Der Tragödie Erster Theil
Nacht. (9)
Faust allein.
Nicht darf ich dir zu gleichen mich vermessen.623
Goethe greift hier eine zentrale Thematik der Hybris auf, also der menschlichen Selbstüberschätzung im Verhältnis zum Göttlichen oder Kosmischen. Das Verb »vermessen« ist doppeldeutig: Es meint zum einen »sich erkühnen«, zum anderen spielt es auf das »Messen« im Sinne einer Grenzüberschreitung an.
»Nicht darf ich...« – Ausdruck eines plötzlichen, ernüchternden Selbsteinblicks. Faust erkennt ein Verbot oder eine Grenze, die er vorher überschreiten wollte.
»dir zu gleichen« – Das dir verweist auf den Erdgeist, mit dem Faust eben noch in Kontakt stand. Die Gleichheit mit einem kosmischen Geist – das Streben nach göttlicher Wesensgleichheit – wird als überheblich, ja als anmaßend erkannt.
»mich vermessen« – eine reflexive Wendung, die zeigt, dass Faust sich selbst als Grenzüberschreiter erkennt und seine eigene Anmaßung nun bereut.
Der Vers markiert eine abrupte Wendung von Ekstase zur Demut. Wo Faust sich zuvor für würdig hielt, den Erdgeist zu rufen, erkennt er nun seine Unzulänglichkeit. Es ist der Rückschlag nach dem metaphysischen Hochmut.
Hab’ ich die Kraft, dich anzuziehn, besessen;624
Dieser Vers reflektiert rückblickend auf die Tat selbst – die Beschwörung des Geists – und versucht zu erklären, warum der Geist überhaupt erschienen ist. Zugleich bleibt die Aussage ambivalent:
»Hab’ ich die Kraft... besessen« – Faust erkennt an, dass er offenbar eine Kraft besessen hat, nämlich die Fähigkeit, den Geist anzuziehen. Das ist keine kleine Leistung. Doch dieses »Besessenhaben« steht in Spannung zum vorhergehenden Vers: Wenn er nicht würdig war, dem Geist zu gleichen, warum konnte er ihn dennoch anziehen?
»dich anzuziehn« – Das Bild des Anziehens verweist auf eine magische, fast magnetische Beziehung. Es evoziert ein Verhältnis von Macht oder Einfluss, das Faust für einen Moment hatte – eine Art metaphysischer Sog.
Gleichzeitig bleibt offen, ob diese Kraft aus echtem innerem Verdienst oder nur aus einem einmaligen »Zufall« oder bloßer Neugier entstand.
Zusammenfassend 623-624
Die beiden Verse sind eine komprimierte Reflexion über das Missverhältnis zwischen Streben und Sein, zwischen Wunsch nach metaphysischer Teilhabe und realer Begrenztheit. Faust fühlt sich zugleich erhoben und erniedrigt: Er hat den Erdgeist gerufen – eine ungeheure Tat –, doch ist ihm dessen Nähe nicht möglich, weil er ihm nicht gleicht.
In dieser Spannung liegt ein zentraler Impuls des gesamten Werkes: der Drang des Menschen, über sich hinauszuwachsen, gepaart mit der schmerzhaften Einsicht in die eigene Endlichkeit. Goethe bringt diesen inneren Konflikt in knapper, hochverdichteter Form zum Ausdruck.
So hatt’ ich dich zu halten keine Kraft.625
Diese Zeile markiert einen Moment tiefer innerer Verzweiflung und Erkenntnis. Faust spricht hier allein, nachdem der Erdgeist sich ihm entzogen hat. Er reflektiert seine eigene Ohnmacht.
»So hatt’ ich dich zu halten« – Das Pronomen »dich« bezieht sich auf den Erdgeist, der sich kurz zuvor manifestiert hatte und dann wieder verschwand. Faust hatte gehofft, mit dem Geist in Verbindung treten, ihn gar »halten« zu können, also: den Kontakt zu wahren, ihn für sich zu gewinnen, sich auf gleicher Höhe mit ihm zu befinden.
»keine Kraft« – Das zentrale Wort dieser Zeile. Trotz all seiner Gelehrsamkeit, seines Strebens und Studiums fehlt Faust die existenzielle Kraft, das Transzendente, das Übermenschliche dauerhaft zu fassen. Hier bricht sein Idealismus zusammen. Es ist eine ernüchternde Selbsterkenntnis: Der Mensch ist zu schwach, das Göttliche festzuhalten, wenn er sich nur auf den Intellekt stützt.
Die Wortstellung ist auffällig: Statt »Ich hatte keine Kraft, dich zu halten« bringt Goethe das Objekt »dich« und das Verb »zu halten« nach vorn – das betont den gescheiterten Wunsch stärker als den Mangel an Kraft. Das Persönlichste (der Wille zum Halten) steht vor dem Defizit (keine Kraft).
In jenem sel’gen Augenblicke—626
Diese Verszeile bleibt grammatikalisch unvollständig und endet auf einem Gedankenstrich – eine absichtliche Unterbrechung, die Fausts emotionale Erschütterung reflektiert.
»jenem« – Das Demonstrativpronomen verweist zurück auf einen singulären, außergewöhnlichen Moment: die Erscheinung des Erdgeists. Es war ein Moment der scheinbaren Erfüllung seines tiefsten Verlangens.
»sel’gen« – Die Verkürzung von »seligen« betont die Emotionalität und Intimität der Erinnerung. »Selig« hat religiöse, mystische Konnotationen: Der Augenblick war fast überirdisch, verzückt, von einer höheren Wirklichkeit berührt.
»Augenblicke« – Der Singular zeigt: Es geht nicht um eine längere Erfahrung, sondern um einen einzigen, flüchtigen Moment, der für Faust alles bedeutete – ein Aufscheinen des Absoluten, das sich sofort wieder entzog.
