplung seines eigenen Zustands. Faust erkennt sich selbst in einer Kette geistiger Irrläufer, deren Ziel stets Wahrheit war, deren Resultat aber stets Verzweiflung ist.
Ihr Instrumente freylich, spottet mein,668
Faust spricht die wissenschaftlichen Geräte direkt an – vermutlich chemische oder alchemistische Werkzeuge –, und unterstellt ihnen eine Art Hohn über seine Bemühungen. Das »freylich« (veraltet für »freilich«) klingt wie ein resigniertes Zugeständnis: Ja, er gibt zu, dass er gescheitert ist. Der Personifikation der Instrumente (»spottet mein«) verleiht der Szene eine tragisch-komische Note: Die Geräte selbst scheinen sich über Fausts Hoffnungen und Anstrengungen lustig zu machen. Faust fühlt sich durch sie nicht ermächtigt, sondern verspottet und entwürdigt.
Mit Rad und Kämmen, Walz’ und Bügel.669
Hier listet Faust einige der Geräte auf – darunter ein »Rad«, »Kämme«, eine »Walze« und ein »Bügel«. Diese Begriffe deuten auf Apparaturen aus der Alchemie oder frühneuzeitlichen Naturforschung, aber auch auf grotesk-mechanische Werkzeuge, die wie Folterinstrumente klingen. Die Aufzählung hat eine lautmalerische, fast komisch wirkende Wirkung: die Werkzeuge muten eher wie Werkstattobjekte als wie Schlüssel zur transzendenten Wahrheit an. Das unterstreicht Fausts Enttäuschung über die Banalisierung der Wissenschaft – sie produziert Gerätschaften, keine Erleuchtung.
Ich stand am Thor, ihr solltet Schlüssel seyn;670
Ein kraftvolles Bild: Faust stand am »Thor« – am Tor zur Wahrheit, zur Erkenntnis, vielleicht sogar zur Transzendenz. Die Instrumente sollten »Schlüssel« sein – also Mittel, das Tor zu öffnen, ihn hinein zu lassen in das, was jenseits des bloß Empirischen liegt. Die Sprache ist hier durchzogen von einem religiösen und mystischen Vokabular: Tor, Schlüssel – das erinnert an biblische, mystagogische Bildwelten. Doch die Enttäuschung ist tief: Die Werkzeuge haben diesen Anspruch nicht erfüllt.
Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.671
Die abschließende Ironie dieses Mini-Monologs liegt in diesem Vers: »Bart« meint hier den Bart des Schlüssels – die gezackte Form, die in das Schloss greifen soll. Ein solcher Bart ist »kraus« – kunstvoll, verschlungen –, aber nutzlos. Trotz ihrer »komplexen« Form schaffen es die Instrumente nicht, den »Riegel« zu heben, also das Tor zu öffnen. Das Bild ist durchdrungen von Enttäuschung über den Schein von Wissen ohne wahre Wirkung. Die Geräte sind kompliziert, vielleicht sogar schön gestaltet, aber letztlich unwirksam.
Zusammenfassend 668-671
Diese vier Verse fassen Fausts Verhältnis zur traditionellen Wissenschaft und Magie pointiert zusammen: Er wollte Erkenntnis, absolute Wahrheit, Überschreitung der Grenzen des Menschlichen – doch die Mittel, auf die er sich verließ, versagen. Die Szene zeigt seine Isolation, seinen Spott über sich selbst, aber auch seine verzweifelte Sehnsucht nach einem Durchbruch. Faust ist an einer Schwelle – das Tor steht vor ihm –, aber er bleibt ausgeschlossen. Das Scheitern der Schlüssel kündigt den Pakt mit Mephistopheles an: Wenn die Wissenschaft versagt, wird er sich an die dämonische Macht wenden.
Geheimnißvoll am lichten Tag672
Dieser Vers eröffnet mit einem Paradox: »geheimnißvoll« steht der Klarheit des »lichten Tags« gegenüber. Schon in diesem Bild zeigt sich Fausts existenzielles Dilemma: Selbst in der scheinbaren Aufklärung (symbolisiert durch Tageslicht) bleibt die Natur »geheimnisvoll«. Der Tag als Lichtmetapher ist ein typisches Motiv der Aufklärung, doch hier wird gerade dieses Licht relativiert. Goethe spielt mit der Spannung zwischen äußerem Sehen und innerem Verstehen – eine frühe Kritik an der reduktionistischen Naturwissenschaft.
