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Der Tragödie Erster Theil

Nacht. (6)

Faust zusammenstürzend.
Nicht dir!514
Faust verweigert sich in diesem Ausruf einer inneren Stimme, einem Anspruch, einem vielleicht noch zögernden oder mahnenden Teil seiner selbst – oder gar Gott. Der Ausruf ist hart, abweisend, voller Trotz. Es ist eine Negation, die auf einem inneren Dialog fußt. Der Angesprochene bleibt zunächst unklar – das "dir" ist unspezifisch –, aber es wirkt wie eine Abwehr gegen ein inneres Unbehagen, vielleicht gegen Reue oder Gewissen.

Wem denn?515
Diese Rückfrage lässt die rhetorische Spannung kippen: Sie ist sowohl ironisch als auch verzweifelt. Faust antwortet auf seinen eigenen Ausruf, als führe er einen gespaltenen Dialog mit sich selbst. Die Frage legt die Leere offen, die entsteht, wenn das "Du" (Gott, Geist, Ideal, eigenes Gewissen) ausgeschlossen wird. Sie klingt herausfordernd, fast spöttisch gegenüber der Idee eines Adressaten, der überhaupt Anspruch auf ihn hätte.

Ich Ebenbild der Gottheit!516
Hier fällt der zentrale Begriff des Gottebenbildes (vgl. Genesis 1,27: "Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde..."). Faust erinnert sich selbst – ironisch oder anklagend – daran, dass der Mensch laut biblischer Überlieferung nach Gottes Ebenbild geschaffen sei. Doch diese Erinnerung ist in seinem Mund kein Lob, sondern eine bitter-selbstverachtende Feststellung. Die Ironie liegt darin, dass er trotz dieser erhabenen Bestimmung weder Erkenntnis noch Erfüllung gefunden hat. Der Vers steigert das Pathos, indem er die kosmische Fallhöhe zwischen göttlicher Bestimmung und subjektivem Scheitern thematisiert.
Und nicht einmal dir!517
Die Wiederaufnahme des dir aus dem ersten Vers verstärkt die Zerrissenheit. Faust wendet sich also wieder dem ersten Gegenüber zu – vielleicht seinem eigenen Gewissen oder dem göttlichen Urbild –, nur um zu wiederholen, dass er selbst diesem nicht gerecht wird. Der Zusatz "nicht einmal" verschärft die Tragik: Nicht einmal dem höchsten, innersten Maßstab kann er genügen. Es ist eine vollständige Selbstentwertung trotz (oder gerade wegen) seines geistigen Anspruchs.
Zusammenfassend 514-517
Diese vier Verse wirken wie ein kondensierter innerer Zusammenbruch. Faust, der sich in der Tradition des Renaissance-Menschen als Streber nach göttlicher Erkenntnis begreift, erkennt im Moment der Wahrheit, dass seine Bemühungen hohl geblieben sind. Er fühlt sich gespalten zwischen dem göttlichen Ideal, das ihn tragen sollte, und der Realität seines Scheiterns. Die Kürze der Verse, ihre dialogische Struktur und die steigernde Tonlage unterstreichen die existenzielle Dramatik dieser Passage. Sie bilden einen Vorhof zur späteren Beschwörung des Erdgeistes, der wiederum Fausts Maßlosigkeit entlarvt.

Es klopft.

O Tod! ich kenn’s – das ist mein Famulus –518
»O Tod!«
Der Ausruf ist nicht wörtlich zu nehmen, sondern als Ausdruck tiefster Verzweiflung. Es handelt sich um eine Hyperbel, die Fausts akuten Gefühlsabsturz markiert. Noch im Überschwang einer mystischen Selbstöffnung (kurz zuvor spricht er davon, dass »ein heilig glühend Leben« durch seine Brust fließe) wird dieser ekstatische Moment brutal unterbrochen. »Tod« steht hier als Chiffre für das jähe Abbrechen spiritueller Erhebung durch profane Realität.
»ich kenn’s«
Mit resigniertem Unterton zeigt dieser Halbsatz, dass Faust die Situation als bekannt und wiederkehrend empfindet. Die Interjektion trägt eine Mischung aus Müdigkeit, Bitterkeit und Ohnmacht in sich: Die Wiederholung der Erfahrung, dass jedes Aufflackern des Übersinnlichen durch die banale Wirklichkeit zunichtegemacht wird.
»das ist mein Famulus –«
Der Famulus Wagner ist hier Inbegriff der pedantischen, akademischen Welt, die Faust als seelen- und geisttötend erlebt. Dass er ihn nicht beim Namen nennt, sondern in der dritten Person benennt, zeigt die emotionale Distanz, ja: Verachtung. Die Wortstellung isoliert »Famulus« am Versende und unterstreicht das Störende, Eindringliche an seiner Figur. Gleichzeitig verweist das Enjambement zum nächsten Vers auf den abrupten Einbruch des Alltäglichen in Fausts innere Ekstase.

Es wird mein schönstes Glück zu nichte!519
»Es wird … zu nichte!«
Diese syntaktische Konstruktion (mit dem Futur Passiv) verstärkt die Ohnmacht Fausts gegenüber dem, was gleich geschieht. Etwas, das er nicht aufhalten kann, »wird … zunichte«. Die äußere Realität wirkt destruktiv auf das Innere – eine Form von Gewalterfahrung im Geistigen. Das starke Schlusswort »zunichte« hat apokalyptischen Klang: Es bedeutet nicht nur »wird zerstört«, sondern »wird aufgehoben, ausgelöscht«.
»mein schönstes Glück«
Diese Formulierung hat zwei Bedeutungen: Erstens verweist sie auf den ekstatischen Moment zuvor, in dem Faust sich der »Geisterwelt« öffnen wollte. Zweitens schwingt hier die ganze Tragik seiner Existenz mit: dass selbst das »schönste« Glück keinen Bestand hat, dass jedes höhere Streben letztlich im Gewöhnlichen erstickt wird. Das Adjektiv »schönstes« weist auf die Singularität dieses Moments hin – umso größer die Kränkung, wenn es verloren geht.
Zusammenfassend 518-519
Diese beiden Verse markieren einen scharfen Bruch in der emotionalen Stimmung Fausts. Sie zeigen Fausts tragische Lage: Sein Sehnen nach Transzendenz wird unaufhörlich durch die Wirklichkeit – hier verkörpert durch den Famulus Wagner – zerstört. Der innere Zusammenbruch des Moments, der vorher von metaphysischem Licht durchstrahlt war, wird durch einen banalen Klopfer an der Tür ausgelöst. Goethe stellt in zwei kurzen Versen die ganze Tiefe moderner Entfremdung dar: das Zerreißen zwischen Sehnsucht und Realität, zwischen Ekstase und Alltag, zwischen Geist und Pedanterie.