Der Gedankenstrich am Ende dieser Zeile zeigt, dass Faust in der Rede innehält – überwältigt, vielleicht sprachlos. Es folgt keine Erklärung, kein vollständiger Satz. Dieser Schnitt erzeugt eine Pause, in der der Schmerz über das Verlorene nachhallt. Es ist ein Fragment, das seine seelische Erschütterung spiegelt.
Zusammenfassend 625-626
In diesen beiden Versen verdichtet sich Fausts existentielle Krise. Er hatte sich dem Erdgeist genähert, einem Symbol kosmischer Kraft, nur um zu erkennen, dass er nicht fähig ist, diese Verbindung zu halten. Der »selige Augenblick« ist vorbei, und mit ihm auch der Traum vom Einssein mit dem All.
Die Sprache ist schlicht, aber durch ihre Struktur hochgradig ausdrucksstark: Umstellungen, elliptische Formulierungen, ein abrupter Abbruch – all das macht die emotionale Tiefe dieses Moments erfahrbar. Faust erkennt: Nicht Wissen, sondern Wesenstiefe wäre nötig, um das Ersehnte zu erfassen – doch er bleibt Mensch, begrenzt, getrennt.
Ich fühlte mich so klein, so groß,627
In diesem Vers spricht Faust ein paradoxes Selbstgefühl aus. Die Gleichzeitigkeit von »klein« und »groß« ist Ausdruck eines tiefen inneren Zwiespalts.
»klein« verweist auf Ohnmacht, Bedeutungslosigkeit, Unterwerfung unter eine höhere Macht oder das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit.
»groß« hingegen kann für intellektuelle Größe, geistige Weite oder metaphysisches Streben stehen.
Diese Gegensätzlichkeit ist charakteristisch für Fausts Wesen: Er ist zugleich von menschlichen Grenzen gehemmt und vom göttlichen Funken ergriffen. Die Formulierung erinnert an mystische Erfahrungen, in denen sich das Subjekt als aufgelöst und zugleich aufgehoben im Ganzen fühlt – ähnlich wie in der christlichen oder auch neuplatonischen Mystik.
Du stießest grausam mich zurücke,628
Hier richtet sich Fausts Wort an »Du« – eine Macht, die ihn, wie er empfindet, grausam zurückweist. Dieses »Du« kann mehrdeutig gedeutet werden:
Gott oder eine transzendente Instanz, zu der Faust aufsteigen wollte und die seine Hybris bestraft.
Die Natur oder das All, das sich dem forschenden Menschen verweigert.
Es kann auch eine innere Stimme sein, das Gewissen oder die Grenze des Ichs selbst.
Das Wort »grausam« betont die emotionale Intensität seiner Zurückweisung. Faust erlebt sich als Suchender, aber auch als Verstoßener. Das Bild des Zurückstoßens evoziert eine Bewegung: Faust will voran, hinaus, empor – wird jedoch zurückgeschleudert. Es steht symbolisch für die Erfahrung metaphysischer Enttäuschung.
Ins ungewisse Menschenloos.629
Der letzte Vers dieses kleinen Dreiklangs nennt das Ziel dieser Zurückweisung: Faust wird nicht nur zurückgewiesen, sondern geradezu ins »ungewisse Menschenloos« geworfen.
»ungewiss« bedeutet: nicht erkennbar, nicht durchschaubar, nicht sicher. Es ist das Gegenteil jener Erkenntnis, nach der Faust strebt.
»Menschenloos« (in der Bedeutung von Schicksal, Los) verweist auf die allgemeine menschliche Bestimmung, die durch Begrenztheit, Leiden und Sterblichkeit geprägt ist.
Faust erfährt sich hier also als jemand, der vom Göttlichen oder Transzendenten abgehalten und zurück in das dunkle Tal der Menschenexistenz geworfen wird.
Es ist ein Moment existenzieller Ernüchterung: Der metaphysische Hochflug ist gescheitert, und Faust fällt zurück auf das, wovor er fliehen wollte – die irdische Begrenztheit des Menschen.
Zusammenfassend 627-629
Diese drei Verse markieren einen zentralen Punkt in Fausts innerem Drama. Sie spiegeln die Spannung zwischen Erkenntnisdrang und menschlicher Begrenzung, zwischen metaphysischem Aufbruch und existenzieller Verzweiflung. Formal gesehen sind die Verse schlicht und lyrisch offen gehalten, was den inneren Schmerz umso stärker hervortreten lässt. In der Kürze liegt hier eine fast mystische Tiefe: das Scheitern am Absoluten.
Wer lehret mich? was soll ich meiden?630
Wer lehret mich?
Dieser Vers ist eine radikale Infragestellung aller bisherigen Erkenntniswege. Faust, der Gelehrte, der alles Wissen durchdringen wollte (vgl. Vers 354: »Da steh ich nun, ich armer Tor«), erkennt hier die Leere der äußeren Lehren.
Subjektive Krise: Die Frage ist existentiell – »Wer lehret mich?« bedeutet: Wer kann mir überhaupt noch etwas sagen, was mir wirklich hilft?
Absage an Institutionen: Weder die Universität noch Bücher, weder Religion noch Philosophie haben Faust zu wahrer Erkenntnis geführt.
Rekurs auf das Ich: Die Frage nach einem Lehrer deutet auf das Fehlen äußerer Autorität – und kündigt die Hinwendung zur inneren Stimme oder dem Triebhaften an.
»was soll ich meiden?«
Hier fragt Faust nach dem moralischen und existenziellen Navigationssystem seines Handelns.
Ethik ohne Fundament: Wenn es keinen Lehrer mehr gibt, wer sagt dann, was zu meiden (also: zu vermeiden) ist? Die Frage berührt zentrale Probleme moderner Ethik:
Wenn die traditionellen Normgeber (Kirche, Autorität, Naturrecht) versagen, woran soll man sich dann orientieren?