Läßt sich Natur des Schleyers nicht berauben,673
Die Natur wird hier als weiblich konnotierte Gestalt vorgestellt, die einen Schleier trägt – ein klassisches Bild, das auf antike Vorstellungen (etwa die Isis von Sais) zurückgeht. Der Schleier der Natur symbolisiert das Mysterium der Welt. Dass sie sich diesen Schleier nicht »berauben« lässt, betont, dass Gewalt oder bloß analytisches Herangehen die tiefere Wahrheit nicht offenbaren können. Natur ist nicht Objekt bloßer Entschleierung. Der Ausdruck »berauben« unterstreicht sogar eine Art ethische Grenzüberschreitung durch den Forscherwillen.
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,674
Dieser Vers bringt einen weiteren entscheidenden Gedanken: Es geht um ein Geschenk der Offenbarung, nicht um ein aktives Erzwingen von Erkenntnis. Die Natur wird als souverän gedacht – sie mag oder mag nicht etwas offenbaren. Die Erkenntnis ist damit abhängig vom Geist, aber nicht in dessen Verfügung. Die Natur wird hier wie ein Wesen mit eigenem Willen behandelt, fast wie ein göttliches oder numinoses Gegenüber. Das Wort »Geist« verweist zugleich auf Fausts Inneres: Es braucht eine seelisch-geistige Reifung, um wahrhaft zu erkennen.
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.675
Hier schließlich die radikale Ablehnung des technischen, mechanischen Weltbildes. Die Instrumente der experimentellen Naturwissenschaft – »Hebel und Schrauben« – stehen stellvertretend für den rationalistisch-mechanistischen Zugriff auf die Welt. Doch dieser Zugriff scheitert am Wesen der Natur. Faust erkennt die Grenzen der empirischen Forschung, wenn sie auf äußere Mittel und Gewalt statt auf innere Wandlung setzt.
Zusammenfassend 672-675
Diese vier Verse sind eine Absage an den Glauben, dass die Natur durch äußere Mittel vollständig zu durchdringen sei. Stattdessen betont Goethe eine demütige Haltung: Erkenntnis ist eine Gnade der Natur, nicht das Resultat technischer Machbarkeit. In dieser Szene kulminiert Fausts Unzufriedenheit mit dem rein wissenschaftlichen Erkenntnisideal – ein entscheidender Schritt auf seinem Weg hin zur metaphysischen, ja vielleicht diabolischen Überschreitung dieser Grenzen.
Du alt Geräthe, das ich nicht gebraucht676
Dieser Vers ist ein direkter Anruf an die Gegenstände im Studierzimmer, vermutlich an alchemistische oder naturwissenschaftliche Instrumente wie Retorten, Gläser, Waagen, Astrolabien. Die Anrede in der zweiten Person Singular (»Du«) gibt dem toten Material eine fast menschliche Präsenz – Faust spricht zu den Dingen, als ob sie ein Gegenüber wären.
»alt« unterstreicht nicht nur das Alter, sondern auch die Überholtheit dieser Gerätschaften. Sie stammen aus einer früheren Zeit und gehören nicht mehr in die Gegenwart Fausts.
»Geräthe« verweist auf Instrumente oder Werkzeuge der Wissenschaft. Im Kontext von Goethes Zeit auch auf alchemistische Apparate.
»das ich nicht gebraucht« verdeutlicht Fausts persönliche Distanz zu diesen Objekten. Sie stehen in seinem Raum, aber er hat sie selbst nicht verwendet – ein Hinweis auf seine Ablehnung der herkömmlichen Wissenschaft oder zumindest auf ihre Nutzlosigkeit für sein Streben nach Erkenntnis.
Sprachlich ist bemerkenswert, dass hier das Partizip »gebraucht« steht, nicht etwa »benutzt« – »gebraucht« kann tiefer klingen: nicht nur verwendet, sondern auch in Anspruch genommen, im Sinne von Sinnstiftung.
Du stehst nur hier, weil dich mein Vater brauchte.677
Der zweite Vers setzt die Reflexion fort und fügt eine historische bzw. genealogische Dimension hinzu.