Daß diese Fülle der Gesichte520
»Daß«: Das Versanfangswort verweist auf einen Fragesatz, der die Klageform annimmt – es handelt sich grammatikalisch um eine Ellipse, deren Fortsetzung der nächste Vers bietet.
»diese Fülle«: Die Wortwahl evoziert Überfluss und Überwältigung – Faust hat gerade eine übermächtige Vision erlitten, eine Art mystische oder geistige Ekstase.
»der Gesichte«: »Gesichte« meint hier nicht einfach Träume oder Visionen im alltäglichen Sinn, sondern ekstatische, mystisch-symbolische Erscheinungen – das Wort trägt biblisch-apokalyptische Konnotationen (vgl. Hesekiel, Johannes-Offenbarung).
Faust steht noch ganz unter dem Eindruck einer metaphysischen Schau. Das Substantiv »Fülle« deutet auf eine überreiche, kaum fassbare Intensität dieser Erfahrung.

Der trockne Schleicher stören muß!521
»Der trockne Schleicher«: Dies ist eine abwertende, fast spöttisch-karikierende Bezeichnung für Wagner, Fausts pedantischen Famulus, der in diesem Moment anklopft.
»trockne« meint geistlos, nüchtern, ohne innere Anteilnahme an geistiger Tiefe – ganz dem Buchwissen verhaftet.
»Schleicher« betont sein unauffälliges, vorsichtiges, ja unterwürfiges Verhalten – er nähert sich Faust fast kriechend.
»stören muß!«: Der Ausruf markiert eine jähe Enttäuschung, ja eine Art metaphysischen Bruchs. Die Schau ist zu Ende, weil das Alltägliche, Banale in Gestalt Wagners dazwischenfährt.
Die Vision wird nicht auf natürliche Weise abgeschlossen, sondern »gestört« – ein Ausdruck tiefen Missmuts. Es handelt sich um eine klassische Konstellation: der Mystiker oder der schöpferische Geist wird vom kleinlichen Weltverstand in seiner Transzendenz unterbrochen.
Zusammenfassend 520-521
Faust erfährt im Vorhergehenden eine Art erkenntnistheoretischen Rausch, eine Grenzüberschreitung, bei der er sich fast mit dem »Ewigen« verbunden fühlt. Doch diese Erfahrung ist flüchtig – und wird jäh unterbrochen. Das »trockne« Außen, die Welt der Wissenschaft, des rationalen Denkens (verkörpert durch Wagner), verhindert die Vertiefung in die inneren, imaginalen Sphären.
Die zwei Verse zeigen in nuce das zentrale Spannungsfeld des Dramas:
Mystik und Ratio, Ekstase und Buchgelehrsamkeit, Geistfülle und Geistdürre.
Goethe lässt Faust – stellvertretend für den modernen Menschen – hier zwischen diesen Polen schwingen.

Wagner im Schlafrocke und der Nachtmütze, eine Lampe in der Hand. Faust wendet sich unwillig.

Wagner.
Verzeiht! ich hör’ euch declamiren;522
Verzeiht!: Höflich-formelhafte Entschuldigung in der höflichen Anredeform (2. Person Plural). Wagner bemerkt, dass er in etwas »hineingeplatzt« ist.
ich hör’ euch declamiren;: »deklamieren« meint hier nicht nur »laut lesen«, sondern das pathetische, rhetorisch geschulte Vortragen von Versen – meist in schulischer, geübter Form.
Der Vers entlarvt sofort Wagners Missverständnis. Er hält Fausts leidenschaftlichen Monolog – ein echtes seelisches Ringen – für eine bloße rhetorische Übung. Diese völlige Verkennung der Situation entlarvt Wagners Beschränktheit.
Auch klanglich ist der Vers bemerkenswert:
Der Auftakt »Verzeiht!« hat einen abrupten Charakter – ein Interjektionsmoment, das zeigt, wie Wagner sich bemüht, höflich zu sein, zugleich aber grob in Fausts Einsamkeit einbricht.
Die Alliteration »hör’ euch declamiren« verstärkt Wagners vordergründige Beobachtung: er hört etwas, nimmt aber nichts Wesentliches wahr.

Ihr las’t gewiß ein griechisch Trauerspiel?523
las’t: Präteritum von »lesen« in veralteter Schreibweise.
griechisch Trauerspiel: Tragödien antiker Autoren wie Sophokles, Euripides, Aischylos. Diese galten als Gipfel klassischer Bildung.
gewiss: Ausdruck einer vermutenden, zugleich unterwürfig zustimmenden Haltung – Wagner will gefallen.
Wagner bemüht sich, klug zu wirken, indem er die rhetorische Stilistik Fausts als antike Tragödie deutet. Doch das, was Faust bewegt – metaphysische Sinnsuche, Erkenntnisskepsis, Nähe zum Suizid – hat mit schulischer Tragödienlektüre nichts zu tun.
Sein Rückgriff auf das »griechisch Trauerspiel« entlarvt eine rein akademische Bildung – im Kontrast zu Fausts gelebter Verzweiflung. In Wagner lebt der Typus des aufklärerischen Rationalisten weiter, der zwar viel weiß, aber nichts durchlebt hat.
Auch metrisch ist der Vers glatt, fast zu gefällig – im Jambus gehalten, ohne die stockenden Pausen oder die eruptiven Ausbrüche, die Fausts Sprache auszeichnen.
Zusammenfassend 522-523
Die Szene spielt am Abend in Fausts Studierzimmer. Wagner, der pedantische Assistent Fausts, trifft auf seinen Mentor, der gerade aus einem inneren Monolog herauskommt – einer existenziellen Rede voller Verzweiflung über die Grenzen menschlicher Erkenntnis. Wagner unterbricht ihn mit einer ganz anderen Tonlage: sachlich, oberflächlich, belehrbar.
Wagners Beitrag ist komisch und tragisch zugleich. Komisch, weil er so offensichtlich nicht versteht, was vor sich geht; tragisch, weil Goethe damit zeigt, dass reine Bildung ohne existenzielles Ringen geistlos bleibt. Wagner bleibt an der Oberfläche des Wortes, wo Faust schon am Abgrund der Seele steht.
Damit kontrastieren diese zwei scheinbar harmlosen Verse mit der Tiefe der vorangegangenen Monologe – und markieren zugleich die unüberbrückbare Distanz zwischen Fausts existenzieller Krise und dem akademischen Weltbild seines Schülers.