Existenzielle Orientierungslosigkeit: Faust steht vor einer Welt ohne klare Gebote. Diese Frage zielt auf das Fehlen von Orientierung in einer entzauberten Welt.
Meiden ist hier nicht nur moralisch zu verstehen, sondern auch als metaphysische Vorsicht: Was ist gefährlich für die Seele, das Ich, das Streben?
Soll ich gehorchen jenem Drang?631
Dies ist der dramatischste Vers der drei – eine offene Frage, aber zugleich eine Hinwendung.
Der »Drang« steht für den inneren Trieb, das Begehren, die Sehnsucht nach mehr: nach Erkenntnis, Sinn, Erfahrung, vielleicht auch Macht oder Transzendenz.
Gehorchen ist ein starkes Wort: Es unterstellt, dass der Drang ein inneres Gesetz sei, dem man sich fügen müsse – fast schon ein vorweggenommenes »Ich kann nicht anders«.
Dramatischer Umschlag: Der Vers zeigt Fausts Schwanken zwischen innerer Freiheit und innerem Zwang. Er stellt die Möglichkeit in den Raum, dass dieser Drang das Einzige ist, dem er noch folgen kann – und kündigt damit seine rationale Selbstkontrolle auf.
Zusammenfassend 630-631
Diese drei Verse markieren Fausts Übergang vom rationalen Zweifel zur irrationalen Entscheidung. Die Fragen offenbaren seine Isolation und seine Orientierungslosigkeit. Gleichzeitig deuten sie schon auf den Weg, den er einschlagen wird: die Hinwendung zur Magie, zum Drang, zum Teufelspakt. Es ist der Moment, in dem Faust aufhört zu fragen wie ein Gelehrter – und beginnt zu handeln wie ein Getriebener.
Ach! unsre Thaten selbst, so gut als unsre Leiden,632
Goethe eröffnet mit einem Seufzer – »Ach!« –, der Schmerz und Einsicht signalisiert. Es folgt ein Vergleich zwischen »unsre\[n] Thaten« und »unsre\[n] Leiden«, zwei elementaren menschlichen Erfahrungsdimensionen.
Die syntaktische Struktur ist symmetrisch: »unsre Thaten selbst« – »so gut als unsre Leiden«, was eine Parallele und Gleichwertigkeit betont. Nicht nur das Leid, sondern auch das, was wir tun, scheint eine hemmende Wirkung auf unser Leben zu haben.
Inhaltlich durchbricht Goethe hier ein gängiges Narrativ: gewöhnlich gelten nur Leiden als »Last«, während Taten eher als Ausdruck von Freiheit oder Fortschritt erscheinen. Doch Faust erkennt, dass auch das Handeln, selbst wenn es gut ist, zur Bürde werden kann – etwa, weil jede Handlung Konsequenzen nach sich zieht, Verantwortung bindet oder den Spielraum künftiger Entscheidungen einschränkt.
Philosophisch gedacht: Die Tat ist nicht bloß Befreiung, sondern Bindung an Wirklichkeit, Geschichte, Schuld.
Sie hemmen unsres Lebens Gang.633
Diese Zeile formuliert die bittere Konsequenz des vorangegangenen Verses: Die Summe unseres Tuns und Leidens wirkt als Hindernis.
Der Begriff »hemmen« evoziert eine Verlangsamung, ein Blockieren des freien Flusses des Lebens. Gemeint ist nicht das biologische Leben, sondern das innere Streben, der Drang zur Verwirklichung, zur Freiheit, zum »mehr Sein«.
»unsres Lebens Gang« erinnert strukturell an eine Art Wegmetapher: Das Leben wird als eine Bewegung verstanden – ein Fort-Schreiten, ein Streben. Doch Faust beklagt, dass sowohl das, was ihn verletzt, als auch das, was er selbst hervorbringt, diesen Lebensweg aufhalten.
Hier klingt ein tragisches Menschenbild an: Der Mensch kann sich selbst nicht erlösen, weil er unentrinnbar an die Folgen seines Handelns gebunden ist. Es ist ein Vorgriff auf die Schuldproblematik im zweiten Teil des Faust und auf Goethes Auseinandersetzung mit dem protestantischen Freiheitsbegriff.
Zusammenfassend 632-633
Diese beiden Verse zeigen Fausts zunehmende Verzweiflung über die Grenzen menschlicher Existenz. Er erkennt, dass selbst in der aktiven Gestaltung der Welt – in der Tat – keine Befreiung liegt, sondern eine neue Form von Gefangenheit. Damit wird das Grundthema des gesamten Faust-Dramas auf den Punkt gebracht: das Paradox zwischen Streben und Scheitern, Freiheit und Verstrickung.
Dem herrlichsten, was auch der Geist empfangen,634
Diese Zeile stellt eine Art Resümee dar: Der Geist, also das denkende, empfindende, metaphysisch strebende Ich, kann »Herrlichstes« empfangen – Erkenntnis, Intuition, vielleicht sogar göttliche Eingebung. Goethe wählt hier bewusst eine gehobene Ausdrucksweise. Das Adjektiv »herrlichsten« steigert die Qualität des Empfangenen ins Absolute – es handelt sich nicht nur um etwas Gutes oder Wahres, sondern um das Sublime, das Höchste, was der Geist zu fassen vermag.
Das Wort »empfangen« verweist dabei auf eine rezeptive Haltung – der Mensch ist in solchen Momenten nicht Macher oder Gestalter, sondern ein Gefäß für etwas, das sich ihm mitteilt. Es schwingt eine fast mystische Dimension mit: die Nähe zur Offenbarung, zum inneren Schauen, zur intuitiven Durchdringung des Weltganzen.
Aber: Das »was auch« impliziert eine gewisse Skepsis oder Relativierung – als wäre das Empfangene immer nur ein Fragment, eine Möglichkeit unter vielen.