»Du stehst nur hier« macht klar: die Dinge haben keinen aktuellen Zweck. Ihre bloße Präsenz ist passiv und ohne Bezug zum gegenwärtigen Ich Fausts. Sie sind Relikte.
»weil dich mein Vater brauchte«: Hier spricht Faust die Herkunft dieser Gegenstände an – sie stammen vom Vater, vermutlich ein Gelehrter oder Arzt (was biografisch auch zur Gestalt passt). Der Vater hat sie gebraucht, nicht Faust selbst.
Die Wendung »mein Vater« ist mehrdeutig:
1. Genealogisch: als konkrete familiäre Vorfigur, was auf einen medizinischen oder alchemistischen Hintergrund verweist.
2. Traditionell-kulturell: als Symbol für die vorherige Gelehrtengeneration oder die Überlieferung einer Wissenschaft, die Faust als unfruchtbar empfindet.
Dieser Vers bringt eine Art Generationsbruch zum Ausdruck: Faust lehnt das geerbte Wissen und seine Mittel ab. Die Kritik richtet sich nicht nur gegen tote Materie, sondern gegen ein ganzes Denksystem, das er als gescheitert erlebt.
Zusammenfassend 676-677
In diesen zwei Versen steckt eine tiefe Skepsis gegenüber der traditionellen Wissenschaft und dem geerbten Denken. Faust hat sich mit dem »alten Gerät« nicht identifiziert, es ist nicht seines. Der Monolog ist Ausdruck eines existenziellen Zweifels: Die äußeren Instrumente der Erkenntnis sind nutzlos geworden, weil sie nicht zu innerem Wissen führen. Faust steht damit exemplarisch für das Dilemma der Moderne: das alte Wissen ist noch präsent, aber seine Geltung ist verloren.
Diese Sätze sind nicht bloß Raumbeschreibung, sondern ein inneres Bekenntnis: ein erstes Loslösen vom bloß Rationalen, ein Übergang zu einer existenziellen Suche nach einem tieferen, unmittelbaren Zugang zur Welt. Diese Entwicklung kulminiert später in seinem berühmten Entschluss, sich dem »Geist der Erde« zuzuwenden.
Du alte Rolle, du wirst angeraucht,678
Mit »du alte Rolle« spricht Faust ein Buch oder ein Schriftstück an – vermutlich ein juristischer, theologischer oder philosophischer Text. Die direkte Ansprache in der zweiten Person unterstreicht seine Vertrautheit und zugleich seine Distanzierung. Das Adjektiv »alt« verweist sowohl auf das physische Alter des Dokuments als auch auf den überlieferten, tradierten Inhalt, den Faust als überkommen empfindet. Der Ausdruck »wirst angeraucht« deutet an, dass das Buch durch den Rauch seiner Lampe (und durch die Zeit) gelitten hat – aber auch, dass es »verbraucht« oder sogar »beschädigt« wurde, wie etwas, das zu lange ungenutzt herumlag. Der Rauch steht hier sinnbildlich für Stillstand, Vergeudung und auch die Trübheit der Erkenntnis. Damit beginnt Fausts Entzauberung des Buchwissens.
So lang an diesem Pult die trübe Lampe schmauchte. –679
Dieser Vers bringt die Szene in ein symbolisch aufgeladenes Bild: Die »trübe Lampe«, die lange auf dem Pult brannte, steht für Fausts gelehrtes Leben – ein Leben im Schatten, in Isolation, im Staub alter Bücher. Die Lampe spendet Licht, aber kein klares; »trüb« impliziert Unsicherheit, Unklarheit, Erkenntnislosigkeit. Das Verb »schmauchte« – eine rauchige, schwere Tätigkeit – unterstreicht zusätzlich die dumpfe, stickige Atmosphäre. Das Pult wird zur Bühne vergeblicher intellektueller Anstrengung, der Ort, an dem Faust sich abmühte, ohne zur Wahrheit zu gelangen. Die Trägheit der Szene kontrastiert mit Fausts zunehmendem inneren Drang nach Überschreitung dieser Enge.