In dieser Kunst möcht’ ich ’was profitiren,524
»In dieser Kunst«:
Wagner bezieht sich auf die Kunst des Redens, der Gelehrsamkeit und insbesondere der Rhetorik – also auf das, was Faust kurz zuvor vorgeführt hat: ein pathetischer, gelehrter Monolog, den Faust (zum Teil ironisch) gesprochen hat. Wagner bewundert diesen Stil und sieht darin ein Mittel, sich zu »profilieren«.
»möcht’ ich ’was profitiren«:
Der Ausdruck bedeutet im damaligen Sprachgebrauch »etwas lernen« oder »einen Nutzen daraus ziehen«. Aber das Wort »profitiren« enthält bereits eine doppelte Bedeutung: Einerseits ist es ein Ausdruck für geistigen Fortschritt (im Sinne von Bildung), andererseits schwingt auch ein eigennütziger Impuls mit – ein pragmatischer Nutzen, den Wagner sich von dieser Kunst verspricht. Das passt zu seiner kleinbürgerlich-pedantischen Haltung, die Bildung nicht als Selbstzweck, sondern als Karrieremittel versteht.
Wagners Wunsch zu »profitiren« offenbart damit seinen Mangel an echter geistiger Tiefe – er will nicht erkennen, sondern nützen. Das steht in starkem Kontrast zu Faust, der an existenzieller Erkenntnis und transzendenter Wahrheit interessiert ist.

Denn heut zu Tage wirkt das viel.525
»Denn«:
Das ist ein kausaler Anschluss. Wagner begründet, warum er von der »Kunst« profitieren will – es ist also keine Liebe zum Wissen oder zur Wahrheit, sondern eine Reaktion auf äußere Umstände.
»heut zu Tage«:
Ein Zeitkommentar: Wagner spricht aus der Perspektive eines Gelehrten, der sich den gesellschaftlichen Bedingungen anpassen will. Der Vers hat damit auch eine kritische kulturhistorische Dimension: Er verweist auf eine Zeit, in der Form über Inhalt dominiert – das rhetorische Geschick wird höher geschätzt als die Wahrheit.
»wirkt das viel«:
Was »wirkt« ist die Kunst des gelehrten Sprechens – sie zeigt Wirkung in der Welt, das heißt: Sie verschafft Ansehen, Einfluss, vielleicht auch beruflichen Erfolg. Das Verb »wirken« verweist dabei auf pragmatische Effekte, nicht auf Wahrheit oder innere Erleuchtung. Das »viel« verstärkt noch die Betonung auf äußerem Erfolg.
Zusammenfassend 524-525
Diese zwei Verse geben uns auf engem Raum tiefe Einblicke in Wagners Charakter und seine geistige Verfassung. Sie sind auf den ersten Blick harmlos, doch sie enthüllen seine innerste Haltung: Er ist ein Vertreter des »wissenschaftlichen Apparats«, der Bildung instrumentalisiert. Wagner strebt nicht nach Erkenntnis um ihrer selbst willen, sondern nach gesellschaftlichem Nutzen, Ruhm, vielleicht Karriere. Damit steht er im Gegensatz zu Faust, dessen Suche ins Metaphysische und Tragische drängt. Goethes feine Ironie zeichnet Wagner hier bereits als Typus des engstirnigen, systemtreuen Biedermanns.

Ich hab’ es öfters rühmen hören,526
Dieser Vers beginnt mit einer typischen Redeweise, wie sie für Wagner charakteristisch ist: Er bezieht sich auf eine fremde Autorität und reproduziert Gehörtes, nicht originell Gedachtes. Damit verrät sich bereits seine Haltung als jemand, der Wissen akkumuliert, aber nicht selbst schöpferisch denkt.
Ich hab’ es öfters...: Die Häufigkeit deutet darauf hin, dass dieser Gedanke in gebildeten Kreisen kursiert — es handelt sich also um eine Art Gemeinplatz oder »gelehrten Spruch«.
...rühmen hören: Der Begriff »rühmen« enthält einen leicht pathetischen Ton. Er deutet darauf hin, dass dieser Gedanke nicht nur sachlich mitgeteilt, sondern bewundert oder gepriesen wurde. Wagner reproduziert Bewunderung, ohne selbst zu prüfen, ob sie berechtigt ist.
Diese Formulierung offenbart Wagners unkritischen Umgang mit Wissen: Er übernimmt Aussagen, weil sie in der Gelehrtenwelt »gerühmt« werden, nicht weil er sie selbst durchdacht hätte.
Inhaltlich wird bereits hier eine Spannung aufgebaut: Wer wird hier gerühmt, und warum? Es folgt im nächsten Vers eine überraschende Wendung.