Drängt immer fremd und fremder Stoff sich an;635
Dieser Vers setzt der empfänglichen Erhebung des Geistes einen entgegengesetzten Impuls entgegen. »Immer« zeigt die Allgegenwart und Unerbittlichkeit eines Prozesses: Sobald etwas Herrliches geistig erfahrbar wird, tritt zugleich das »Fremde« hinzu. Der Begriff »Stoff« ist hier mehrdeutig: Er bezeichnet zunächst das Materielle, das Sinnlich-Konkrete – also das, was die reine geistige Erfahrung überlagert oder stört. Es kann sich aber auch auf äußere Einflüsse, Alltag, Bedürfnisse, Triebe oder gar »die Welt« im Ganzen beziehen – das, was die reine Idee verunreinigt.
Die Steigerung von »fremd« zu »fremder« hat poetisch-rhetorisches Gewicht: Es geht nicht nur um das Andere, sondern um das immer weiter sich Entfernde, das Entfremdende, das den ursprünglichen, innerlich-geistigen Impuls mehr und mehr zudeckt.
Der Satzbau »drängt … sich an« wirkt invasiv: Der Stoff ist nicht passiv oder beiläufig, sondern ein aktiver Eindringling. Er drängt, er ist aufdringlich, unaufhaltsam. Es handelt sich um ein Bild für die Erfahrung der Zerstreuung, der Verunreinigung des Ursprünglichen, eine Klage über das Scheitern rein geistiger Erfahrung an der Weltlichkeit.
Zusammenfassend 634-635
Diese beiden Verse bilden ein Spannungsfeld zwischen Geist und Stoff, Idee und Welt, Innerlichkeit und Realität. Sie umreißen eine der Grundspannungen der gesamten Faust-Tragödie: Der Mensch als Geistwesen ist zur Höhe berufen, doch sein Streben wird immer wieder durch die Begrenzungen der Weltlichkeit unterbrochen. Was Faust beklagt, ist nicht nur ein intellektuelles Problem, sondern ein existenzielles – und es ist auch eine theologische Anspielung: Die rein geistige Schau (wie sie Mystik oder Idealismus versprechen) ist im Diesseits stets von der Erfahrung des Anderen, des Fremden, des Irdischen bedroht.
In dieser Klage klingt bereits an, warum Faust später den Pakt mit Mephistopheles schließen wird: Weil er glaubt, durch den Teufel einen Weg zu finden, das Fremde nicht nur zu verdrängen, sondern zu integrieren oder zu überwinden.
Wenn wir zum Guten dieser Welt gelangen636
Dieser Vers beginnt mit einer hypothetischen Konstruktion (»Wenn wir … gelangen«), die bereits eine Bedingung formuliert – ein »Was wäre, wenn«. Das »Gute dieser Welt« ist dabei mehrdeutig:
Es kann materielles Gut bedeuten, also Besitz, Genuss, Macht – alles, was weltlich als erstrebenswert gilt.
Oder es meint sittliches Gutes, das ethisch Tugendhafte, das moralisch Anerkannte im Rahmen bürgerlicher, religiöser oder philosophischer Maßstäbe.
Der Ausdruck »dieser Welt« relativiert bereits das »Gute«: Es ist nicht das absolute Gute, das Transzendente (etwa im platonischen Sinne), sondern das relativ Gute, das im Diesseits verankert ist – und damit schon im Verdacht steht, unzureichend zu sein.
Der Vers bringt Fausts Unzufriedenheit mit dem Erreichbaren auf den Punkt. Selbst wenn man das Gute erreicht, scheint das eigentliche Ziel dennoch verfehlt. Es klingt Resignation an – nicht nur über die Welt, sondern über den ganzen Akt des Suchens und Strebens.
Dann heißt das Beßre Trug und Wahn.637
Hier liegt der Fokus auf einer radikalen Konsequenz: Wenn das erreichbare »Gute« das höchste Ziel ist, dann ist das »Bessere« – also das, was darüber hinausgeht – bloß Illusion (»Trug«) und Täuschung (»Wahn«).
»Beßre« ist eine Steigerung: ein übergeordnetes Ideal, das jedoch im Kontrast zum real erreichten Guten als unerreichbar und deshalb als Selbsttäuschung erscheint. Zwei Perspektiven lassen sich daraus entwickeln:
1. Desillusionierung des Idealismus: Wer mit dem Erreichbaren zufrieden ist, gibt das Streben nach dem Höheren auf – und erklärt alles darüber hinausgehende für Illusion. Das richtet sich gegen eine saturierte Weltanschauung, die sich im Wohlstand oder in moralischem Mittelmaß eingerichtet hat.
2. Gefährdung des Strebens: Faust erkennt, dass in dem Moment, in dem man das Erreichbare als »gut genug« akzeptiert, das eigentliche, metaphysische Streben verraten wird. Das »Beßre« verliert seinen Anspruch – man nennt es dann »Trug und Wahn«, um sich vor der unbequemen Wahrheit zu schützen, dass man sich mit weniger begnügt hat.
Die Worte »Trug« und »Wahn« sind in Faust Schlüsselbegriffe:
»Trug« verweist auf Sinnestäuschung, auf falsche Bilder, auf Blendwerk – etwa im Sinne von Mephistos Verführungsstrategien.
»Wahn« geht darüber hinaus: Es meint Wahnvorstellungen, also auch geistige Verirrung, Größenwahn, Hybris – etwas, das Faust selbst gefährdet.
Zusammenfassend 636-637
Diese beiden Zeilen fassen Fausts existenzielle Lage zusammen: Er will sich nicht mit dem zufrieden geben, was in der Welt als »gut« gilt – sei es Wissen, Tugend, Besitz oder Ansehen. Für ihn ist das wahre Ziel immer jenseits davon. Doch er erkennt auch: Wer das Erreichbare zur Norm erhebt, verliert die Offenheit für das »Beßre« und erklärt jede weitere Hoffnung zum bloßen Wahn. In diesem Sinne enthalten die Verse eine bittere Kritik an Selbstzufriedenheit, Anpassung und geistiger Stagnation – und sie begründen Fausts Bereitschaft, mit Mephisto einen Pakt einzugehen: aus dem Drang heraus, über das Gute dieser Welt hinauszugehen, koste es, was es wolle.
Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle638
Dieser Vers beginnt mit einem Relativsatz ohne klaren Bezug im unmittelbaren Kontext – das »die« verweist rückwirkend auf ein Gedankengefüge, das in der Szene zuvor aufgebaut wurde: Faust reflektiert über seine frühere Begeisterung für das Wissen, für die Wissenschaft, vielleicht auch für Idealismus, Menschlichkeit, Liebe, Streben nach Wahrheit – all das, was den Menschen geistig hebt.
Das Prädikat »gaben« verweist auf einen Ursprung – diese Gefühle haben Faust das Leben gegeben. Das bedeutet nicht bloß biologische Existenz, sondern ein beseeltes, intensives Dasein. In den »herrlichen Gefühlen« liegt also eine Art transzendenter Impuls, eine Energie, die über das bloße Funktionieren hinausgeht.
Die Wortwahl ist von Pathos durchzogen: »herrlich« verleiht den Gefühlen eine fast göttliche oder zumindest metaphysische Qualität. Goethe inszeniert sie nicht als bloße Emotionen, sondern als lebendigmachende Kräfte, fast wie in der romantischen Naturphilosophie.
Erstarren in dem irdischen Gewühle.639
Hier kippt das Bild: Die Gefühle, die einst belebten, erstarren. Das Verb »erstarren« deutet auf Leblosigkeit, Bewegungslosigkeit, Kälte – ein starkes Antibild zum lebensspendenden Impuls des ersten Verses. Es ist ein poetischer Ausdruck für seelisches Absterben oder eine existenzielle Lähmung.
Ursache ist das »irdische Gewühle« – eine Metapher für die Welt des Alltags, des materiellen, zerstreuten, verwirrenden Lebens. Das »Gewühl« ist ungerichtet, laut, chaotisch – es steht im Gegensatz zur Stille und Erhabenheit der »herrlichen Gefühle«. Der Ausdruck »irdisch« verstärkt den Kontrast: Er verweist auf das Niedrige, Weltliche, Uninspirierte.
Zusammenfassend 638-639
Die beiden Verse zusammen konstruieren also eine existenzielle Klage: Was Faust einst belebte – Idealismus, Sehnsucht, vielleicht Liebe oder metaphysische Ahnung – ist in der Welt der sinnlichen Zerstreuung oder auch der wissenschaftlich-rationalen Zergliederung erstarrt. Die spirituelle Glut ist ausgelöscht im Getöse des Weltlichen. Diese Leere bildet den Nährboden für Fausts Entscheidung, einen Pakt mit Mephisto einzugehen.
Wenn Phantasie sich sonst, mit kühnem Flug,640
Der Vers beginnt hypothetisch mit »Wenn« und verweist auf eine frühere, andere Haltung des Subjekts. »Phantasie« steht hier für die schöpferische Imagination, für die Fähigkeit des Menschen, über die sinnlich erfahrbare Welt hinauszugreifen. Der Ausdruck »mit kühnem Flug« evoziert ein Bild des mutigen Aufsteigens, beinahe wie ein Ikarus-Flug in geistige Höhen. Diese Bewegung ist nicht nur intellektuell, sondern auch emotional und spirituell motiviert – sie trägt das Streben nach Transzendenz in sich. Faust beschreibt hier seine frühere Verfassung: der Geist konnte sich »kühn« erheben.
Und hoffnungsvoll zum Ewigen erweitert,641
Der zweite Vers erweitert das Bild des Aufstiegs und präzisiert dessen Ziel: das »Ewige«. Dies ist ein zentraler Begriff, der in der gesamten Tragödie immer wieder anklingt – als das Absolute, das Göttliche, das Unvergängliche. Die Phantasie ist nicht nur mutig, sondern »hoffnungsvoll« – ein deutliches Zeichen dafür, dass in früheren Momenten noch eine lebendige Erwartung bestand, etwas Höheres erreichen zu können. Das Wort »erweitert« gibt der Bewegung eine raumgreifende Qualität: das Subjekt öffnet sich dem Unendlichen, durch eine Art innerer Ausdehnung.
So ist ein kleiner Raum ihr nun genug,642
Die Konjunktion »So« leitet den Wendepunkt ein: jetzt ist alles anders. Die hochfliegende Phantasie, eben noch zum »Ewigen« erweitert, begnügt sich nun mit einem »kleinen Raum«. Dieser Gegensatz hat eine erschütternde Wirkung. Der zuvor weite geistige Horizont ist kollabiert. Das lyrische Ich empfindet seine geistige Bewegung nun als eingeengt. Dieser »kleine Raum« kann einerseits als äußerer Ort gelesen werden (das Studierzimmer), andererseits als innere Verengung – ein Zustand der Depression, der geistigen Stagnation. Es liegt auch eine fast zynische Resignation darin: früher strebte man nach dem Höchsten, jetzt reicht das Wenigste.
Wenn Glück auf Glück im Zeitenstrudel scheitert.643
Dieser Vers liefert die Begründung für die Einengung: das Glück scheitert. Nicht nur einmal – »Glück auf Glück« –, sondern immer wieder, in Serie. Der »Zeitenstrudel« ist ein Bild für die Vergänglichkeit, das unstete, unaufhaltsam vorantreibende Zeitgeschehen, das alles mit sich reißt. Der Begriff »scheitert« ist hart: er markiert ein aktives Misslingen. Das Glück, das in der Zeit gesucht wird, kann nicht bestehen – es wird vom Strudel zerschlagen. Die Bewegung der Zeit selbst ist zerstörerisch. Dies ist eine fundamentale Erkenntnis über die Unmöglichkeit bleibenden Glücks im Irdischen.