Der Gedankenstrich wirkt wie ein plötzliches Abbrechen des Gedankens oder eine dramatische Pause. Diese Zäsur kann als Ausdruck der inneren Spannung und des Übergangs gedeutet werden – vom Stillstand zur Umkehr, vom bloßen Denken zum Handeln, von der Buchgelehrsamkeit zur Lebenspraxis, letztlich zur metaphysischen Grenzüberschreitung, die in Fausts Beschwörung des Erdgeists kulminiert. Die Verse davor wirken wie ein Aufatmen vor dem nächsten geistigen Kraftakt.
Zusammenfassend 678-679
Diese Verse wirken wie ein bitteres Resümee eines entleerten Gelehrtenlebens. Goethe verdichtet in ihnen zentrale Themen: die Sinnkrise akademischer Bildung, das Unbehagen an überliefertem Wissen, die Vergeudung der Lebenszeit im Dienst einer Erkenntnis, die nicht zur Wahrheit führt. Gleichzeitig ist dies der Moment, in dem Faust symbolisch mit dem alten Wissen bricht – die »alte Rolle« ist nicht mehr Quelle der Wahrheit, sondern ein Relikt, das im Rauch des Zweifels vergeht. Die trübe Lampe kündet nicht von Erleuchtung, sondern von Erschöpfung. Der Gedankenstrich am Ende öffnet die Szene zur Transformation.
Weit besser hätt’ ich doch mein weniges verpraßt680
Faust blickt hier mit Bitterkeit auf sein Leben zurück. Die Formulierung »weit besser« deutet auf eine deutliche Bewertung hin: Er bedauert, sich nicht für einen freieren, genussvolleren Lebensweg entschieden zu haben. Das Modalverb »hätt’« in Konjunktivform zeigt den Charakter eines unerfüllten Wunsches oder einer verpassten Möglichkeit – es ist ein irreales Bedauern.
Das Wort »verpraßt« ist besonders stark: Es evoziert Bilder von leichtsinniger Verschwendung, sinnlichem Lebensgenuss, vielleicht sogar Lasterhaftigkeit. Hier wird ein Kontrast aufgebaut zum asketischen, disziplinierten Leben, das Faust tatsächlich geführt hat – dem Gelehrtenleben im Dienste der Wissenschaft.
»Mein weniges« hat eine doppelte Bedeutung: Es kann materiell verstanden werden (Besitz, Reichtum), aber auch immateriell (Lebenszeit, Kraft, Freude). Beides trifft vermutlich zu – und betont Fausts Empfinden von Knappheit und Verzicht.
Als mit dem wenigen belastet hier zu schwitzen!681
Dieser Vers entfaltet das Bild des Gegenteils zur vorherigen Alternative: Nicht das Verschwenden, sondern das mühsame Bewahren oder Streben hat Faust gewählt – und bereut es.
Das »wenige« wird nun nicht mehr nur als Besitz verstanden, sondern als Last. Er fühlt sich von seiner intellektuellen Arbeit – von all dem, was er »besitzt« – beschwert. »Belastet« suggeriert psychischen und physischen Druck.
»Hier zu schwitzen« ist eine konkrete, körperliche Metapher für Mühe, Stress und Unzufriedenheit. Es verweist auch auf die Enge seines Studierzimmers und die Unfruchtbarkeit seiner Bemühungen: trotz aller Anstrengung hat er keine höheren Erkenntnisse erlangt, keine existenzielle Erfüllung.
Zusammenfassend 680-681
Zusammenfassend offenbaren diese zwei Verse Fausts tiefe Lebenskrise. Er hadert mit dem asketischen Ideal der Selbstdisziplin und erkennt, dass seine Entsagung keinen geistigen Gewinn gebracht hat. Stattdessen fühlt er sich gequält, überfordert, leer. Die Alternativen »verprassen« und »belasten« stehen für zwei Lebensmodelle – das des hedonistischen Menschen und das des Gelehrten. Beide scheinen ihm nun wenig erstrebenswert, aber das letztere erscheint im Rückblick noch tragischer, weil es auf Verzicht beruhte – ohne Belohnung. Hier kündigt sich die existentielle Leere an, die ihn zum Teufelspakt treiben wird.
