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Der Tragödie Erster Theil

Nacht. (7)

Wagner
Allein der Vortrag macht des Redners Glück;546
Dieser Vers steht ganz im Zeichen des rhetorischen Ideals der Aufklärung und ihrer Bildungstradition:
»Allein« hat hier eine einschränkende, fast dogmatische Bedeutung. Wagner behauptet: Nur der Vortrag, also die Art und Weise des Sprechens, mache den Erfolg eines Redners aus. Es geht ihm nicht um die Tiefe des Gedankens, sondern um äußere Form, um Wirkung.
»der Vortrag« verweist auf die Kunst der Rede, der Präsentation, der Performanz. Inhaltliche Tiefe wird zweitrangig.
»macht des Redners Glück« meint wörtlich: Das Glück, das Ansehen, der Erfolg eines Redners hängt vom Vortrag ab. In dieser Formulierung wird auch ein impliziter Zweckgedanke sichtbar: Sprache dient nicht primär der Wahrheit, sondern der Anerkennung.
Wagner steht mit dieser Aussage exemplarisch für das Buchgelehrte, formalistische Ideal, das Faust innerlich längst überwunden hat. Er vertraut auf Technik, nicht auf Einsicht – auf Rhetorik, nicht auf Wahrheit.

Ich fühl’ es wohl, noch bin ich weit zurück.547
Dieser Vers ist Wagners Selbsturteil – bescheiden, aber zugleich ehrgeizig:
»Ich fühl’ es wohl«: Wagner hat eine Selbsterkenntnis, die gefärbt ist von einem Gefühl des Mangels. Er weiß, dass er die Fähigkeit zum überzeugenden Vortrag noch nicht gemeistert hat. Die Betonung auf fühlen (nicht etwa »weiß«) lässt auch Unsicherheit und Selbstzweifel erkennen.
»noch bin ich weit zurück«: Das Adverb »noch« zeigt seinen Glauben, dass er eines Tages aufholen wird. Er erkennt eine Differenz zwischen Ideal und eigenem Stand, sieht sich aber auf einem Weg. Der Ausdruck impliziert den Wunsch, irgendwann das Glück des Redners zu erlangen, das er mit Vortrag gleichsetzt.
Zusammenfassend 546-547
Wagner offenbart hier seine ganze geistige Konstitution: Er ist fleißig, aber in seiner Geisteshaltung beschränkt. Für ihn besteht Bildung im beherrschten Vortrag, nicht im innerlich bewegten Denken. Tiefere seelische oder metaphysische Fragen, wie sie Faust umtreiben, bleiben ihm fremd. Die Verse bilden somit einen Kontrastpunkt zum rastlos suchenden Faust, der wenige Verse vorher noch mit dem »hohen Geist« zu kommunizieren versuchte und über die Begrenztheit der akademischen Welt klagte.
Goethe nutzt Wagners Aussage als Spiegel: der eine glaubt, mit korrektem Vortrag Wahrheit zu erzeugen; der andere verzweifelt daran, dass keine Form der Sprache das Wesen der Dinge greifbar macht. So entsteht ein Spannungsfeld zwischen Bildung als Reproduktion (Wagner) und Bildung als existentielle Suche (Faust).

Faust.
Such’ Er den redlichen Gewinn!548
Wörtliche Bedeutung: »Er (Wagner) soll nach ehrlichem, rechtmäßigem Gewinn streben.«
Analyse:
Das Imperativische »Such’ Er« stellt eine höfliche, aber klare Aufforderung dar; das große »E« (»Er«) ist als höfliche Anrede zu verstehen, wie sie in der Goethezeit üblich war.
»redlich« steht für Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit, sittliche Integrität – ein zentraler moralischer Begriff der Aufklärung und auch der bürgerlichen Ethik.
»Gewinn« ist hier doppeldeutig: Es kann sich auf materiellen Gewinn (Wagner als Karrierist) oder geistigen Gewinn (Wissen, Erkenntnis) beziehen. Faust spielt hier wohl auf beide Ebenen an – er weist Wagner an, das Redliche im Streben zu bewahren, nicht bloß das Ruhm- oder Prestigeträchtige.
Kontextuell:
Faust erkennt in Wagner jemanden, der sich in der bloßen Aneignung von Wissen verliert, ohne tieferen Geist oder Sinn – die bloße Buchgelehrsamkeit, die Faust selbst verwirft.

Sey er kein schellenlauter Thor!549
Wörtliche Bedeutung: »Er soll kein Narr sein, der mit einer klappernden Schelle auf sich aufmerksam macht.«
Analyse:
»Sey er« ist erneut eine höfliche, aber mahnende Formulierung, im Konjunktiv Präsens – eine Adhortation mit latentem Vorwurf.
»schellenlaut« ist ein neologistisches Kompositum Goethes: Es verbindet die »Schelle« (wie sie Narren im Mittelalter trugen) mit dem Klang (»laut«) – gemeint ist jemand, der lärmt und sich durch Äußerlichkeit hervortut.
»Thor« (veraltet für »Narr«) ist eine scharfe Kritik: Derjenige, der sich lärmerisch selbst inszeniert, hat keine wahre Tiefe.
Rhetorisch:
Die Alliteration in »schellenlauter Thor« unterstreicht den Spottrhythmus, fast lautmalerisch – man »hört« förmlich die Narrenschellen klingeln. Die Formulierung entlarvt Wagner als jemanden, der äußere Geltung über innere Tiefe stellt.
Symbolisch:
Faust kontrastiert wahre Suche nach Erkenntnis (redlicher Gewinn) mit der narzisstischen Selbsttäuschung und bloßen Wissenschaftsgockelei. Dies ist auch ein Selbstkommentar: Er weiß um die Gefahr des eigenen Hochmuts und spiegelt diesen zugleich in Wagner.
Zusammenfassend 548-549
Faust distanziert sich in diesen Versen scharf von einer bloß äußerlich-gelehrten Wissenschaft, wie sie Wagner verkörpert. Er fordert authentische Suche, nicht Eitelkeit. Die Zeilen sind nicht nur ein Dialogbeitrag, sondern formulieren auch Goethes eigenes humanistisches Ideal: Wissen muss ethisch verankert und existentiell getragen sein – sonst wird der Mensch zum »schellenlauten Thor«.

Es trägt Verstand und rechter Sinn550
»Es trägt« – Das unpersönliche Subjekt »es« signalisiert eine allgemeine Aussage. Gemeint ist: Die Sache an sich oder eine wahre Erkenntnis »trägt« – d.h. trägt vor, bringt zum Ausdruck, stellt sich dar. Goethe verwendet hier eine beinahe juristische oder rhetorische Wendung, die auf das Sich-Zeigen, das Sich-Vertreten bezieht.
»Verstand« – Der Verstand als rationales Erkenntnisvermögen wird hier als Träger oder Ausdrucksmittel betrachtet. Aber Goethe meint nicht bloße Logik, sondern eine vernunftgeleitete Durchdringung der Welt.
»und rechter Sinn« – Der »rechte Sinn« meint mehr als bloßes Verstehen. Es handelt sich um eine sittlich und geistig ausgewogene Haltung: Maß, Tiefe, vielleicht sogar Wahrhaftigkeit. »Recht« bedeutet hier: dem Wesen der Dinge entsprechend, angemessen, ethisch fundiert.
Insgesamt formuliert Goethe in diesem Vers die Idee, dass eine wahre, verständige und sinnvolle Erkenntnis bereits in sich selbst die Kraft trägt, sich darzustellen – sie bedarf keiner großen äußeren Mittel.