Zusammenfassend 640-643
Diese vier Verse verdichten Fausts existentielle Krise: Die geistige Erhebung (Phantasie, Hoffnung, Streben nach dem Ewigen) wird durch die Erfahrung der Vergänglichkeit (Zeitenstrudel, Scheitern des Glücks) zunichtegemacht. Der Raum des Denkens und Fühlens wird enger – Faust ist zurückgeworfen auf sich selbst, auf das Irdische, das Begrenzte. Der Ton ist desillusioniert, melancholisch, fast fatalistisch. Zugleich kündigt sich hier die Notwendigkeit eines radikalen Wandels an – Fausts Seele ist bereit für den Pakt mit Mephisto, weil das Streben nach dem Höchsten in der bisherigen Form zusammengebrochen ist. Der »kleine Raum« ist so gesehen auch das Gefängnis, aus dem er durch den Bund mit den dunklen Kräften auszubrechen hofft.
Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen,644
Dieser Vers eröffnet mit dem zentralen Motiv der Sorge, einem Grundthema im gesamten Faust-Drama, das später in Faust II eine allegorische Gestalt annimmt. Hier wird sie noch abstrakt als psychisches Phänomen dargestellt. Das Verb »nisten« evoziert das Bild eines Vogels, der sich einnistet – ein fremdes Wesen, das dauerhaft Einzug hält. Es suggeriert eine heimtückische, dauerhafte Präsenz im Innersten des Menschen. Das Wort »gleich« verstärkt die Unvermeidlichkeit und Plötzlichkeit des Eindringens. Die Sorge trifft Faust nicht langsam, sondern sofort, als unvermeidbare Konsequenz seines Denkens und Fühlens.
Das »tiefe Herz« verweist auf die emotionale und existenzielle Tiefe Fausts. Es geht nicht um oberflächliche Angst, sondern um eine gründliche, existenzielle Verunsicherung, die Faust im Kern seines Seins trifft. Diese Beschreibung rückt die Sorge in eine Nähe zur seelischen Qual und damit auch zum philosophischen Leiden an der Welt und der Erkenntnis.
Dort wirket sie geheime Schmerzen,645
Der zweite Vers entfaltet, was die Sorge im Inneren bewirkt. Das Verb »wirket« ist archaisch und erinnert an das biblische oder mythische Deutsch – ein sprachlicher Hinweis auf tiefere, nahezu kosmische Prozesse. Es deutet darauf hin, dass die Sorge nicht passiv ist, sondern gestaltend, schaffend, aber in zerstörerischer Weise: Sie »wirkt Schmerzen«.
Das Adjektiv »geheim« akzentuiert, dass es sich um unsichtbare, innere Qualen handelt. Diese Schmerzen sind nicht äußerlich sichtbar oder erklärbar, sondern betreffen das Unsagbare, das Unbewusste, das Innere – das psychische Erleben. Es entsteht ein Bild der inneren Zersetzung, des unerklärlichen Leidens, das die rationale Welt nicht fassen kann.
In dieser Zeile klingt Fausts existentielle Krise deutlich an: Er leidet nicht an äußerlichen Missständen, sondern an der Begrenztheit des Denkens, an der Ohnmacht des Verstandes, das Wahre und Ganze zu erfassen – ein Leid, das er sich selbst kaum erklären kann.
Zusammenfassend 644-645
Zusammengefasst offenbaren die beiden Verse in dichter Bildsprache und ruhigem Rhythmus ein zentrales Motiv Goethes: die Sorge als innerer Zersetzungsprozess, der den Menschen in seinem Innersten trifft und leidend zurücklässt. Goethe deutet an, dass intellektuelles Streben – wie das Fausts – stets von einem unaufhebbaren inneren Zweifel begleitet wird, der nicht durch Wissen, sondern nur durch eine andere Art der Erfahrung (Liebe, Gnade, etc.) aufgehoben werden kann.
Unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh;646
Hier ist »sie« die personifizierte Unzufriedenheit, vielleicht auch die Sehnsucht oder gar das Denken selbst – das, was Faust umtreibt. Das Verb »wiegt« suggeriert eine wiegende Bewegung, wie das eines Kindes in den Armen der Mutter – doch anstelle von Beruhigung bringt diese Bewegung Unruhe. Das Adjektiv »unruhig« verstärkt diesen Gegensatz: Was wie ein Wiegen aussieht, ist in Wahrheit rastlos. Das Paradox zwischen Bewegung und Stillstand durchzieht diese Zeile: Faust kann keine Ruhe finden, selbst in Momenten, die eigentlich Lust oder Frieden bringen sollten. Das Wortpaar »Lust und Ruh« steht für das sinnliche und geistige Wohlbefinden, das ihm verwehrt bleibt. Der Vers verdeutlicht so Fausts existenziellen Zustand: eine ruhelos kreisende Suche nach Sinn, die weder Freude noch Frieden bringt.
Sie deckt sich stets mit neuen Masken zu,647
Die zweite Zeile führt diese Gedanken fort und vertieft sie. Wieder ist »sie« die unbestimmte Kraft in Fausts Innerem – nun näher bestimmt durch ihr täuschendes Wesen: Sie trägt Masken, und zwar ständig neue. Das Bild der Maske verweist auf Verstellung, Illusion, Mehrdeutigkeit. Faust sieht sich mit einem immer wechselnden Anschein konfrontiert: Was sich als Wahrheit oder Erkenntnis darbietet, entpuppt sich als bloßes Trugbild. Das »Zudecken« mit Masken betont den aktiven Versuch, die wahre Gestalt zu verbergen. Dies lässt sich sowohl auf die Wissenschaft (die sich als Wahrheit ausgibt, aber das Wesentliche verbirgt) als auch auf Fausts eigene Psyche deuten: seine Sehnsüchte, Zweifel und Triebe treten nie unverhüllt zutage, sondern erscheinen stets vermittelt durch wechselnde Formen.