Was du ererbt von deinen Vätern hast682
Dieser Vers spricht von Erbschaft – nicht im rein materiellen, sondern im geistigen Sinne: Faust, als Gelehrter, ist Erbe einer langen Tradition von Wissen, Kultur und Denken, das sich über Jahrhunderte hinweg durch Lehrer und Texte an ihn weitervermittelt hat. Gemeint ist also das kulturelle, wissenschaftliche und geistige Vermächtnis der »Väter«, der Vorgänger.
Der Begriff ererbt impliziert Passivität: Man bekommt etwas, ohne es selbst zu erarbeiten. In Goethes Weltbild, besonders im humanistischen Ideal, ist das aber nicht genug. Ein bloßes Erbe bleibt tot, wenn es nicht durch eigenes Streben, eigenes Tun, eigenes Erleben aktiviert und »verlebendigt« wird.
Schon hier zeigt sich Fausts Krise: Er besitzt ungeheure Gelehrsamkeit, aber sie bleibt tot, abstrakt, lebensfern – eine »Erbschaft«, die ihn nicht erfüllt. Dieser Vers stellt somit den Ausgangspunkt der Kritik dar: Es reicht nicht, nur zu erben.
Erwirb es, um es zu besitzen.683
Hier bringt Goethe das zentrale Paradox des Besitzes auf den Punkt: Wahres Eigentum entsteht nicht durch passive Übergabe, sondern durch tätige Aneignung. Der Ausdruck »erwirb es« steht für ein aktives Streben, ein inneres Durchleben, ein Sich-zueigen-Machen.
»Besitzen« bedeutet in diesem Kontext nicht juristisches Eigentum, sondern lebendige Verinnerlichung: Man besitzt ein Erbe – sei es Wissen, Erfahrung, Kultur – nur dann wirklich, wenn man es sich selbst erarbeitet hat.
Goethes Ideal des Bildungshumanismus lebt in dieser Formulierung auf: Bildung, Kultur, Geist müssen neu errungen werden, um wirklich zu sein. Dies ist zugleich eine Absage an jede bloß äußerliche Bildung, an das »Buchwissen« ohne Erfahrung – genau das, was Faust bedrückt.
Zusammenfassend 682-683
In diesen zwei Versen spiegelt sich Fausts innere Spannung zwischen ererbtem Wissen und echter Lebenswirklichkeit. Goethe formuliert hier eine humanistische Lebensregel: Die Überlieferung allein genügt nicht; sie muss durch eigene Erfahrung neu belebt werden. Nur so wird aus dem Ererbten etwas Eigenes.
Gleichzeitig markiert dieser Moment eine Wende: Faust erkennt, dass er aus dem Buchwissen heraustreten muss – hinein ins tätige Leben. Diese Erkenntnis führt letztlich zu seinem Pakt mit Mephistopheles: die radikale Suche nach gelebter Erfahrung.
Was man nicht nützt, ist eine schwere Last684
Dieser Vers stellt eine fundamentale Infragestellung des reinen Besitzes von Wissen oder Dingen dar. Faust spricht hier über das Unbrauchbare, das dennoch mitgeschleppt wird – sei es totes Wissen, veraltete Bücher, dogmatische Lehren oder persönliche Erfahrungen, die nicht in Handlung münden. Im Kontext der Szene – Faust ist allein in seiner Studierstube, umgeben von alten Folianten und Symbolen der Gelehrsamkeit – ist dies ein existenzieller Befund: Was nicht umgesetzt wird, belastet.
Der Begriff »Last« ist mehrdeutig: Er kann sich auf eine psychische Bürde beziehen (die Frustration über die Ohnmacht des Wissens) ebenso wie auf eine geistige Hemmung. Die Akkumulation des Unnützen wird zum Hemmschuh, ja zur Fessel, die wahres Leben verhindert.
Zugleich kündigt sich in diesem Vers bereits eine Abwendung von der spekulativen Geistigkeit an – eine Tendenz, die später in Mephistos »Im Anfang war die Tat« radikalisiert wird.
Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.685
Dieser Vers bildet die positive Kehrseite des vorangegangenen. Hier wird das Prinzip des lebendigen, schöpferischen Augenblicks postuliert. Es zählt nicht, was statisch ist (etwa angesammeltes Wissen oder Besitz), sondern das, was im Moment entsteht – die Tat, das Erlebte, das Gegenwärtige.