Mit wenig Kunst sich selber vor;551
»Mit wenig Kunst« – Diese Wendung ist zentral. »Kunst« meint hier nicht künstlerisches Schaffen im modernen Sinne, sondern künstliche Machart, also Rhetorik, Stilmittel, Verzierung, möglicherweise auch Täuschung oder Manipulation. Goethe stellt die provokante These auf: Wahres braucht kaum Kunst, kaum Darstellungskunst, kaum Inszenierung – es tritt schlicht und einfach auf. Damit stellt er sich bewusst gegen eine barocke oder sophistische Tradition der Überformung.
»sich selber« – Die Wahrheit, der Sinn, die Erkenntnis: sie tritt selbst auf. Es ist keine Fremdinszenierung notwendig. Hier spricht ein Ideal des Authentischen.
»vor« – Verkürzt aus »trägt sich vor« bzw. »tritt hervor«. Das bedeutet: Die Sache offenbart sich, sie wird verständlich, sichtbar, tritt ins Bewusstsein.
Zusammenfassend 550-551
Faust distanziert sich in diesen Versen scharf von einer bloß äußerlich-gelehrten Wissenschaft, wie sie Wagner verkörpert. Er fordert authentische Suche, nicht Eitelkeit. Die Zeilen sind nicht nur ein Dialogbeitrag, sondern formulieren auch Goethes eigenes humanistisches Ideal: Wissen muss ethisch verankert und existentiell getragen sein – sonst wird der Mensch zum »schellenlauten Thor«.
Diese zwei Verse artikulieren eine zentrale Idee der Aufklärung: Wahrheit ist einfach. Sie ist in sich selbst verständlich, wenn Verstand und rechter Sinn gegeben sind. Die äußere Kunst (Rhetorik, Überredung, Blendwerk) wird zur bloßen Hülle oder sogar zum Hindernis. Faust beklagt in seinem Monolog zuvor die Unzulänglichkeit der akademischen Disziplinen (Philosophie, Jura, Medizin, Theologie), und hier postuliert er, dass wahres Verstehen jenseits dieser gelehrten »Kunst« liegen muss.
Die Verse sind zudem ein Statement Goethes über seine eigene Poetik: Die echte Wahrheit braucht keine kunstvolle Verkleidung – gerade im Kontrast zur Kunstsprache der Rhetorik oder der gelehrten Scholastik. Zugleich bleibt diese Behauptung selbst ein rhetorisches Kunststück: Goethe drückt die Wahrheit mit enormer sprachlicher Eleganz aus.

Und wenn’s euch Ernst ist was zu sagen,552
Dieser Vers eröffnet eine Frage, aber zugleich auch einen Vorwurf. Faust spricht hier den Erdgeist direkt an. Die Formulierung »wenn’s euch Ernst ist« – also: wenn ihr wirklich etwas Wesentliches mitzuteilen habt – stellt die Ernsthaftigkeit des Gegenübers infrage. Er vermutet, dass das Gesagte bislang nicht substanziell war oder zumindest unverständlich. Damit bringt Faust eine tiefe Frustration zum Ausdruck: Er ist hungrig nach Wahrheit, Erkenntnis, Essenz – aber was er hört, scheint für ihn bloß Form, nicht Gehalt zu sein.
Der Begriff »Ernst« hat hier eine doppelte Bedeutung: zum einen die emotionale Haltung (ernsthafte Absicht), zum anderen auch den Gegensatz zu bloßer Spielerei oder rhetorischer Blende. Faust will keine Schauspiele der Sprache, keine Imponierformeln – sondern substanziellen Inhalt. Dies ist typisch für Fausts Grundkonflikt: Die Unzufriedenheit mit bloßem Wissen, mit Zeichen ohne Substanz, mit Sprache ohne Durchdringung.

Ist’s nöthig Worten nachzujagen?553
Dieser zweite Vers schließt die rhetorische Frage und steigert den Vorwurf: Muss man denn der Bedeutung »nachjagen«, wenn es tatsächlich Ernst wäre? Faust klagt damit die Diskrepanz zwischen Sprache und Sinn an. Die Worte, die der Erdgeist spricht (aber im weiteren Sinne auch die Worte der Gelehrsamkeit, der Theologie, der Magie), scheinen Faust zu entgleiten – sie sind nicht greifbar, sondern flüchtig. Der Ausdruck »Worten nachjagen« ist hier äußerst plastisch: Er evoziert das Bild eines Menschen, der etwas verfolgt, das sich ihm immer wieder entzieht.
Zugleich liegt in diesem Vers eine tiefe Sprachskepsis: Sprache genügt nicht mehr – oder sie genügt nicht dem, der nach letzter Wahrheit dürstet. In dieser Kritik kulminiert der Konflikt zwischen intellektueller Sprache und existentieller Erfahrung. Faust fragt sich: Warum umständlich mit Worten hantieren, wenn man wirklich etwas zu sagen hat? Warum die Wahrheit verhüllen?
Zusammenfassend 552-553
In diesen zwei Versen formuliert Faust eine zentrale Einsicht seines ganzen Dramas: Die Unzulänglichkeit der Sprache angesichts existenzieller Wahrheitsfragen. Die Szene »Nacht« ist geprägt vom Spannungsfeld zwischen menschlichem Streben und kosmischer Überforderung – und diese beiden Verse fassen diesen Konflikt auf den Punkt:
Faust klagt die Undurchsichtigkeit an.
Er verlangt nach Sinn jenseits von Symbolen.
Er wendet sich gegen die bloße Rhetorik der Geisterwelt (und auch gegen die der Wissenschaft).
Und er ahnt: Wahre Erkenntnis liegt nicht in Worten.
Die Sätze tragen eine stille Verzweiflung in sich – aber auch Trotz: Wenn Worte nicht tragen, muss der Mensch vielleicht einen anderen Weg suchen – den Weg des Pakts, der Tat, des gelebten Erlebens.
Damit bilden diese beiden scheinbar schlichten Verse eine Schwelle: Faust steht am Rand der Sprachwelt – und will über sie hinaus.

Ja, eure Reden, die so blinkend sind,554
Faust beginnt mit einer sarkastischen Bekräftigung (»Ja«), gefolgt von einer herabsetzenden Beschreibung akademischer oder rhetorischer Redekunst.
»Reden« sind nicht einfach gesprochene Worte, sondern stehen für das gelehrte, scheinbar bedeutungsvolle Gerede von Professoren, Priestern, Philosophen oder auch vom Geist selbst.
Das Attribut »blinkend« verweist auf äußeren Schein, Glanz ohne Substanz – wie funkelndes Metall, das vielleicht wertlos ist. Die Kritik ist damit doppelt:
Einerseits richtet sie sich gegen die Sprache, die mehr blendet als erhellt, und andererseits gegen ihre Urheber, die sich des sprachlichen Glanzes bedienen, um Wirkung zu erzeugen, ohne Wahrheit zu vermitteln.
Semantischer Kern: Blendwerk, rhetorischer Schein, Irreführung.

In denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt,555
Dieser Vers ist hochgradig sarkastisch und metaphorisch schwer aufzulösen.
»Schnitzel« meint hier nicht Speisen, sondern im Sinne des 18. Jahrhunderts »kleine Stückchen« – also Gedankenbrocken, intellektuelle Häppchen.
»Kräuseln« suggeriert eine äußerliche Verschönerung, ein Aufputzen – wie man Stoff kräuselt, um ihn gefälliger zu machen. Es ist also keine tiefgreifende Bearbeitung, sondern kosmetische Manipulation.
Faust wirft den Rednern oder Gelehrten vor, sie würden der Menschheit nicht etwa Nahrung geben, sondern kleine geistige Häppchen kunstvoll drapieren – sie aufhübschen, verpacken, aber inhaltsleer lassen.
Das Bild ist grotesk und ironisch zugleich: Die Menschheit erhält kein echtes Wissen, sondern dekorierte Trivialitäten. Die Phrasen dieser Redner befriedigen das Bedürfnis nach Bedeutung, ohne echte Substanz zu liefern.
Rhetorische Wirkung: Faust entlarvt Sprache als Hülle, Bildung als Blendwerk, und macht sich lustvoll über die geistige Eitelkeit der Eliten lustig.
Zusammenfassend 554-555
Diese Zeilen fallen mitten in Fausts wütender Rede gegen den Erdgeist, aber auch gegen die hohlen Phrasen der gelehrten Welt. Hier eine versweise Analyse:
In diesen zwei Versen spitzt Goethe Fausts Verachtung für das leere Gerede der akademischen Welt zu. Der Ton ist sarkastisch, die Bilder sind schneidend und gleichzeitig komisch. Faust wendet sich gegen eine Sprache, die nicht Wahrheit erschließt, sondern Wahrheit verschleiert. Die metaphorische Schärfe dieser Verse verleiht seinem Zorn eine fast groteske Komik – ein Kennzeichen des »tragikomischen« Charakters, den Goethe in Faust immer wieder anlegt.