Zusammenfassend 646-647
In der Zusammenschau spiegeln die Verse Fausts tragische Erkenntnis wider: Weder das Streben nach Erkenntnis noch das sinnliche Leben vermögen ihm Erfüllung zu geben, weil das Wesentliche sich ihm immer wieder entzieht – verhüllt, unruhig, unerreichbar. Die Sprache ist dabei rhythmisch bewegt und metaphorisch dicht – typisch für Goethes tiefenpsychologisch geschärften Ausdrucksstil in den frühen Szenen von Faust I.
Sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen,648
Faust spricht hier über eine Verkleidung oder Verwandlungsfähigkeit dessen, was ihn vom wahren, innersten Erkenntnisziel abhält. Das »Sie« ist abstrakt – es steht für die Macht, die ihn gefangen hält, ihn ablenkt oder verführt – sei es Natur, Schicksal, der Teufel, oder auch einfach die trügerische Welt selbst.
»Haus und Hof«: Diese Wendung steht für bürgerliche Existenz, für Besitz, äußere Sicherheit, für das Sesshafte. Es sind Begriffe der äußeren Welt, die Stabilität und Ordnung versprechen – Werte, die Faust jedoch nicht erfüllen oder erfüllen möchte, weil er nach Transzendenz strebt.
»Weib und Kind«: Dies erweitert die Perspektive ins Private, Familiäre, Emotionale. Auch Liebe und Nachkommenschaft sind in Fausts Augen Formen der »Täuschung« oder »Bindung«, die ihn von der Erkenntnis des »Ganzen«, des Absoluten abhalten. Dabei spürt man bereits einen gewissen Nihilismus oder auch den Schatten der späteren Gretchen-Tragödie.
»erscheinen«: Das Verb ist entscheidend. Es geht nicht um das Sein, sondern um das Scheinen. Die Welt tritt Faust in Formen entgegen, die ihn festhalten wollen – aber sie sind möglicherweise nur Masken, Illusionen. Diese Erkenntnis ist stark von einer gnostischen Weltsicht geprägt, in der das Materielle als Schein oder gar als Falle begriffen wird.
Als Feuer, Wasser, Dolch und Gift;649
Hier schlägt die Aussage ins Bedrohliche um: dieselbe Macht, die sich in häuslichen, liebevollen Formen zeigen kann, tritt auch als zerstörerische Gewalt auf.
»Feuer und Wasser«: Diese klassischen Naturgewalten stehen für vernichtende Elemente – zugleich aber auch für Reinigung, Läuterung, Transformation. Feuer kann eine alchemistische oder apokalyptische Bedeutung haben, Wasser steht oft für Untergang oder Wiedergeburt. In Fausts Krise überwiegt hier klar das Bedrohliche.
»Dolch und Gift«: Diese beiden Begriffe sind explizit tödlich – sie stehen für Mord, Selbstmord, radikale Vernichtung. Sie erinnern an Fausts frühere Gedanken an den Gifttrank (Verse 703ff), mit dem er seinem Leben ein Ende setzen wollte.
Diese zweite Verszeile deutet also an, dass die Macht, die Faust als hemmend oder trügerisch empfindet, nicht nur verführerisch, sondern auch tödlich sein kann. Es ist eine Art dämonischer Verwandlungsreigen: die Welt, die ihn fesselt, kann ebenso in Liebe wie in Vernichtung erscheinen.
Zusammenfassend 648-649
Die beiden Verse zeichnen ein extrem pessimistisches Bild der Welt. Faust sieht sich einer Macht gegenüber, die ihm in allen Gestalten entgegentritt – in schönen, heimeligen wie in mörderischen. Es ist eine umfassende Projektion seiner Unzufriedenheit mit der Begrenztheit menschlicher Erfahrung. Diese Zeilen sind zentral für das Verständnis von Fausts Antrieb: nichts in dieser Welt genügt ihm – weil alles »erscheint«, aber nicht »ist«, weil es ihn von der wahren, innersten Erkenntnis trennt.
Hier manifestiert sich die existenzielle Verzweiflung, die Faust letztlich offen für den Bund mit Mephistopheles macht. Er will nicht das Leben in seinen vielen Erscheinungen – er will das »Ganze«, das »Wesentliche«, selbst um den Preis der Verdammnis. Diese zwei Verse verdichten also Fausts tiefe Ablehnung der Welt der Erscheinungen zugunsten eines radikalen Strebens nach transzendenter Wahrheit.
Du bebst vor allem, was nicht trifft,650
Du bebst – Das Personalpronomen »du« ist eine Selbstansprache, eine gespaltene Innensicht, in der Faust sich selbst gegenübertritt wie ein Fremder oder wie ein Ankläger. Das Verb »beben« steht für eine tiefgehende emotionale Reaktion – Angst, Furcht, existenzielle Unsicherheit. Es ist nicht bloß ein Zittern, sondern ein Beben, das die Fundamente betrifft: eine Erschütterung des Selbst.
vor allem, was nicht trifft – Hier liegt eine paradoxe Aussage vor: Faust zittert vor Dingen, »die nicht treffen«, also ihn nicht wirklich erreichen, nicht verwunden oder beschädigen. Es geht nicht um reale Bedrohungen, sondern um eingebildete, um das bloße Potenzial der Verletzung. Diese Formulierung deutet auf eine neurotische Überempfindlichkeit hin, eine Angst vor der Möglichkeit selbst, ohne dass je etwas konkret geschieht.
Faust leidet an einer diffusen Angst, an einer existenziellen Grundfurcht, die nicht auf reale Gefahren reagiert, sondern auf die bloße Möglichkeit des Scheiterns, der Leere, des Sinnverlustes. Er ist also nicht furchtlos, sondern vielmehr hypersensibel gegenüber allem, was ihn nicht konkret berührt – eine tiefe, metaphysische Unsicherheit.