Die Formulierung »erschafft« weist auf einen schöpferischen Akt hin: Der Augenblick ist nicht einfach ein passiver Zeitpunkt, sondern ein produktiver Prozess, in dem etwas neu wird. Damit steht Faust dem romantischen oder auch mystischen »Jetzt« nahe – einem Moment der Intensität, in dem das Leben sinnhaft wird.
»Kann er nützen« macht deutlich, dass die Nützlichkeit nicht vorausgesetzt ist, sondern sich nur dort entfaltet, wo Handlung geschieht. Das Ich wird zum aktiven Zentrum, das Sinn nur dann erfährt, wenn es im schöpferischen Moment tätig ist.
Zusammenfassend 684-685
Diese beiden Verse gehören zu den prägnantesten Selbstreflexionen Fausts. Sie offenbaren nicht nur seine Unzufriedenheit mit der herkömmlichen Wissenschaft, sondern auch seine Wendung zu einem dynamischen Lebensprinzip.
Beide Verse sind Ausdruck einer existentiellen Unruhe. Faust hat studiert, geforscht, Wissen aufgehäuft – aber das Leben selbst entgleitet ihm. Deshalb lehnt er den »Papiergelehrten« (vgl. vorherige Verse) und die rein spekulative Erkenntnis ab. Stattdessen propagiert er eine Art aktiven Existenzialismus: Nur das im Jetzt Erschaffene ist lebendig und trägt Frucht.
Diese Haltung bereitet den Pakt mit Mephisto vor – Faust will die Welt »im tätigen Ergreifen« erfahren. Das Bedürfnis nach unmittelbarem Leben, nach Spontaneität und Wirksamkeit kulminiert später im berühmten Wunsch: »Verweile doch! Du bist so schön!« (Vers 1700). Die beiden Verse 684–685 markieren somit einen Wendepunkt vom kontemplativen zum aktiven Leben, vom Sammeln zum Erleben.
Doch warum heftet sich mein Blick auf jene Stelle?686
Dieser Vers steht am Übergang von Reflexion zu drohender Handlung. Das Wort »Doch« signalisiert einen plötzlichen Einspruch oder ein Innehalten – Faust spricht sich selbst an, fast überrascht über seine Reaktion. Es wirkt wie ein Selbstkommentar, der inneres Unbehagen offenlegt.
Die Formulierung »heftet sich« impliziert mehr als ein zufälliges Sehen – sie beschreibt einen zwanghaften, fast magnetischen Blick. Das Verb erinnert an eine physische Fixierung, wie ein Objekt, das durch eine unsichtbare Kraft festgehalten wird. Es drückt sowohl Unfreiheit als auch eine unheimliche Anziehung aus.
»jene Stelle« bleibt unkonkret – ein rhetorisches Mittel, das Spannung aufbaut. Es ist die Stelle, an der das Fläschchen mit Gift steht, aber das Gift wird noch nicht benannt. Das macht die Zeile doppeldeutig: äußerlich beschreibt sie einen Blick, innerlich eine seelische Ausrichtung auf den Tod.
Die Frageform bringt die Ambivalenz Fausts zum Ausdruck: Er erkennt seine Handlungstendenz, aber er versteht sie noch nicht ganz – ein Zeichen für psychische Spaltung zwischen Bewusstsein und Trieb.
Ist jenes Fläschchen dort den Augen ein Magnet?687
Hier wird die zuvor nur angedeutete Stelle konkretisiert: »jenes Fläschchen«. Nun weiß der Leser: Es geht um das Gefäß mit dem tödlichen Trank. Die konkrete Benennung bricht die Schwebe des vorherigen Verses und macht klar, worauf Faust blickt – auf das Instrument des möglichen Suizids.
Die rhetorische Frage »Ist ... ein Magnet?« personifiziert das Fläschchen und verleiht ihm eine dämonische Macht. Es zieht Fausts Blick an wie ein Magnet Eisen – eine Metapher für den psychologischen Sog des Todes, für die fascinatio mortis. Das Fläschchen erscheint nicht mehr als bloßer Gegenstand, sondern als Verführer, als Objekt mit fast übernatürlicher Wirkung.