Ein Komödiant könnt’ einen Pfarrer lehren.527
Die Aussage dieses Verses hat aphoristischen Charakter und wirkt fast wie ein Paradox. Goethe legt Wagner hier eine dialektisch brisante Einsicht in den Mund — freilich, ohne dass Wagner ihre Tiefe wirklich begreift.
Ein Komödiant: Das Wort bezeichnet im 18. Jahrhundert nicht nur einen Schauspieler, sondern trägt auch eine gewisse abwertende Konnotation — es klingt nach Täuschung, Maske, Künstlichkeit.
könnt’... lehren: Das Modalverb im Konjunktiv (»könnte«) lässt den Satz als Möglichkeit erscheinen, nicht als festes Urteil. Das öffnet Raum für Ironie: Wagner glaubt diesen Satz zu zitieren, ohne sich über seine Konsequenz im Klaren zu sein.
einen Pfarrer lehren: Das ist die eigentliche Pointe. Ein Schauspieler — jemand, der vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist — könnte also einen geistlichen Lehrer unterweisen?
Diese Umkehrung der Hierarchie zwischen geistlicher Autorität und weltlicher Schauspielkunst stellt das Verhältnis zwischen Schein und Wahrheit, zwischen Darstellung und Wahrheitspredigt radikal infrage.
Man kann diese Aussage als:
Kunsttheoretisches Statement lesen: Die Bühne vermag menschliche Regungen überzeugender zu zeigen als die Kanzel.
Gesellschaftskritik: Der Pfarrer predigt moralisch, aber erreicht die Herzen nicht — der Schauspieler hingegen spricht Menschen emotional an.
Hinweis auf Goethes Poetik: Die Dichtung (in Gestalt des »Komödianten«) soll erziehen, aufklären, affizieren.
Zusammenfassend 526-527
Diese beiden Verse sind kurz, aber hochbedeutend im Hinblick auf Goethes Poetik, auf den Konflikt zwischen Kunst und Theologie sowie auf das Verhältnis von Schein und Wahrheit. Wagner bringt diese Sätze in einem Gespräch mit Faust. Er steht für eine buchgelehrte, bürgerlich-rationale Welt, in der Wissen Reproduktion ist, nicht kreative Erkenntnis. Dass gerade er diesen Satz zitiert, verstärkt die Ironie: Denn Wagner wird später in Faust II selbst zum lächerlich überforderten Gelehrten, der ein künstliches »Homunkulus« erzeugt — ein ironischer »Künstler« also, der die Kraft der echten dichterischen Inspiration nicht besitzt.
Zudem reflektieren diese Verse Goethes Auffassung vom Theater als moralischer Anstalt, wie er es in seiner »Vorschrift für deutsche Schauspieler« und anderen Schriften darlegt. Der Komödiant wird hier zum Lehrer, der nicht dogmatisch, sondern anschaulich, durch Erleben lehrt.
Diese beiden Verse sind ein dichtes, ironisch aufgeladenes Spiel mit Autorität, Wirkung und Erkenntnis. Wagner begreift die Sprengkraft seiner Aussage nicht, doch Goethe lässt durch ihn eine fundamentale These anklingen: Die Bühne kann lehren, wo die Kanzel versagt — denn der Mensch lernt nicht allein durch Predigt, sondern durch Darstellung, Empathie, und sinnlich erfahrbare Wahrheit.

Faust.
Ja, wenn der Pfarrer ein Komödiant ist;528
Dieser Satz beginnt mit einer hypothetischen Konstruktion (»wenn«), aber das einleitende »Ja« verleiht ihm einen affirmativen Unterton – als bestätige Faust hier einen Gedanken, den er sich schon länger gemacht hat. Der Konjunktiv wirkt zwar hypothetisch, ist aber kritisch gemeint: Die Vorstellung, dass ein Pfarrer ein »Komödiant« sei, ist eine provokante Gleichsetzung, die zwei traditionell gegensätzliche Bereiche zusammenbringt:
Der Pfarrer steht für das religiöse Amt, für die Vermittlung göttlicher Wahrheit, für Ernst, Wahrhaftigkeit, Verkündigung.
Der Komödiant steht (zumindest im damaligen Sprachgebrauch) für den Schauspieler, den Darsteller, der vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist – für Schein, Maske, Darstellung.
Faust attackiert hier die Echtheit kirchlicher Rede: Wenn ein Pfarrer nur »spielt«, was er glaubt – oder bloß predigt, ohne innerlich davon erfüllt zu sein – ist seine Rolle der des Schauspielers vergleichbar. Damit wird nicht nur die Institution Kirche infrage gestellt, sondern das ganze System religiöser Repräsentation.
Der Satz wirft auch die Frage auf: Ist religiöse Verkündigung nur performativ? Und wenn ja – worin liegt dann noch die Wahrheit?

Wie das denn wohl zu Zeiten kommen mag.529
Dieser Vers knüpft reflexiv an den vorigen an, jedoch nicht resigniert, sondern eher ironisch-nachdenklich. Faust stellt nicht infrage, dass es vorkommt, sondern wie es dazu kommen kann. Das »wohl« mildert die Frage leicht ab, verleiht ihr einen überlegten, beinahe melancholischen Tonfall: Wie kann es geschehen, dass ein Mensch, der ein geistliches Amt bekleidet, zum bloßen Darsteller wird?
Auch steckt in diesem Vers ein gewisser kulturgeschichtlicher Pessimismus: Die Frage impliziert, dass eine Entfremdung von Amt und Innerlichkeit, von Verkündigung und Überzeugung, zeitweise Realität ist. Die Formulierung »zu Zeiten« verweist nicht nur auf gelegentliche Einzelfälle, sondern evoziert historische Zyklen, in denen der Glaube zur bloßen Form, zum Ritual, zum Schauspiel wird.
Kontextuelle Tiefe
Diese Verse erscheinen im Moment nach Fausts verzweifeltem Versuch, durch Magie Erkenntnis zu erlangen. Er wendet sich vom Buchwissen ab, wendet sich der Praxis zu, beschwört den Erdgeist – und scheitert. Die Frage nach der Echtheit des Religiösen tritt in dieser Krise als ein weiteres Symptom seiner Enttäuschung auf. Die Kirche ist für ihn – wie die Wissenschaft – nicht mehr Quelle von Wahrheit, sondern Teil einer Welt des Scheins.
Zusammenfassend 528-529
Diese beiden Verse erscheinen unscheinbar, entfalten aber in Goethes Dramaturgie und Denkarchitektur eine dichte Spannung. Sie markieren einen kritischen Moment in Fausts innerem Monolog, in dem er seine geistige Krise nicht nur reflektiert, sondern auch auf das Verhältnis zwischen Religion und Darstellungskunst (Theater) zuspitzt.
Goethe legt in diesen zwei Versen Fausts tiefes Misstrauen gegenüber den Autoritäten seiner Zeit offen. Mit der Gegenüberstellung von Pfarrer und Komödiant kritisiert Faust die Möglichkeit, dass religiöse Rede zur bloßen Rolle verkommt – zur äußeren Form ohne inneren Gehalt. Zugleich spiegelt sich in diesen Versen Fausts eigene Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, seine Krise der Vermittlungsinstanzen und seine Suche nach einer Wahrheit, die sich nicht spielen lässt.