Und was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen.651
Und was du nie verlierst – Wieder ein paradoxes Bild: Es geht um etwas, das dauerhaft da ist, unverlierbar – aber gerade das bringt kein Glück. Was hier gemeint ist, bleibt offen. Es kann gelesen werden als: die eigene Identität, das Wissen, das Selbst, oder gar das Leben selbst. Möglicherweise ist es die menschliche Beschränktheit – ein Zustand, den Faust nie hinter sich lassen kann.
das mußt du stets beweinen – Der Zwang zum »Beweinen« beschreibt nicht eine freiwillige oder situationsbedingte Trauer, sondern eine permanente, fast rituelle Klage. Es ist ein innerer Imperativ: selbst das Unverlierbare wird zur Quelle des Schmerzes. Es liegt ein tiefes Gefühl von Unzulänglichkeit in dem, was Faust besitzt oder nie verlieren kann – das, was ihn an seine Begrenztheit bindet.
Faust beklagt gerade das, was ihm ständig gegeben ist, weil es ihn an seine Sterblichkeit, seine Endlichkeit oder seine Unfähigkeit erinnert, über sich selbst hinauszugehen. Das beständige Weinen verweist auf einen Zustand existenzieller Trauer – kein punktuelles Leid, sondern eine strukturelle Melancholie über das Menschsein an sich.
Zusammenfassend 650-651
Diese zwei Verse fassen Fausts innere Zerrissenheit in eine doppelte Paradoxie:
1. Er fürchtet das, was gar nicht »trifft« – eine Angst ohne realen Anlass, eine Angst vor dem Unfassbaren.
2. Er beweint das, was ihm niemals genommen wird – eine Klage über das scheinbar Selbstverständliche oder Unerträgliche im Gegebenen.
Diese Gedanken sind nicht nur psychologisch, sondern zutiefst philosophisch. Faust leidet nicht an äußeren Umständen, sondern an der Struktur des Daseins selbst. In ihm tobt das klassische romantisch-aufklärerische Spannungsverhältnis zwischen Erkenntnisdrang und Weltverneinung, zwischen metaphysischem Hunger und der Begrenztheit des menschlichen Seins. Die zwei Verse sind also eine poetisch verdichtete Formel für die »Faustische« Tragik.
Den Göttern gleich’ ich nicht! zu tief ist es gefühlt;652
Faust gesteht sich ein, dass er den göttlichen Höhen, nach denen er strebte, nicht entspricht. Die Wendung »zu tief ist es gefühlt« betont, dass diese Erkenntnis nicht bloß rational, sondern tief existentiell und emotional erfahren ist. Hier bricht der titanische Drang zusammen, sich mit dem Göttlichen gleichzustellen – ein zentrales Motiv der Hybris in der Faust-Gestalt. Dieser Vers ist auch als impliziter Rückverweis auf das Prometheus-Motiv lesbar, das Goethe an anderer Stelle ebenfalls thematisiert. Die tragische Einsicht lautet: Das Streben nach gottgleicher Erkenntnis führt nicht zur Erhöhung, sondern zur Erniedrigung.
Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt;653
Die Selbstwahrnehmung schlägt nun radikal in ihr Gegenteil um: Von der unerreichbaren Gottähnlichkeit hin zur tiefsten Niederung des Daseins. Das Bild des »Wurms« ist bewusst gewählt – ein klassisches Symbol der Niedrigkeit, der Vergänglichkeit und der Bedeutungslosigkeit, häufig auch in vanitas-Darstellungen. Der »Staub«, den der Wurm durchwühlt, verweist zugleich auf die materielle Welt wie auch auf den Tod (Staub zu Staub). Faust sieht sich als ein Wesen, das in der Erde gräbt, blind und getrieben – ein starkes Bild für seine seelische Lage.
Den, wie er sich im Staube nährend lebt,654
Hier wird das Bild des Wurms ausgeführt: Er lebt von dem, was ihn umgibt – von Staub, von Verwesung, von dem, was unterhalb des Lebens liegt. Das Wort »nährend« kann ironisch verstanden werden: Der Wurm findet zwar Nahrung, aber in einem trostlosen, niedrigen Dasein. Diese Zeile spiegelt Fausts Gefühl, dass sein Streben ihn nicht erhebt, sondern in ein rein materielles, vergebliches Leben zurückstößt. Das Leben nährt sich selbst – aber es ist ein Leben im Staub, ohne geistige Höhe.
Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt.655
Der Kontrast zum vorherigen Vers kulminiert hier. Der Wurm, der sich mühsam durchs Leben frisst, wird achtlos durch den Tritt eines Wanderers zertreten. Dieses Bild unterstreicht Fausts Gefühl völliger Bedeutungslosigkeit und Auslöschung. Der Wanderer, der nicht einmal bewusst handelt, zerstört das kleine Leben – es ist eine existenzielle Ohnmacht, die hier gespiegelt wird. Zugleich wird das Verhältnis zwischen dem denkenden Menschen (Faust) und der Welt (hier: der Wanderer als Sinnbild für das Schicksal oder das Göttliche) deutlich: Der Mensch wird zertreten, ohne dass es bemerkt oder bedacht wird.
Zusammenfassend 652-655
Diese vier Verse markieren einen Wendepunkt in Fausts innerer Entwicklung. Die grandiose Beschwörung des Erdgeists, die ihn zunächst als Menschen über sich hinausheben sollte, endet in der Erkenntnis seiner Ohnmacht. Das Wechselspiel zwischen Größenwahn und Selbstvernichtung, zwischen prometheischem Aufbegehren und nihilistischer Selbstverachtung, ist ein zentrales Motiv der ganzen Tragödie. Fausts Selbsterkenntnis – dass er weder Gott noch Mensch im vollen Sinn ist – macht ihn zur tragischen Figur der Moderne: zerrissen zwischen Wissen und Glauben, zwischen Sehnsucht und Grenzen, zwischen metaphysischem Hunger und existentieller Leere.