Zugleich reflektiert Faust über die Unfreiheit seines Sehens: Es ist nicht bloß Wille, sondern Zwang – das Auge, und damit die Seele, wird vom Tod verführt.
Zusammenfassend 686-687
Zusammenfassend verdichten diese beiden Verse eine existentielle Spannung: Faust ringt mit seinem Lebensüberdruss, spürt eine bedrohliche Anziehung zum Tod, und reflektiert zugleich kritisch darüber. Die Sprache ist schlicht, aber voll innerer Dynamik. Die Blickbewegung wird zum Seelenbild: In der Fixierung auf das Fläschchen spiegelt sich der Abgrund, an dessen Rand Faust steht – rational beobachtend, aber emotional bereits halb hineingezogen.
Warum wird mir auf einmal lieblich helle?688
Dieser Vers ist eine rhetorische Frage, in der Faust seine plötzliche innere Empfindung des Aufhellens thematisiert. Mehrere Ebenen wirken hier zusammen:
Rhetorik der Überraschung: Das Adverb »auf einmal« betont die Unvermitteltheit dieses Zustandswandels. Faust ist überrascht, ja beinahe verwundert über sein eigenes Empfinden, das nicht rational erklärbar ist.
Adjektiv »lieblich«: Dieses Wort signalisiert einen affektiven Umschwung. Es steht für etwas Angenehmes, Mildes, ja fast Tröstliches – in krassem Gegensatz zur düsteren Stimmung, die ihn zuvor beherrschte.
Das Lichtmotiv: »Helle« steht sowohl für äußeres Licht als auch für innere Erleuchtung, Ahnung, spirituelles Aufklaren. Nach seinem existenziellen Monolog über Erkenntnisgrenzen und Enttäuschung könnte dies den Eintritt einer neuen geistigen Dimension andeuten.
Faust empfindet also eine »helle« Stimmung – nicht weil sich äußerlich etwas geändert hätte, sondern weil sich in ihm etwas regt. Dies ist eine der vielen Stellen, wo Goethe eine Übergangsbewegung zwischen Innenwelt und Außenwelt poetisch verdichtet.
Als wenn im nächt’gen Wald uns Mondenglanz umweht.689
Hier wird die innere Empfindung durch ein starkes Naturbild veranschaulicht:
Vergleichsstruktur: Das »als wenn« leitet einen Vergleich ein – Faust fühlt sich so, als ob ihn Mondlicht in einem nächtlichen Wald umwehe.
Nächtlicher Wald: Der nächtliche Wald ist ein klassisches romantisches Bild für das Unbekannte, das Unheimliche, aber auch für das Geheimnisvolle, das Innere.
Mondenglanz: Der Mond ist ein Lichtspender der Nacht – indirekt, mild, silbern, geheimnisvoll. Sein Glanz ist nicht grell, sondern sanft – wie die »lieblich helle« Stimmung im ersten Vers.
»umweht«: Ein seltenes, poetisches Verb, das eine atmosphärische Bewegung ausdrückt. Es hat etwas Zartes, Flüchtiges, wie ein Hauch oder ein Schleier, der die Seele berührt. Es impliziert eine körperlich-emotionale Erfahrung.
Faust fühlt sich also auf subtile Weise berührt – nicht durch eine klare Erkenntnis, sondern durch ein Bild, das zwischen Natur und Empfindung steht. Es könnte als Vorahnung des Geistigen gedeutet werden, das sich nun, in Gestalt des Erdgeistes, ankündigt.
Zusammenfassend 688-689
Diese beiden Verse markieren eine Wendestelle: Nach tiefer existenzieller Dunkelheit erlebt Faust ein erstes Aufleuchten, ein inneres Aufklaren. Es ist kein Triumph der Erkenntnis, sondern ein poetisch-symbolisches Moment von Gnade oder Einbildungskraft. Es kündigt an, dass eine andere, nicht rationale Erfahrung – der Kontakt mit dem Erdgeist – bevorsteht.
Goethe setzt hier auf Stimmungsdichtung: Die Worte evozieren ein seelisches Leuchten, das noch völlig unklar ist, aber bereits ein Zeichen für das Kommende gibt. Innerhalb der Szene »Nacht« leuchten diese Verse gleichsam wie der Mond in der Dunkelheit – zart, nicht greifbar, aber spürbar.