Wagner.
Ach! wenn man so in sein Museum gebannt ist,530
Dieser Vers wird durch einen Ausruf eingeleitet: »Ach!«. Wagner bringt hier eine Mischung aus Bedauern und resignierter Feststellung zum Ausdruck, die aber nicht unbedingt kritisch gegenüber seiner Lebensweise gemeint ist – vielmehr spiegelt sie eine gewisse Wehmut über die freiwillig gewählte oder akzeptierte Isolation.
»Museum« meint hier nicht ein öffentliches Gebäude im modernen Sinn, sondern eher einen gelehrten Rückzugsort, ein Studierzimmer voller Bücher und Notizen – eine Art private Gelehrtenzelle. Der Ausdruck stammt vom lateinischen museum, das im 18. Jahrhundert auch einen Ort des kontemplativen Lernens bezeichnete, nicht bloß eine Sammlung von Exponaten.
»Gebannt« hat eine doppelte Konnotation: Einerseits im Sinne von verzaubert, gefesselt – also jemand, der von etwas fasziniert oder geistig gebunden ist. Andererseits klingt auch eingeschlossen, isoliert mit – was durch die Präposition »in« betont wird: der Mensch ist in sein Museum gebannt, nicht nur an das Studium gebunden. Die Formulierung deutet eine Art freiwillige Selbstisolation an, eine Konzentration auf das Geistige bei gleichzeitiger Entfremdung von der lebendigen Welt.
Wagners Welt ist das Museum, das Bücherstudium – und er scheint es trotz der Einschränkungen als würdig und sinnvoll zu betrachten.

Und sieht die Welt kaum einen Feyertag,531
Der zweite Vers entwickelt diesen Gedanken weiter und hebt die Trennung von der Außenwelt stärker hervor.
»Sieht die Welt«: Die Wahrnehmung der Welt ist hier auf ein Minimum reduziert. Das Verb »sehen« ist eine sinnliche Tätigkeit, die in der Wissenschaft metaphorisch für Erkenntnis stehen kann – doch Wagner »sieht« sie kaum. Es fehlt also nicht nur die sinnliche, sondern auch die soziale, politische, emotionale Beteiligung am Weltgeschehen.
»Kaum einen Feyertag«: Der Feiertag ist ein besonderer Tag im gesellschaftlichen wie auch im seelischen Sinn. Feiertage bieten Gelegenheit zur Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben, zur Erholung, zur Freude, zur Religion. Wagner sieht selbst diesen äußeren, leicht zugänglichen Aspekt der Welt nur selten – das unterstreicht seine vollständige Abkehr vom realen Leben. Zugleich impliziert das Wort Feiertag auch eine symbolische Öffnung zum Transzendenten oder zum Menschlich-Feierlichen, was Wagner ebenfalls verwehrt bleibt.
Der Klang dieser Zeile vermittelt durch die gedehnte Silbenstruktur und die Kadenzen einen leichten melancholischen Ton. Das Ende des Verses – »kaum einen Feyertag« – klingt zugleich resigniert und seltsam zufrieden, wie eine akzeptierte Askese.
Zusammenfassend 530-531
Wagner erscheint in diesen Versen als Musterbeispiel eines rationalistisch eingeschlossenen Gelehrten, dessen Leben sich vollständig in Büchern und Reflexion erschöpft. Die Welt außerhalb des Studierzimmers wird kaum noch wahrgenommen, geschweige denn gelebt. Anders als Faust fehlt Wagner jedoch der existentielle Schmerz darüber. Er konstatiert seine Isolation, ohne sie zu hinterfragen – und das macht ihn zu Fausts intellektuellem Gegenbild.

Kaum durch ein Fernglas, nur von weiten532
Dieser Vers bringt bildlich zum Ausdruck, wie weit entfernt Wagner sich dem »Volk« fühlt. Das Bild des Fernglases suggeriert eine große Distanz – sowohl räumlich als auch geistig. Es steht für ein wissenschaftliches Instrument, das die Welt vergrößert, aber eben nicht unmittelbar zugänglich macht. Der Blick durchs Fernglas erlaubt keine Nähe, keine persönliche Erfahrung, keine empathische Verbindung.
Die Aussage ist damit doppelt bedeutend:
1. Gesellschaftlich-sozial: Wagner, der Gelehrte, steht außerhalb des Lebens. Das »Volk« bleibt für ihn etwas Fernes, Unverständliches.
2. Erkenntnistheoretisch: Er steht sinnbildlich für einen Typus des intellektuellen Rationalisten, der sich der Welt nur analytisch, aus der Distanz nähert – ohne wirklich in sie einzutauchen.
Die Phrase »nur von weiten« verstärkt diese Abgrenzung – es geht nicht bloß um das physische Sehen, sondern um ein Sich-Abwenden vom konkreten Leben zugunsten einer rein theoretischen Haltung.