Sind ungeliebt wie der Nebelwind556
Wortwahl und Syntax: Der Vers ist elliptisch und bezieht sich auf eine frühere Aussage Fausts über die »Gespenster«, die sich in seiner Brust regen: »Sind sie da, so fühl’ ich kaum ein Bild von ihnen / Und in der Brust sind sie unbequemlich.« Dann folgt der Wechsel zu »Sind ungeliebt« – grammatikalisch ist »sie« (die inneren Geister) das Subjekt. Der Ausdruck »ungeliebt« oder, in manchen Fassungen (etwa dem Manuskript), »unbequemlich« verweist auf die Belastung durch diese inneren Stimmen. Goethe entscheidet sich im endgültigen Druck für »unbequemlich« in der Rede und für »unerquicklich« im Monolog, was auf eine unterschiedliche Tonlage verweist.
Bildsprache: Der Vergleich mit dem »Nebelwind« bringt das Gefühl des Unbehagens auf eine poetische, atmosphärische Ebene. Nebelwind ist kein kräftiger, zerstörerischer Sturm, sondern ein leiser, feuchter, kalter Hauch – und gerade darin liegt sein Unbehagen. Er steht sinnbildlich für geistige Trägheit, Dämmerung, Undurchsichtigkeit. Der Wind dringt ein, ist da, aber bringt keine Erneuerung.
Stimmung: Hier wird Fausts innere Leere, sein Seelenzustand beschrieben: Die Gedanken oder Eingebungen, die ihn bewegen, sind nicht fruchtbar, sie spenden keine Wärme oder Erleuchtung, sondern ähneln einem kalten Luftzug – kaum greifbar, aber unangenehm.---

Der herbstlich durch die dürren Blätter säuselt!557
»herbstlich«: Die Jahreszeit Herbst ist traditionell ein Symbol für Verfall, Ausklang, Sterben. Sie markiert die Grenze zwischen der Fülle des Sommers und dem Tod des Winters. Damit bekommt der Vers eine melancholische, fast schon nihilistische Färbung.
»durch die dürren Blätter«: Die Blätter sind dürr, also ausgetrocknet, leblos, abgestorben – ein sprechendes Bild für den intellektuellen Zustand, in dem Faust sich befindet: vertrocknete Erkenntnis, Wissen ohne Leben. Diese dürren Blätter können auch als Symbol der überlieferten Bücher verstanden werden – tot, raschelnd, aber bedeutungslos.
»säuselt«: Das Verb »säuseln« ist ambivalent: Es klingt sanft, aber auch leer, beinahe verführerisch oder verhallend. Es ist ein Geräusch ohne Substanz, ein leises Rascheln, das keinen Widerstand, keine Wärme, keine Richtung hat. Es ist der Klang einer Welt ohne Sinn.
Zusammenfassend 556-557
Diese beiden Verse verdichten Fausts Gefühl existenzieller Leere. Er ist ein Gelehrter, der alles Wissen gesammelt, aber nichts erlebt, nichts erfühlt hat. Die Wissenschaft, die er betrieben hat, ist für ihn wie ein kalter Wind: undeutlich, melancholisch, ohne Hoffnung. Die Metaphorik der herbstlichen Natur wird zur Spiegelung des geistigen Zustands. Die Natur, einst belebt, ist nun ausgedörrt – genau wie Fausts Geist.
Zugleich ist hier eine Vorahnung auf das Grundmotiv des gesamten Faust enthalten: Die Suche nach einem lebendigen, sinnerfüllten Leben jenseits des bloßen Intellekts. Die Sprache ist voller Klangfarben – von »Nebelwind« bis »säuselt« –, die das Erleben von Vergeblichkeit und Sehnsucht körperlich fühlbar machen.

Wagner.
Ach Gott! die Kunst ist lang;558
»Ach Gott!«
Die Exklamation Wagners signalisiert zunächst eine spontane, beinahe klagende Empfindung. Sie kann als Ausdruck einer existenziellen Überforderung gelesen werden. Das »Ach« trägt ein seufzendes Moment, das »Gott« verweist auf eine höhere Instanz – allerdings nicht in gläubiger Anrufung, sondern eher als Ausdruck menschlicher Ohnmacht vor dem Unfassbaren. Es ist keine Bitte, sondern eine resignative Feststellung.
»die Kunst ist lang;«
Hier wird der Begriff »Kunst« im Sinne des deutschen 18. Jahrhunderts verwendet, in dem »Kunst« sowohl die schönen Künste als auch die Wissenschaften oder die ärztliche Heilkunst bezeichnen kann. Es handelt sich dabei aber auch um eine Anspielung auf das berühmte lateinische Dictum des Hippokrates:
Ars longa, vita brevis – Die Kunst ist lang, das Leben kurz.
Goethe greift dieses antike Sprichwort bewusst auf, doch mit einem ironischen Unterton: Wagner sieht in der »Kunst« eine Disziplin, die sich mit Fleiß und Disziplin meistern lässt – ein Studium, das umfassend, aber erlernbar ist. Für ihn bedeutet »Kunst« kein transzendenter Akt schöpferischen Genies, sondern ein System von Regeln, das einstudiert werden muss. Die Länge der Kunst bedeutet für ihn also nicht Tiefe, sondern Übermaß an Stoff.

Und kurz ist unser Leben.559
Diese Zeile bringt die klassische Memento-mori-Erkenntnis ins Spiel: Das Leben des Einzelnen ist kurz, vergänglich, begrenzt. In Wagners Mund klingt das wie eine Klage über die Unmöglichkeit, sich im Leben hinreichend zu vervollkommnen. Ihm fehlt die Zeit, um alles Wissen zu erfassen. Die Trauer über die Kürze des Lebens wird hier nicht als spiritueller Appell verstanden, sondern rein bildungsbürgerlich-intellektuell.
Gleichzeitig steht dieser Satz in scharfem Kontrast zu Fausts eigener existenzieller Suche. Während Wagner sich der Herausforderung der »langen Kunst« stellen will und dabei an der kurzen Lebenszeit verzweifelt, weil er fürchtet, das Lernpensum nicht zu schaffen, ist Faust bereits über das Stadium des Lernens hinaus. Für ihn ist die »Kunst« nicht mehr Ziel, sondern Hindernis; sein Streben geht weiter – ins Übersinnliche, ins Magische, in den Bereich der Erfahrung und Erkenntnis jenseits bloßer Buchgelehrtheit.
Zusammenfassend 558-559
Diese beiden Zeilen fassen in nuce das Dilemma des aufklärerischen Wissenschaftsglaubens zusammen: Die schier endlose Menge an Wissen steht der begrenzten menschlichen Existenzzeit gegenüber. In Wagners Mund wirken die Verse wie das Bekenntnis eines braven Schülers, der fleißig, aber engstirnig bleibt. Goethe kontrastiert dies mit Fausts verzweifeltem, radikalem Überschreitungswunsch.
Die Formulierung wirkt einfach, beinahe sprichwörtlich, doch ihre Kraft liegt gerade in dieser Schlichtheit. Goethe spiegelt darin eine ganze Bildungs- und Wissenschaftsepoche – und stellt ihr durch Fausts metaphysisches Streben eine andere Dimension des Menschseins entgegen.

Mir wird, bey meinem kritischen Bestreben,560
»Mir wird … bang« ist eine typisch deutsche Ausdrucksweise, die einen inneren Zustand beschreibt – hier eine Art Unruhe oder Beklemmung. Das Subjekt fühlt sich beunruhigt oder überfordert.
»kritisches Bestreben« verweist auf Wagners Streben nach rationaler Erkenntnis, auf seine methodisch-intellektuelle Arbeitsweise, die sich am Ideal der Aufklärung orientiert. Das Adjektiv »kritisch« kann dabei sowohl im Sinne von »reflektierend« als auch im Sinne von »streng wissenschaftlich« gelesen werden, vielleicht auch in Anlehnung an Kants »Kritiken« (der reinen, praktischen und Urteilskraft).
Wagner sieht sich also als jemand, der sich mit Denkarbeit bemüht – doch diese führt nicht zu Souveränität oder Sicherheit, sondern zu innerer Unruhe.