Wie soll man sie durch Ueberredung leiten?533
Hier stellt Wagner eine rhetorische Frage, die Ausdruck seiner Skepsis ist: Wenn das Volk schon so fern und fremd ist – wie soll man es dann durch Überredung (also durch Rede, Argumentation, Rhetorik) lenken oder beeinflussen?
Das Wort »Überredung« ist ambivalent. Es kann positiv als »Überzeugung« verstanden werden, im Sinne von rationaler Einflussnahme – oder negativ als Manipulation. Wagner scheint hier die Wirkmacht der Sprache in Frage zu stellen. Aus seiner Sicht genügt die gelehrte Erkenntnis nicht, um Einfluss zu nehmen – das Volk ist zu weit entfernt, zu anders.
Zugleich zeigt dieser Vers einen Kontrast zu Faust:
Faust glaubt an die Möglichkeit, mit dem Leben in Kontakt zu treten, selbst wenn er daran verzweifelt.
Wagner hingegen bleibt im Elfenbeinturm und resigniert vor der Kluft zwischen Wissen und Leben.
Zusammenfassend 532-533
Die zwei Verse spiegeln Wagners weltfremde, rationalistische Geisteshaltung wider. Er sieht das Leben nur »durchs Fernglas« – also mittelbar, ohne Berührung. Entsprechend hält er es für unmöglich, auf das Volk einzuwirken, geschweige denn es durch Sprache zu führen. Dies steht in einem Grundkonflikt zu Fausts Daseinskrise: Faust will die Welt erleben, Wagner nur beschreiben.
Goethe bringt mit diesen knappen Versen eine tiefe Spannung auf den Punkt: zwischen lebendiger Erfahrung und abstrakter Theorie, zwischen Redekunst und sprachlichem Scheitern, zwischen dem Drang zur Welt (Faust) und der Flucht vor ihr (Wagner).

Faust.
Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen,534
Dieser Auftakt stellt eine fundamentale Forderung an das künstlerische Schaffen: Gefühl ist unabdingbar. Wer ein Gedicht, ein Kunstwerk, eine Wahrheit nicht »fühlt«, wird sie auch nicht »erjagen« – ein starkes, beinahe gewaltsames Bild, das an die Jagd erinnert. »Erjagen« setzt eine aktive, fast gewaltsame Aneignung voraus. Doch Faust macht deutlich: Ohne inneres Erleben ist auch größter Wille zur Aneignung vergeblich. Das impliziert Kritik an bloß äußerlichem Bemühen, etwa am akademischen Nachahmen dichterischer Formen ohne innere Anteilnahme. Der Ton ist entschieden und herabsetzend gegenüber jenen, die glauben, Kunst durch Technik oder Fleiß alleine erreichen zu können.

Wenn es nicht aus der Seele dringt,535
Hier wird das zuvor Gesagte vertieft: Die Quelle echter Kunst ist die Seele. Der Ausdruck »dringt« lässt das Bild eines natürlichen, unaufhaltsamen Ausflusses entstehen – wie ein innerer Quell, der nach außen tritt. Es geht nicht um kalkulierte Rede oder gewollte Effekte, sondern um authentischen Ausdruck. Dieser Vers bringt eine romantische Kunstauffassung zum Ausdruck, die das Dichterische als unmittelbaren Ausdruck innerer Wahrheit versteht. Goethe stellt sich hier deutlich gegen einen rein rationalistischen Kunstbegriff und bezieht sich auf ein höheres, seelisch-geistiges Prinzip.

Und mit urkräftigem Behagen536
In diesem Vers kommt eine paradoxe Spannung zum Ausdruck: »Urkräftig« steht für ursprüngliche, rohe, vitale Kraft – ein Motiv, das häufig in der Genieästhetik des Sturm und Drang auftaucht. »Behagen« hingegen klingt nach innerer Stimmigkeit, Freude, ja sogar Gemütlichkeit. Die Verbindung der beiden Begriffe impliziert, dass wahre Dichtung nicht nur stark und eindringlich, sondern zugleich harmonisch und genussvoll ist – für den Dichter ebenso wie für das Publikum. Kunst muss also nicht gewaltsam oder manieriert auftreten, sondern wirkt durch ihre natürliche, ursprüngliche Kraft, die zugleich Freude spendet.

Die Herzen aller Hörer zwingt.537
Der Abschlussvers ist kraftvoll und programmatisch: Echte Kunst hat Wirkung – sie trifft »die Herzen«, nicht bloß den Verstand. Das Verb »zwingt« ist auffällig stark; es meint kein sanftes Bewegen, sondern eine fast magische Überwältigung. Der Künstler wird hier zum Seelenführer, ja beinahe zum Magier. Das Ziel ist nicht bloße Unterhaltung, sondern eine tiefgreifende emotionale Wirkung. Das korrespondiert mit Fausts Unzufriedenheit über das bloße »Lehren« und mit seiner Suche nach einem existenziell wirkenden, lebendigen Ausdruck.
Zusammenfassend 534-537
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Faust in diesen vier Versen eine radikale Kunsttheorie entwirft: Kunst ist nicht mechanisch erlernbar, sondern muss aus dem Innersten kommen, aus der »Seele«, und sie muss lebendig, kraftvoll, wahrhaft sein. Diese Sätze gelten nicht nur für Dichtung, sondern auch für Fausts eigenes existenzielles Streben nach »mehr als Wissen«. Sie bilden ein Credo des romantischen Künstlers – und ein Abgesang auf das bloß verstandesmäßige Erkenntnisstreben der Aufklärung.

Sitzt ihr nur immer! leimt zusammen,538
»Sitzt ihr nur immer!«
Diese Anrede ist scharf und abwertend. Sie richtet sich gegen jene, die sich in ihren Schreibstuben oder Hörsälen niedersetzen, ohne sich selbst in das Leben hinauszubegeben. Das »nur« betont den Vorwurf der Untätigkeit, der Passivität, des bloßen Verharrens im Theoretischen.
»leimt zusammen,«
Das Bild des »Zusammenleimens« hat etwas Handwerklich-Primitives, Künstliches. Es ist kein schöpferischer Akt, sondern ein mechanisches Aneinanderfügen von fremdem Material. Gemeint ist das unoriginelle Kompilieren: aus bereits bestehenden Texten etwas Neues »zusammenleimen«, ohne echte Einsicht oder Inspiration. Goethe gebraucht das Bild des Leimens auch anderswo negativ, wenn es um imitierende, seelenlose Dichtung geht.
Diese Zeile stellt somit eine scharfe Kritik an der damaligen Praxis der Gelehrsamkeit dar: das bloße Zitieren, Kompilieren, Kommentieren – ohne eigenen Erkenntnisdrang oder schöpferische Leistung.

Braut ein Ragout von andrer Schmaus,539
»Braut ein Ragout«
Das Kochen wird hier metaphorisch für das Erzeugen geistiger Produkte verwendet. Ein »Ragout« ist ein Mischgericht, oft aus Resten oder verschiedenen Zutaten zusammengekocht. Das Verb »brauen« deutet ein alchemistisches, zugleich aber auch ein chaotisches, unkontrolliertes Mischen an.
»von andrer Schmaus«
Die Ingredienzen stammen nicht aus eigenem Fundus, sondern sind »von andern« – also fremdes Gedankengut, fremde Erkenntnisse, fremde Genüsse. Man lebt geistig von den Ideen anderer. Der »Schmaus« deutet auf das Sinnliche, das Genießbare hin – was Faust hier aber als second-hand oder parasitär dargestellt.
Goethe gestaltet hier ein starkes Bild: Wer so handelt, ist nicht origineller Denker oder Dichter, sondern ein bloßer Nachkocher. Die echte Erfahrung, das eigene Ringen um Wahrheit, wie es Faust sucht, fehlt völlig.
Zusammenfassend 538-539
Die beiden Verse sind Ausdruck von Fausts tiefer Enttäuschung über die akademische Welt und zugleich eine Kritik Goethes an einer entseelten Wissenschaft und Literatur. Faust will keine bloße Reproduktion, keine gelehrte Wiederholung – er verlangt nach unmittelbarem, eigenem Erleben, nach Wahrheit, die nicht aus Büchern kommt, sondern aus der Welt, dem Leben, dem Ich.
In diesem Moment kulminiert seine Ablehnung des bloßen Buchwissens, wie es sich durch das ganze »Nacht«-Monolog zieht, und kündigt seinen baldigen Pakt mit Mephisto an – als Ausbruch aus der Enge des »Zusammenleimens«.

Und blas’t die kümmerlichen Flammen540
»Und« – Das einleitende und stellt eine Fortführung vorheriger Gedanken dar. Faust ist in einem flammenden Monolog über den Wert des traditionellen Wissens und seine innere Leere, und dieser Imperativ reiht sich in die Entladung seiner Frustration ein.
»blas’t« – Der Imperativ des Verbs blasen richtet sich vermutlich an imaginierte Geister, vielleicht aber auch metaphorisch an die alten Gelehrten oder die Tradition der Wissenschaft selbst. Das Ausblasen hat eine destruktive, reinigende oder spöttische Konnotation: Als wolle er letzte Reste eines falschen Lichtes zum Verlöschen bringen.
»die kümmerlichen Flammen« – Diese Flammen stehen metaphorisch für die Erkenntnisse und Lehren der überlieferten Wissenschaft: schwach, dürftig, nicht wärmend, nicht leuchtend, sondern eben kümmerlich. Faust sieht sie als nutzlose Funken, nicht als wahres Licht der Wahrheit. Ihre »Kümmerlichkeit« betont ihre Unzulänglichkeit, ihren jämmerlichen Zustand.

Aus eurem Aschenhäufchen ’raus!541
»Aus« – Ein weiteres Bild der Ausstoßung: Das Licht, das aus der Asche aufsteigt, ist weder lebensspendend noch ewig – es ist der letzte Rest eines längst erkalteten Feuers.
»eurem Aschenhäufchen« – Das Aschenhäufchen ist ein kraftvolles Bild: Die Asche ist das Überbleibsel eines einst brennenden, lebendigen Feuers. Es steht hier für das totes Wissen, das Faust verachtet – für Tradition, Dogma, veraltete Lehre, leere Worte. Das Diminutiv -häufchen unterstreicht die Geringschätzung: klein, schwach, bedeutungslos.
»’raus!« – Umganssprachlich, ausdrucksstark, fast aggressiv. Der Ausruf bringt Fausts Ungeduld, seine Wut und seine Ablehnung gegenüber dem Überlieferten auf den Punkt. Das apostrophierte »’raus« (statt »heraus«) verstärkt den Drall nach außen, das Weg-mit-euch, das Exorzistische.
Zusammenfassend 540-541
Diese beiden Zeilen stehen in einem zentralen Moment der Szene »Nacht«, in der Faust mit tiefster Verachtung auf das traditionelle Wissen der Gelehrten blickt. Er fühlt sich durch das Studium der Wissenschaften leer und betrogen. Hier ruft er — ob zu den Elementen, den Geistern oder als metaphorischer Ausruf gegen die akademische Welt, bleibt offen — mit einer Mischung aus Spott und Zorn.
Sie stehen am Übergang vom resignierten Gelehrten zum magisch-suchenden Menschen. Faust hat genug von toten Büchern, falschem Wissen und leerem Gerede. Die »kümmerlichen Flammen« stehen für das letzte Aufflackern einer Ordnung, die er verlässt. Er fordert ihre Auslöschung, um Platz für etwas Neues, Mächtigeres, möglicherweise Dunkleres zu machen – einen radikalen Erkenntnisweg jenseits des herkömmlichen Denkens. Das Motiv der Flamme als Symbol der geistigen Erkenntnis wird hier sarkastisch gebrochen: Nicht das Feuer der Wahrheit brennt da, sondern ein kümmerliches, falsches Licht – das gelöscht gehört.

Bewund’rung von Kindern und Affen,542
Dieser Vers enthält eine doppelte Abwertung:
»Bewund’rung« wird hier ironisiert. Normalerweise ist Bewunderung ein positives Gut, ein Zeichen von Anerkennung. Doch Faust entwertet sie – es handelt sich nicht um die Bewunderung von Weisen oder Gleichgesinnten, sondern von »Kindern und Affen«.
»Kinder« stehen in vielen Kontexten für Unschuld, aber auch für Naivität und mangelndes Urteilsvermögen.
»Affen« symbolisieren im literarischen und philosophischen Diskurs oft bloße Nachahmung, Instinkt, Albernheit – Wesen, die zwar »menschlich« wirken, aber den Geist nicht besitzen. Schon in antiken wie mittelalterlichen Texten galten sie als Symbol für Trug, Eitelkeit und wertlose Mimikry.
Faust wirft somit all jenen, die sich an wissenschaftlichem Renommee oder an der Pose des Gelehrten erfreuen, vor, dass sie sich mit der Bewunderung von bloßen Nachahmern und kindlich-naiven Wesen zufriedengeben – ein Zeichen des inneren Abstiegs.
Goethe gebraucht diese Bilder nicht nur zur Abwertung, sondern zur Karikatur eines Gelehrtendaseins, das sich mit oberflächlicher Popularität anstelle von Wahrheit oder Tiefe begnügt. Es ist auch ein Verweis auf Fausts tiefe Selbstkritik: Er hält sich selbst nicht mehr für viel besser.