Doch oft um Kopf und Busen bang’.561
Der zweite Vers konkretisiert die Wirkung dieses »kritischen Bestrebens«: »Kopf« steht für den Intellekt, den Verstand – »Busen« dagegen für das Gemüt, das Herz, also die emotionale und vielleicht auch körperliche Mitte des Menschen.
Das »Bangen« umfasst also beide Bereiche: Denken und Fühlen. Die Arbeit des Intellekts bringt keine Harmonie, sondern eine Spannung zwischen Kopf und Herz.
Durch das Adverb »oft« deutet Wagner an, dass diese Unruhe regelmäßig wiederkehrt – ein Hinweis auf die Grenzen des reinen Rationalismus.
Gleichzeitig ist das Pathos in »Kopf und Busen« fast parodistisch überhöht – Goethe stellt Wagner hier nicht nur als ernsthaften Gelehrten dar, sondern auch als leicht komisch überforderten Menschen, der mit den Mitteln der Vernunft etwas zu erreichen versucht, das vielleicht nur mit anderer Tiefe zu erreichen ist – wie bei Faust.
Zusammenfassend 560-561
Wagner ist ein Vertreter der bloßen Gelehrsamkeit. Seine intellektuelle Anstrengung bringt ihm keine Erleuchtung, sondern eine Art seelisch-geistiger Überforderung. Seine Worte enthüllen ungewollt die Begrenztheit eines Weltzugangs, der nur auf Rationalität beruht. Während Faust an der Unzulänglichkeit des menschlichen Wissens leidet und transzendente Wege sucht, bleibt Wagner in der Welt der Bücher und des Studierzimmers verhaftet – und klagt über die Symptome, die diese Begrenzung mit sich bringt.
Die Ironie liegt darin, dass Wagner glaubt, sich durch kritisches Denken zu bilden – doch das Ergebnis ist ein Zustand der Unsicherheit. Goethe spielt hier auf eine tiefere Frage an: Reicht Vernunft allein aus, um das Leben zu begreifen und seelisch zu bestehen? In diesen zwei Versen verdichtet sich eine grundsätzliche Kritik an einer entseelten Aufklärung.

Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben,562
Dieser Vers beginnt mit einem scheinbar einfachen Ausruf: »Wie schwer«. Doch Goethes Formulierung enthält eine doppelten Verneinung (»schwer« und »nicht«), was grammatisch und semantisch Mehrdeutigkeiten öffnet.
»Wie schwer« drückt Klage oder Erstaunen über eine große Schwierigkeit aus – ein klassischer Einstieg in eine larmoyante Bildungsklage.
»sind nicht die Mittel zu erwerben« enthält ein rhetorisches Stilmittel: die litotische Konstruktion. Die doppelte Verneinung (»sind nicht \[…] zu erwerben«) dient nicht der tatsächlichen Verneinung, sondern der Verstärkung. Wagner meint: Es ist äußerst schwierig, an die nötigen Mittel zu kommen.
»die Mittel« – Damit sind nicht nur äußere Werkzeuge oder Bücher gemeint, sondern methodisches Wissen, Sprachkenntnisse, Techniken der Philologie, Logik, Rhetorik – kurz: alles, was ein Gelehrter braucht, um zu den »Quellen« vorzudringen.
Die Klage Wagners bezieht sich auf den langwierigen, mühsamen und abstrakten Weg der traditionellen Gelehrsamkeit – das Aneignen von sekundärem Wissen, das Mittel zum Zweck bleiben soll.
Wagner offenbart hier seine Haltung zur Wissenschaft: Für ihn ist sie akkumulativ, ein Bau von Mitteln, Systemen, Methoden – nicht ein lebendiger Akt der Erschließung oder Erleuchtung.

Durch die man zu den Quellen steigt!563
Dieser Vers enthält das Ziel des vorherigen Mühsals: die Quellen.
»Durch die« – Das verweist zurück auf »die Mittel« des vorherigen Verses. Die Mittel dienen einem Zweck: dem Aufstieg zur Quelle.
»zu den Quellen steigt« – Dieses Bild ist zentral. Es handelt sich um eine metaphorische Wendung, die an antike Vorstellungen von Wissen als lebendigem Quellwasser erinnert. Quellen sind Ursprünge, unverfälschte Wahrheiten, etwa griechische Originaltexte, biblische Urworte, erste Prinzipien der Philosophie, oder auch die göttliche Wahrheit selbst.
»steigt« – Das Verb impliziert Anstrengung, Bewegung aufwärts, fast einen geistigen Aufstieg – eine bemerkenswerte Formulierung bei einem ansonsten so methodischen Charakter wie Wagner. Hier klingt ein Hauch von Transzendenz mit – doch er wird gebunden durch die Betonung der Mittel. Erkenntnis ist nicht Offenbarung, sondern mühevolle Akkumulation.
Zusammenfassend 562-563
In dieser Szene – tief in der Nacht, im Studierzimmer – stehen sich zwei Modelle von Erkenntnis gegenüber:
Faust, der nach unmittelbarer, lebendiger Wahrheit strebt – leidenschaftlich, existenziell, sogar riskant.
Wagner, der an das System glaubt – an Fleiß, Disziplin, Methode. Für ihn ist der Aufstieg zu den »Quellen« eine Frage der Bibliotheksarbeit, nicht der Inspiration.
Wagners Ausspruch offenbart, wie weit er vom eigentlichen »Faustischen« entfernt ist: Er verwechselt Mittel mit Zielen, Literatur mit Leben, Wissen mit Weisheit. Seine Rede ist ein Bekenntnis zur Pedanterie.
Zugleich zeigt Goethe hier mit feinem Spott, wie leicht man sich in der Scholastik verlieren kann, ohne je den eigentlichen Quell geistiger Erneuerung zu berühren.

Und eh’ man nur den halben Weg erreicht,564
Dieser Vers thematisiert das Streben nach Wissen und zugleich dessen Unendlichkeit. Der »halbe Weg« steht metaphorisch für den mühevollen Pfad des Lernens und Forschens, insbesondere im Kontext der damaligen Bildungs- und Wissenschaftsideale. Wagner spricht von einem Fortschritt, der selbst in seiner Hälfte kaum zu erreichen sei – ein Hinweis auf die fast übermenschliche Anstrengung, die für wahres Wissen nötig ist.
Zugleich steckt im Vers eine gewisse naive Selbstüberschätzung: Wagner glaubt offenbar, der wissenschaftliche Weg habe ein definiertes Ziel (einen »Weg«, den man vollständig zurücklegen kann), während Fausts ganze Tragik gerade darin besteht, dass wahre Erkenntnis immer jenseits liegt. Der Vers suggeriert eine lineare Auffassung von Wissen, die Goethe mit Fausts späterer Dialektik konterkariert.
Sprachlich fällt die ruhige, fast sachliche Tonlage auf, die dem dramatischen Inhalt – einem langen, beschwerlichen Weg – einen nüchternen Rahmen gibt. Es ist ein klassisches Beispiel für bürgerlichen Bildungsoptimismus, der hier bereits ins Zweifel gezogen wird.