Wenn euch darnach der Gaumen steht;543
Dieser Vers ist schneidend spöttisch.
Die Redewendung »der Gaumen steht nach etwas« bedeutet: etwas schmeckt einem, man hat Lust darauf. Faust verknüpft damit geistige Eitelkeit mit physischem Verlangen – eine Pervertierung intellektuellen Strebens.
»Gaumen« verweist hier auf sinnliches, beinahe tierhaftes Begehren. Anerkennung wird nicht als geistiges Gut, sondern als gustatorisches Lustobjekt dargestellt.
Das »euch« ist eine direkte Anrede – es richtet sich an all jene, die sich von oberflächlichem Ruhm, Titeln oder Bewunderung »ernähren« oder daran ergötzen.
Der Vers zeigt Fausts Ekel: Wer sich an solcher Anerkennung erfreut, ist nicht besser als jemand, der seinen Hunger nach Zucker stillt – es ist trivial, seicht, unedel.
Zusammenfassend 542-543
Diese beiden Verse sind Teil eines sarkastisch-bitteren Monologs, in dem Faust seine Enttäuschung über die Begrenztheit der Wissenschaft, seine Unzufriedenheit mit dem Gelehrtenstatus und seine Verachtung gegenüber oberflächlicher Anerkennung zum Ausdruck bringt.
Faust spricht hier in einer Art zorniger Selbst- und Weltabrechnung. Diese beiden Verse sind ein Ausdruck seiner Verachtung gegenüber einem Ruhm, der nichts mit Wahrheit zu tun hat. Die Vorstellung, dass ein Gelehrter sich an der Bewunderung von Kindern und Affen erfreuen könnte, ist für Faust Zeichen eines intellektuellen Bankrotts. Und doch steckt darin auch ein düsterer Subtext: Er selbst ist in Gefahr, dieser Verführung zu erliegen oder sich selbst darin zu erkennen.
Der doppelte Boden – zwischen Hohn und Selbsthass, zwischen Menschenverachtung und Selbsterkenntnis – macht diese Stelle so dicht und charakteristisch für Goethes Darstellung des zerrissenen modernen Menschen.

Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen544
Der Vers beginnt mit dem adversativen »Doch«, was eine Gegenrede oder Einschränkung signalisiert. Es ist ein Einwand gegen das zuvor Gesagte oder Geglaubte — im konkreten Fall gegen die rationalistische oder äußerlich-technische Vorstellung, Kommunikation und Erkenntnis durch Mittel wie Sprache oder Wissenschaft herstellen zu können.
Das Verb »schaffen« wird hier existentiell gebraucht. Es meint nicht nur ein bloßes »Herstellen«, sondern ein echtes, tiefes Bewirken oder Ermöglichen: Die Verbindung von »Herz zu Herzen«. Damit steht diese Zeile im Kontrast zu mechanistischer Kommunikation.
Die Redewendung »Herz zu Herzen« betont das Zwischenmenschliche, das Innere, das Emotionale und existentiell Bewegte. Es ist eine poetische Umschreibung für wahres Verstehen, Mitfühlen, Nähe und geistige Intimität. In Goethes Sprachgebrauch ist das »Herz« oft der Sitz des Lebens, der Liebe, der Seele.
Die Alliteration »Herz zu Herzen« verstärkt nicht nur klanglich den inneren Zusammenhang, sondern betont durch die Wiederholung die wechselseitige Beziehung: Es geht um Gegenseitigkeit, nicht Einseitigkeit. Das echte Gespräch — das Dialogische — wird hier als Herzensangelegenheit verstanden, nicht als bloßer Austausch von Informationen.

Wenn es euch nicht von Herzen geht.545
Der zweite Vers ist konditional und begründet die Aussage des ersten Verses. Die Formulierung »von Herzen gehen« ist eine Redewendung, die Echtheit, Aufrichtigkeit, Tiefe bezeichnet. Sie meint: Nur wenn etwas aus dem Innersten kommt, aus echter innerer Bewegung und nicht aus Kalkül oder bloßer Pflichterfüllung, kann es etwas beim Gegenüber auslösen.
Die wiederholte Verwendung von »Herz« (dreimal in zwei Versen) legt nahe, dass Goethe das Zentrum echter menschlicher Kommunikation und Wirkung nicht im Intellekt, sondern im fühlenden, lebendigen Innersten verortet.
Zugleich ist »von Herzen gehen« eine Bewegung nach außen — ein emotionales Geben. Es steht im Gegensatz zu leeren Phrasen oder kaltem Belehren. Sprache, Wissen oder Handlung, die nicht »von Herzen« kommt, ist unfruchtbar, wirkt nicht, bleibt leblos.
Die Personalpronomina »ihr« und »euch« adressieren implizit Fausts Publikum – seien es die Wissenschaftler, Theologen, Rhetoren oder gar die Mächte, mit denen er hadert. Der Ton ist zugleich kritisch und appellativ.
Zusammenfassend 544-545
In diesen beiden Versen entwirft Goethe ein ethisches und existentielles Kommunikationsideal: Wahres Verstehen zwischen Menschen ist nur möglich, wenn der Ausgangspunkt echtes inneres Empfinden ist.
Im Kontext der Szene »Nacht«, in der Faust seine existenzielle Unzufriedenheit mit dem Wissen und der Wissenschaft ausdrückt, erscheinen diese Verse wie eine poetische Quintessenz: Der Mensch kann sich noch so sehr bemühen, durch Verstand, Formeln und Systeme Zugang zum Wesen der Welt zu erlangen — ohne ein »von Herzen« bleibt dies hohl.
Diese Verse sind zugleich eine poetologische Maxime: Auch der Dichter – wie Goethe selbst – vermag das »Herz zu Herzen« nur zu schaffen, wenn es ihn selbst »von Herzen geht«.

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