Muß wohl ein armer Teufel sterben.565
Dieser Vers bringt plötzlich einen drastischen Bruch – inhaltlich, stilistisch und tonal. Die Wendung »ein armer Teufel« ist eine umgangssprachliche Metapher für einen gewöhnlichen, unglücklichen Menschen, der sich verausgabt. Gleichzeitig ruft das Wort »Teufel« in einem Werk wie Faust unweigerlich mehrdeutige Assoziationen auf – insbesondere im Wissen um Mephistos baldigen Auftritt.
Wagner meint mit dem »armen Teufel« den einfachen Gelehrten, der sich »zu Tode lernt«, aber der Ausdruck evoziert auch eine höllische Komponente, als ob das Streben selbst verdammt sei. Dieser Doppelsinn gehört zu Goethes dichterischem Spiel mit Sprache: Hier wird der arme Streber nicht nur bemitleidet, sondern auch als Opfer eines dämonischen Systems von Wissensgier und Selbstüberforderung dargestellt.
Die Konstruktion »Muß wohl … sterben« bringt eine resignative Haltung zum Ausdruck. Es ist ein lakonisches, beinahe beiläufiges Anerkennen des Preises für Bildung: Der Tod als Begleiterscheinung des Forschens. Dahinter verbirgt sich eine tiefe Skepsis gegenüber einem Ideal, das den Menschen ausbrennt – ein Thema, das Faust selbst schon in seiner Eröffnungsklage zum Ausdruck bringt.
Zusammenfassend 564-565
Diese beiden Verse zeigen in komprimierter Form das Spannungsverhältnis zwischen bürgerlichem Bildungseifer (repräsentiert durch Wagner) und der existentiellen Verzweiflung des wahren Suchenden (verkörpert durch Faust). Während Wagner den akademischen Weg linear denkt und dessen Strapazen als unausweichlich hinnimmt, wirkt Faust bereits zu diesem Zeitpunkt wie ein Vorahnungsträger jener spirituellen Krise, die das gesamte Drama prägt.
Wagners Worte wirken so zugleich komisch und tragisch: Komisch in ihrer bieder-naiven Weltanschauung, tragisch in ihrer unbeabsichtigten Wahrheit über die Erschöpfung des Menschen an der Grenze des Erkennens. Die »Nacht«-Szene bereitet auf diese Weise die tiefere Problematik der folgenden Handlungsschritte (Osterfest, Teufelspakt, Gretchenfrage) subtil vor.

Faust.
Das Pergament, ist das der heilge Bronnen,566
»Pergament« steht pars pro toto für das Buch, die Schrift, das tradierte Wissen, das Faust aus seinen jahrzehntelangen Studien kennt. Es ist das Medium der Gelehrsamkeit, der Buchkultur und der Wissenschaft vor der Moderne.
»heilge Bronnen« (heilige Quelle) ist eine poetisch-religiöse Metapher. In der christlich-mystischen und antiken Literatur ist die Quelle häufig Symbol für wahres, göttliches Wissen, für die Wahrheit, das Leben, ja sogar die Gnade oder den Logos.
Die Umstellung von Subjekt und Prädikat (»ist das der heilge Bronnen«) entspricht der syntaktischen Inversion, die den Satz rhythmisiert und emphatisch macht. Das »das« ist distanzierend und skeptisch: Meint dieses trockene Pergament wirklich die heilige Quelle?
Faust fragt sich, ob das, was er in den Büchern liest, tatsächlich die Quelle ist, aus der er Erkenntnis schöpfen kann – eine Erkenntnis, die nicht nur rational oder akademisch ist, sondern lebendig, erfüllend, heilend. Es ist eine zutiefst existenzielle Frage: Sind diese toten Buchstaben wirklich der Zugang zur Wahrheit?
Die Frage hat einen ironischen, vielleicht sogar verzweifelten Unterton. Sie ist nicht bloß theoretisch, sondern Ausdruck einer tiefen Enttäuschung. Faust bezweifelt, dass die Bücher und das Wissen, auf das er sein Leben gebaut hat, ihn wirklich nähren können. Die Heiligkeit der Quelle wird durch das profane, spröde »Pergament« in Frage gestellt.

Woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt?567
Die Wortwahl evoziert einen sakralen und mystischen Sprachraum. Ein Trunk, der den Durst auf ewig stillt, erinnert an neutestamentliche Bilder, insbesondere an das Johannesevangelium (z.B. Joh 4,14: »Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird in Ewigkeit nicht dürsten.«).
Gleichzeitig steht »Durst« hier sinnbildlich für existenzielles Verlangen, nicht nach Wasser, sondern nach Sinn, Erfüllung, Erkenntnis, Transzendenz.
»auf ewig« hebt die metaphysische Dimension hervor – es geht nicht um momentane Linderung, sondern um endgültige Sättigung einer menschlichen Ursehnsucht.
Faust stellt sich – erneut in Frageform – die Hoffnung oder den Zweifel, ob es so etwas wie eine Erkenntnis gibt, die den inneren Hunger endgültig stillt. Der »Trunk« ist hier Symbol für eine transformative Erfahrung, vielleicht sogar eine mystische Einung mit dem Göttlichen. Und er fragt sich, ob dieser Trunk aus dem »Pergament« stammen könne – was er offensichtlich bezweifelt.
Der Vers verstärkt die skeptische Haltung gegenüber dem toten Buchwissen. Faust sehnt sich nach einer lebendigen, unmittelbaren Erfahrung, die nicht durch Worte und Begriffe vermittelt wird, sondern existenziell greift. Er will nicht mehr nur verstehen, er will erleben – ganz im Geist der frühen Romantik, aber auch mit dem Begehren des Mystikers nach Gottesschau.
Zusammenfassend 566-567
Diese beiden Verse stehen im Zentrum von Fausts innerem Wendepunkt. Er wendet sich ab vom bloßen Buchwissen und bereitet sich innerlich auf radikalere Wege der Erkenntnissuche vor – Magie, Pakt mit Mephistopheles, Sinnesrausch, Liebe. Die Sprache ist poetisch durchtränkt von religiöser Symbolik, aber zugleich durchtränkt von Skepsis gegenüber den überlieferten Mitteln der Wahrheitssuche. Faust will nicht mehr über das Leben lesen, sondern es selbst erfahren – mit allen Konsequenzen.

Erquickung hast du nicht gewonnen,568
»Erquickung« meint Linderung, Belebung, Trost, innere Erneuerung – geistig oder seelisch. Es ist ein fast archaischer Begriff, stark emotional gefärbt, mit religiösen oder mystischen Konnotationen.
»nicht gewonnen« steht hier als Ergebnisform: Trotz aller Mühen ist nichts erreicht worden. Das Verb gewinnen verweist auf etwas Aktiv-Erkämpftes, nicht bloß Erhaltenes.
Faust stellt fest, dass er trotz all seiner Bemühungen keine seelische Befriedigung, kein wahres Lebenselixier gefunden hat. Er hat studiert, geforscht, gelehrt – und doch fühlt er sich leer, ungeheiligt, innerlich trocken. Der Vers ist kein bloß resignatives Urteil, sondern auch eine Vorbedingung für die folgende Einsicht im zweiten Vers.

Wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt.569
»quillt« ist ein bildhaftes Verb, das eine Quelle beschreibt: etwas Lebendiges, Natürliches, von innen Herausströmendes.
Die Seele wird als innerer Ursprung allen echten Trostes dargestellt.
Die Bedingungskonstruktion (»wenn sie dir nicht...«) verleiht dem Satz einen normativen, fast ethischen Charakter.
Wahre Erquickung – echtes geistiges Leben, tiefer Trost, sinnerfülltes Dasein – kann man nicht von außen bekommen, durch Bücher, Systeme oder bloßes Wissen. Sie muss aus dem Inneren kommen, aus der eigenen Seele. Faust erkennt hier die Unzulänglichkeit äußerlicher Mittel und verweist auf das schöpferische, autonome Potenzial des Inneren.
Diese Einsicht ist für Goethe zentral: Der Mensch trägt die Quelle seiner Lebendigkeit in sich selbst. Erkenntnis, die nicht mit innerer Erfahrung verbunden ist, bleibt tot. Damit stellt Faust sich gegen die bloße Büchergelehrsamkeit und deutet bereits jene spirituelle Dynamik an, die ihn später in den Pakt mit Mephisto führt: die Sehnsucht nach lebendigem, erfahrbarem, von innen her erfülltem Leben.
Zusammenfassend 568-569
Diese zwei Verse sind ein komprimiertes Manifest gegen bloßes intellektuelles Streben und eine Hinwendung zur inneren Authentizität. Fausts frühe Erkenntnis ist fast mystisch: Wahrheit, Trost, Lebendigkeit – all das entsteht aus dem eigenen Inneren oder gar nicht. Zugleich ist dies ein Schrei nach Hilfe: Seine eigene Seele bringt diese Erquickung (noch) nicht hervor. In diesem Spannungsfeld zwischen Erkenntnis und Mangel entfaltet sich der gesamte innere Konflikt der Tragödie.

Wagner.
Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen,570
»Verzeiht!« – Die höfliche Anrede zeigt Wagners respektvolle Unterordnung gegenüber Faust. Gleichzeitig dient sie rhetorisch als milde Abwehr: Wagner rechtfertigt sich im Voraus, als ob er spüre, dass sein Zugang bei Faust nicht auf Zustimmung stoßen wird.
»es ist ein groß Ergetzen,« – Das veraltete Substantiv »Ergetzen« (von ergötzen) bedeutet »Vergnügen« oder »Wonne«. Wagner empfindet also ein großes intellektuelles Vergnügen an dem, was er im nächsten Vers ausführt. Bereits hier wird deutlich, dass sein Zugang zur Welt durch distanziertes Genießen und Nachdenken geprägt ist, nicht durch existentielle Leidenschaft.
Wagner offenbart sich als Vertreter einer rationalen, belehrbaren, aber letztlich oberflächlichen Bildungshaltung. Das »große Ergetzen« verweist auf eine Haltung, die sich am Vergangenen erfreut, aber nicht in die Tiefe geht.

Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;571
»Sich ... zu versetzen« – Das reflexive Verb zeigt eine imaginäre Bewegung, eine versuchte Identifikation mit der Vergangenheit. Es verweist auf das intellektuelle Spiel des Historikers oder Philologen, das Wagner betreibt: nicht leben, sondern rekonstruieren.
»in den Geist der Zeiten« – Diese Wendung ist von zentraler Bedeutung. Wagner meint den »Zeitgeist«, also die Denk- und Lebensformen vergangener Epochen. Doch seine Vorstellung des »Geistes« bleibt abstrakt und beschränkt sich auf das, was überliefert, analysierbar und erklärbar ist. Es ist kein lebendiger, erfahrbarer Geist, sondern ein rekonstruierter, textlich überlieferter.
Wagner glaubt, Erkenntnis ließe sich durch die Aneignung geschichtlicher Perspektiven gewinnen. Dabei verkennt er – aus Fausts Sicht – dass der eigentliche »Geist« der Zeiten nicht in Texten, sondern im existenziellen Erleben liegt. Faust will »was die Welt / Im Innersten zusammenhält« (V. 382–383) erkennen – nicht bloß deren Geschichte lesen.
Zusammenfassend 570-571
Diese zwei Verse markieren den Kern von Wagners intellektuellem Selbstverständnis: Er lebt im Studium, in der Bibliothek, im Reich der Bücher. Die Vergangenheit ist für ihn ein Objekt ästhetischen oder bildungshaften Genusses. Damit steht er im radikalen Gegensatz zu Faust, der durch Erkenntnis, nicht durch Bildungserwerb, zur Wahrheit dringen will.
Goethe inszeniert hier eine Kritik an einem rein akademischen, abstrahierenden Zugang zur Welt. Wagner liebt den »Geist der Zeiten«, aber verfehlt den lebendigen Geist. Faust dagegen leidet an der Begrenztheit solcher Erkenntnis – das macht ihn empfänglich für den Teufelspakt. Wagners Rede zeigt damit auch, woran Faust verzweifelt: am bloßen »Ergetzen« statt echter Erfahrung.

Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,572
Wagner beschreibt hier das Ideal akademischer Tätigkeit: die rückblickende Lektüre und Betrachtung des Denkens früherer Gelehrter. Der Vers stellt den klassischen Bildungsweg dar, wie ihn die Universität im 18. Jahrhundert pflegte – nämlich das Studium alter, autoritativer Texte.
»Zu schauen« drückt ein kontemplatives, fast ehrfürchtiges Beobachten aus – nicht selbst denken oder handeln, sondern schauen, was andere gedacht haben. Das Subjekt tritt zurück.
»wie vor uns« verweist auf eine genealogische Linie des Wissens: Der Fortschritt besteht in der Anhäufung vergangenen Denkens.
»ein weiser Mann« zeigt, dass Wagner das Denken autoritärer Einzelpersonen hochschätzt – nicht die Wahrheitssuche an sich, sondern das Nachvollziehen der Gedanken vermeintlich »großer« Männer.
»gedacht« steht am Ende und betont, dass die geistige Leistung der Vergangenheit liegt – abgeschlossen, bewundernswert, aber nicht lebendig.
Der Vers ist Ausdruck einer rezeptiven, sekundären Haltung zum Denken – typisch für Wagner, der in der Szene als Kontrastfigur zu Fausts ruheloser Wahrheitssuche erscheint.

Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.573
Dieser Vers enthält eine ironische Spannung zwischen Schein und Sein. Wagner meint es positiv: Er feiert, wie »wir« – also die heutigen Gelehrten – auf den Schultern der »weisen Männer« stehend, den Fortschritt weitergetragen hätten.
»Und wie wir’s dann« setzt das eigene Tun in eine Kontinuität mit der Vergangenheit. Es geht Wagner nicht um revolutionäre Neuschöpfung, sondern um das Fortschreiben des Vorhandenen.
»zuletzt« unterstreicht einen Endpunkt, einen Abschluss – als hätte man ein Ziel erreicht. Das ist ein trügerischer Fortschrittsglaube, der Goethe (bzw. Faust) fremd ist.
»so herrlich weit gebracht« ist eine Selbstgratulation. Die Formulierung wirkt übertrieben: Das Adjektiv »herrlich« evoziert Glanz und Größe, doch im Kontext erscheint sie hohl – Wagner steht für ein gelehrtes, aber letztlich geistloses Fortschreiten.
Zusammenfassend 572-573
Wagners Worte verkörpern den Geist eines Aufklärungsoptimismus, der auf Büchern und Autoritäten beruht, nicht auf existenzieller Suche. Goethe lässt ihn sprechen, um einen Kontrast zu Fausts tiefer Unzufriedenheit mit bloßem Wissen zu schaffen. Faust will erleben, will zur Quelle der Dinge vordringen, während Wagner sich in der Wiederholung und Bewunderung des Vergangenen wohlfühlt.

Faust.
O ja, bis an die Sterne weit!574
Faust antwortet hier auf Wagners enthusiastische Vorstellung, dass das gesammelte Wissen der Menschheit – etwa in historischen Texten – eine Art unendliches Panorama bilde. Fausts Ausruf ist auf den ersten Blick eine Bestätigung: Ja, das Wissen reicht weit, ja, die Gedanken der Menschheit steigen »bis an die Sterne«. Doch der Tonfall ist ambivalent: Der Ausruf klingt beinahe sarkastisch, eine ironische Zustimmung, die auf das Leere oder Unerreichbare solcher Höhen verweist. Der Blick »bis an die Sterne« evoziert Transzendenz, aber auch Unerreichbarkeit. Faust sehnt sich nach einer Art von Wissen, das nicht nur rekonstruiert, sondern wirklich erfasst, durchdringt, lebendig macht – also nicht bloß historisches Detailwissen, sondern eine existenzielle Wahrheit.

Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit575
Die Anrede »Mein Freund« ist typisch für den dialogischen Stil Goethes und drückt eine gewisse gönnerhafte oder belehrende Haltung Fausts gegenüber Wagner aus. In diesem Vers beginnt Faust seine fundamentale Kritik am historischen Wissen. »Die Zeiten der Vergangenheit« sind eine Umschreibung für Geschichte, für das, was war – und für das, was in den Büchern und Chroniken überliefert wird. Doch bereits in der Wortwahl schwingt Distanz mit: Es geht nicht um Erinnerung oder Erfahrung, sondern um etwas Abgeschlossenes, Abgelebtes – die Vergangenheit als bloßes Objekt der Betrachtung. Damit bereitet Faust die metaphorische Wendung des nächsten Verses vor.

Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.576
Diese Metapher ist biblischen Ursprungs (vgl. Offenbarung des Johannes 5,1 ff.), wo ein Buch mit sieben Siegeln als Träger des göttlichen Geheimnisses erscheint, das nur das »Lamm« (Christus) öffnen kann. Indem Faust sagt, dass uns – den Menschen, den Gelehrten – die Vergangenheit »ein Buch mit sieben Siegeln« ist, bringt er ein tiefes Misstrauen gegenüber dem historischen Wissen zum Ausdruck. Was vergangen ist, ist uns letztlich verschlossen, unverständlich, nur bruchstückhaft zugänglich – trotz aller Dokumente, Chroniken, Erzählungen. Die Siebenzahl verstärkt das Symbol der absoluten Verschlossenheit, denn sie steht traditionell für Vollständigkeit. Hier bedeutet sie: radikale Unverständlichkeit.
Die Metapher ist nicht nur Ausdruck erkenntnistheoretischer Skepsis, sondern auch eine Anklage gegen das bloß rationale, textbasierte, tote Wissen, das Faust in seinem bisherigen Leben vergeblich zu meistern suchte. Es fehlt ihm das lebendige, unmittelbare Erfassen – das, was er im folgenden Verlauf durch den Pakt mit Mephisto sucht: das Erleben, die Erfahrung, das Durchdringen der Welt mit allen Sinnen und Kräften des Menschen.
Zusammenfassend 574-576
Diese drei Verse markieren einen zentralen Punkt in Fausts geistiger Krise. Trotz aller Gelehrsamkeit bleibt das Wesen der Welt, besonders das der Geschichte, verschlossen. Wissen hat seine Grenze. Faust spürt, dass er mit den traditionellen Mitteln der Wissenschaft nicht zum Wesentlichen vordringen kann. Die Bildsprache steigert sich von der kosmischen Weite (»bis an die Sterne«) zur radikalen Verschlossenheit (»Buch mit sieben Siegeln«) – ein Kontrast, der Fausts intellektuelle und existenzielle Spannung auf den Punkt bringt.

Was ihr den Geist der Zeiten heißt,577
Goethe beginnt mit einer direkten Anrede: »Was ihr \[...] heißt« – das Personalpronomen ihr verweist auf eine Mehrzahl von Menschen, insbesondere auf Gelehrte oder Idealisten wie Wagner, die glauben, durch das Studium alter Texte den sogenannten »Geist der Zeiten« – also den kollektiven, intellektuellen oder kulturellen Geist vergangener Epochen – erkennen zu können.
Dieser Vers leitet also eine Kritik an einer Vorstellung ein, die als bloß konventionell oder illusionär entlarvt wird. Faust nimmt eine skeptische Haltung gegenüber historischen oder kulturellen Konstruktionen ein.

Das ist im Grund der Herren eigner Geist,578
Hier wird die Kritik zugespitzt: Der vermeintlich objektive »Geist der Zeiten« ist »im Grund« – also in Wahrheit, im tiefsten Wesen – nichts anderes als der »Herren eigner Geist«.
Mit »Herren« sind die Gelehrten, Historiker oder Intellektuellen gemeint, die glauben, eine Epoche zu verstehen, dabei aber in Wirklichkeit nur ihre eigenen Gedanken, Vorstellungen und Weltanschauungen in die Geschichte hineinprojizieren.
Faust dekonstruiert damit die Vorstellung, dass man durch Bücher oder bloßes Wissen die Wahrheit über vergangene Zeiten erfassen könne. Vielmehr sei das, was als »Zeitgeist« erscheint, nur ein Spiegel des eigenen Subjekts.

In dem die Zeiten sich bespiegeln.579
Dieser Vers verleiht der Aussage eine poetisch-metaphysische Tiefe: Die Zeiten bespiegeln sich im Geist derer, die sie betrachten.
Das Bild des Spiegels ist doppeldeutig: Einerseits wird hier beschrieben, dass der Geist des Einzelnen die Zeiten wie ein Spiegel reflektiert – dass also in ihm Bilder der Vergangenheit erscheinen. Andererseits verweist es auf die Unverlässlichkeit solcher Spiegelbilder, denn Spiegel können verzerren, idealisieren oder entstellen.
Der Vers bringt somit eine Einsicht in die Subjektivität historischer Erkenntnis zum Ausdruck: Wer Geschichte betrachtet, sieht nicht die Zeiten selbst, sondern das, was er aus ihnen macht.
Zusammenfassend 577-579
Fausts Aussage ist eine fundamentale Kritik an der Vorstellung, durch Gelehrsamkeit – etwa durch das Studium der Bücher, wie Wagner es betreibt – zur Wahrheit zu gelangen. Der Geist der Zeiten ist für Faust kein fassbares, objektives Wesen, sondern ein Konstrukt, das aus der Projektion des eigenen Denkens hervorgeht. Die »Bespiegelung« verweist dabei auf eine aktive Konstruktion von Geschichte – das Erkennen wird zum Deuten, das Deuten zum Spiegeln des eigenen Selbst.
Diese Einsicht ist zugleich erkenntnistheoretisch wie existenziell. Sie zeigt Fausts tiefes Misstrauen gegenüber bloßem Buchwissen und äußert seine Sehnsucht nach einer existentiellen, unmittelbaren Erkenntnis – einer Wahrheit, die nicht vermittelt, sondern erlebt wird. Damit bereitet er seinen Pakt mit Mephistopheles vor: Wenn die Bücher und Gelehrsamkeit versagen, sucht Faust Erkenntnis im Leben selbst – mit allen Konsequenzen.

Da ist’s dann wahrlich oft ein Jammer!580
»Da ist’s«: eine Kontraktion von »Da ist es«, typisch für die Alltagssprache und gesprochene Rede. Goethe bringt damit Authentizität und emotionale Unmittelbarkeit in Fausts Stimme.
»dann« verweist auf eine Bedingung oder eine bestimmte Situation, die Faust zuvor beschrieben hat – den Moment, in dem er versucht, sein Wissen weiterzugeben, aber auf Desinteresse oder Unverständnis stößt.
»wahrlich« verstärkt den Ausruf, gibt ihm den Anschein von Wahrheit oder tiefer Empfindung – eine Art emphatische Bekräftigung.
»oft ein Jammer«: Die Wortwahl »Jammer« verleiht dem Satz Pathos; sie drückt nicht bloß Enttäuschung, sondern echtes Mitleid oder eine tragische Note aus. Der Ausdruck ist archaisch und in der Literatur des Sturm und Drang, aber auch der Romantik verbreitet.
Faust äußert seine Resignation über den Zustand der Lehre: Es ist für ihn ein »Jammer«, weil die Begegnung mit den Schülern oft fruchtlos ist. Er erkennt die Kluft zwischen dem, was er vermitteln will, und dem, was ankommt. Dahinter steht seine tiefe Enttäuschung über das Scheitern des Bildungsprojekts – und zugleich über seine eigene Ohnmacht als Lehrer und Wissenschaftler.

Man läuft euch bey dem ersten Blick davon.581
»Man«: unpersönliches Pronomen – dies verallgemeinert die Aussage. Es ist nicht nur eine Einzelperson, sondern eine häufige Erfahrung: Studierende im Allgemeinen.
»läuft euch … davon«: eine bildhafte, körperliche Ausdrucksweise. Das Verb »laufen« suggeriert Hast, Flucht, instinktive Abwehr. Es ist ein aktiver Rückzug. Das »euch« bezieht sich auf Faust selbst und auf seine gelehrten Kollegen – also das »Lehrpersonal« oder die akademische Welt.
»bey dem ersten Blick«: Diese Formulierung betont, wie schnell das Urteil gefällt wird – die Abwendung geschieht sofort, noch bevor eine inhaltliche Auseinandersetzung überhaupt möglich wäre. Der Student wendet sich also beim ersten Eindruck schon ab – möglicherweise wegen der steifen Autorität, der Unverständlichkeit der Sprache, oder schlicht der Langeweile, die der Dozent ausstrahlt.
Der Vers spricht eine tragische Wahrheit aus: die Entfremdung zwischen Lehrer und Schüler. Faust klagt darüber, dass die Studierenden keine Geduld oder echtes Interesse zeigen – sie fliehen vor der gelehrten Welt, ohne sich überhaupt darauf einzulassen. Implizit schwingt auch Selbstkritik mit: vielleicht ist es auch die Schuld des Dozenten, dass er die Lernenden nicht erreicht. Diese Entfremdung ist nicht nur sozial oder pädagogisch, sondern existenziell – sie spiegelt Fausts tiefe Krise.
Zusammenfassend 580-581
Diese Zeilen gehören zu einem längeren Reflexionsstrom, in dem Faust seine existenzielle Leere artikuliert. Das Wissenschaftssystem – seine Lehre, seine Sprache, seine Hierarchien – hat für ihn versagt. Die Verse 580–581 zeigen dies am Beispiel des Verhältnisses zu den Studenten: Die Flucht der jungen Menschen vor der Wissenschaft ist ein »Jammer«, weil sie nicht nur persönliches Scheitern bedeutet, sondern die Nutzlosigkeit des ganzen Bildungssystems belegt. Diese Erfahrung bekräftigt Fausts Wunsch, auf anderem Wege zur »wahren« Erkenntnis zu gelangen – ein Wunsch, der ihn letztlich zum Teufelspakt treiben wird.

Ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer,582
Kehrichtfaß (Abfalleimer) und Rumpelkammer (Gerümpelraum) sind abwertende Metaphern.
Beide Begriffe evozieren Unordnung, Wertloses, Vergangenes – also einen Ort für das Abgelegte, Ausgediente, vielleicht auch für das intellektuell oder moralisch Verfallene.
Bildliche Bedeutung
Faust beschreibt hier metaphorisch seinen bisherigen geistigen Kosmos, insbesondere das akademische Wissen, das er in seinem Studierzimmer angehäuft hat.
Die Gelehrsamkeit und das Bücherwissen, die er früher verehrt hat, erscheinen ihm nun als sinnloses Gerümpel – er fühlt sich von »toter« Theorie umgeben.
Tonalität und Funktion
Der Ton ist selbstentwertend und gleichzeitig kulturkritisch: Faust verspottet sich selbst, aber auch die Institution Wissenschaft.
Das Bild erzeugt eine drastische Abwertung seiner bisherigen intellektuellen Existenz. Was einst bedeutungsvoll war, ist nun Abfall.

Und höchstens eine Haupt- und Staatsaction.583
Wortebene
Der Ausdruck »Haupt- und Staatsaction« stammt ursprünglich aus dem Theaterjargon des 18. Jahrhunderts. Er bezeichnete große, pompöse, aber oft oberflächliche Tragödien mit politischen und historischen Themen – meist voller Pathos, aber wenig Substanz.
Faust verwendet den Begriff ironisch: Selbst wenn man seinem Leben noch etwas Bedeutung andichten wollte, wäre es bestenfalls eine solche überladene, aufgeblasene Handlung – eben höchstens das.
Ironie und Kritik
Faust spielt hier mit der Abwertung sowohl des Theaters als auch der eigenen geistigen Biografie.
In seinem Mund klingt »Haupt- und Staatsaction« wie ein hohles Spektakel – Ausdruck einer Welt, die bloß Darstellung, nicht Wahrheit ist.
Das »höchstens« verstärkt die Ironie: Sogar das wäre schon eine schmeichelhafte Interpretation.
Subtext
Dieser Vers markiert Fausts tiefste Skepsis gegenüber jeder Form von Bedeutung, die durch Sprache, System oder Inszenierung erzeugt wird.
Auch das Theater – eine Form der symbolischen Welterzeugung – wird abgewertet. Er will mehr als Darstellung: Wahrheit, Leben, Erlebnis.
Zusammenfassend 582-583
Faust formuliert hier seine existentielle Enttäuschung. Die Welt der Gelehrsamkeit erscheint ihm als »Kehrichtfaß«, seine Gedankenwelt als überladene, bedeutungslose »Rumpelkammer«. Selbst wenn man noch einen Sinn konstruieren wollte, wäre dieser nur eine »Haupt- und Staatsaction« – großes Theater ohne innere Wahrheit.
Mit bitterer Ironie zieht Faust ein Resümee über den Wert seiner bisherigen Erkenntnisse. Diese beiden Verse verdichten den Wendepunkt der Szene »Nacht«: Faust erkennt die Leere des bloßen Wissens und bereitet sich innerlich auf den Übergang zur Tat, zur Erfahrung, zum Pakt mit dem Teufel vor.

Mit trefflichen, pragmatischen Maximen,584
Goethe legt Faust hier eine sarkastische Stimme in den Mund. Der Ausdruck »trefflich« ist doppeldeutig: wörtlich bedeutet er »ausgezeichnet«, aber hier klingt durch, dass Faust die Maximen gar nicht als wertvoll empfindet, sondern eher als scheinbar brillant – in Wirklichkeit jedoch hohl. Es ist eine Abwertung durch Überhöhung.
»pragmatische Maximen« verweist auf Lebensweisheiten, die nützlich, handlungsorientiert und praktisch sind. Solche Maximen gehören zum klassischen Bildungsgut, sie finden sich etwa in der Moralphilosophie der Aufklärung (z. B. bei Kant oder im bürgerlichen Tugendkatalog). Für Faust jedoch sind sie Ausdruck der Banalität – sie greifen zu kurz, um das »innere Feuer«, die metaphysische Sehnsucht, zu stillen, die ihn umtreibt. Er verspottet damit auch das Bildungsbürgertum, das sich mit solchen Sprüchen zufrieden gibt.
Der Begriff »pragmatisch« betont dabei nicht nur die Praxisorientierung, sondern auch eine gewisse Oberflächlichkeit – ein Denken, das auf unmittelbare Nützlichkeit abzielt und sich nicht mit dem Wesen der Dinge befasst. Für Faust, der nach dem »was die Welt im Innersten zusammenhält« sucht, sind solche Maximen unzureichend.

Wie sie den Puppen wohl im Munde ziemen!585
Dieser Vers steigert den Spott, indem er die »Puppen« ins Spiel bringt – ein klarer Verweis auf das Puppenspiel, das dem Stoff des Faust zugrunde liegt, aber auch eine ironische Selbstspiegelung. Goethe spielt hier mit mehreren Bedeutungsschichten:
Die »Puppen« stehen einerseits für Marionetten, also für mechanische Figuren, die keine eigene Stimme haben, sondern ferngesteuert sprechen – wie Menschen, die bloß zitieren, ohne selbst zu denken. Diese Figuren können »pragmatische Maximen« sprechen, weil sie deren Tiefe nicht erfassen müssen. Es genügt, dass sie funktionieren – das reicht für das bürgerliche Theater.
Zugleich bezieht sich Faust mit »Puppen« auf die Bühne selbst, auf die Trivialität des populären Puppentheaters. Dort sind Maximen wie »Ehrlich währt am längsten« oder »Tu recht und scheue niemand« typische moralische Lehren – aber für Faust sind sie keine Antwort auf die existenziellen Fragen des Lebens.
»ziemen« bedeutet »angemessen sein«. Die Maximen gehören in den Mund der Puppen – nicht in den des Suchenden, des Wissenden, des Menschen, der mehr will als Konventionen. Faust grenzt sich damit von allen ab, die sich mit moralischen Allgemeinplätzen zufriedengeben. Seine Arroganz ist hier unüberhörbar – aber sie ist zugleich Ausdruck einer tiefen Leere.
Zusammenfassend 584-585
Diese beiden Verse sind Teil eines größeren Monologs, in dem Faust sein Studium resümiert und erkennt, dass das bloße Ansammeln von Wissen ihn nicht zur Wahrheit geführt hat. Der Spott über die »pragmatischen Maximen« markiert einen Übergang von der Ernüchterung zur Rebellion. Er verspottet nicht nur seine eigene Bildung, sondern auch die Sprache, die er gelernt hat – eine Sprache der Konvention, nicht der Erkenntnis.
Der Ausdruck ist also nicht bloß ein Spott über andere, sondern auch eine bittere Selbstanklage. Faust erkennt, dass er nur die Rolle eines gelehrten Puppenspielers übernommen hat – er hat Worte gelernt, keine Wahrheit.

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