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Der Tragödie Erster Theil

Nacht. (5)

Er faßt das Buch und spricht das Zeichen des Geistes geheimnißvoll aus. Es zuckt eine röthliche Flamme, der Geist erscheint in der Flamme.

Geist.
Wer ruft mir?482
Der Geist tritt auf und stellt eine einfache, aber tiefgründige Frage. Grammatikalisch handelt es sich um eine elliptische Konstruktion: Das Subjekt »mich« steht im Dativ, und der Geist fragt nicht »Wer ruft mich?«, sondern »Wer ruft mir?«, was auf eine indirektere Beziehung hindeutet – als ob der Geist durch einen kosmischen Impuls, nicht durch persönlichen Willen, herbeigerufen wurde. Die Frage enthält ein Übermaß an Machtbewusstsein: Der Geist scheint souverän, unbeeindruckt, eher erstaunt als erfreut. Sie bringt sogleich eine Distanz zwischen dem Erhabenen (Geist) und dem Suchenden (Faust) zum Ausdruck.

Faust. abgewendet.
Schreckliches Gesicht!482
Fausts Reaktion ist instinktiv, erschüttert, fast panisch. Das Wort »Schreckliches« benennt nicht nur das Aussehen, sondern auch die Wirkung des Geistes: eine Überforderung der Sinne, eine seelische Überwältigung. Dass Faust »abgewendet« ist, unterstreicht seine Unfähigkeit, die Erscheinung zu ertragen. Es ist nicht die Erfüllung seiner Sehnsucht, sondern deren Katastrophe. Der Mensch, der das Absolute sucht, wird von dessen bloßer Erscheinung in die Schranken gewiesen.

Geist.
Du hast mich mächtig angezogen,483
Hier beginnt der Geist, Fausts metaphysischen Zugriff zu kommentieren. Das Verb »anziehen« steht im physikalischen wie magischen Sinne: Faust hat einen metaphysischen Kraftakt unternommen. Das »mächtig« signalisiert, dass Faust tatsächlich eine Wirkung im übernatürlichen Raum entfalten konnte – ein Zeichen seiner Gelehrsamkeit, seines Willens, seiner inneren Energie.

An meiner Sphäre lang’ gesogen,484
»An meiner Sphäre lang’ gesogen« bringt ein kosmisches Bild ins Spiel. Die »Sphäre« verweist auf eine traditionelle Vorstellung der metaphysischen Welt (wie bei den Sphären der Planeten), aber auch auf eine geistige Zone, zu der der Geist gehört. Faust hat sich an diese Sphäre »gesogen« – wie ein Kind an der Brust, aber auch wie ein Parasit. Es ist ein Bild der Grenzüberschreitung, der metaphysischen Hybris. Doch das »lang’« deutet auf einen zähen, unzulänglichen, beinahe scheiternden Prozess hin: Faust hat sich zu lange am Unerreichbaren festgesogen, ohne es wirklich fassen zu können.
Und nun –485

Faust.
Weh! ich ertrag’ dich nicht!485
Dieser Ausruf markiert den Zusammenbruch. Faust erkennt seine Begrenzung – nicht als kühle Einsicht, sondern als verzweifelten, existenziellen Schrei. Das »Weh!« ist ein urzeitlicher Laut des Schmerzes, nicht argumentativ, sondern affektiv.
»Ich ertrag’ dich nicht!« bedeutet: Die Präsenz des Geistes ist für Faust unerträglich – nicht nur in ihrer äußeren Erscheinung, sondern in ihrer metaphysischen Wahrheit. Faust ist nicht bereit, das zu sehen, was er herbeigesehnt hat. Die Diskrepanz zwischen menschlicher Sehnsucht und göttlicher oder kosmischer Wirklichkeit tritt mit voller Gewalt zutage.
Zusammenfassend 482-485
Diese vier Verse beschreiben ein intensives Drama in Miniatur: Der übermächtige Geist wird durch menschliche Sehnsucht heraufbeschworen, erscheint souverän und distanziert, während Faust – zunächst der Rufende – sich von der eigenen Tat überfordert zeigt. Der Geist diagnostiziert eine metaphysische Anmaßung: Faust hat an einer Sphäre gesogen, die nicht die seine ist. Schließlich bricht Faust zusammen: Er kann den Anblick, die Gegenwart, die Wahrheit des Geistes nicht ertragen.
Goethes Sprache verbindet hier mythisch-kosmische Metaphorik mit psychologischer Introspektion. Diese Begegnung erinnert an die Ekstasen und Furcht-Erfahrungen in mystischen Traditionen – etwa bei den Sufis oder in der apophatischen Theologie –, nur dass Fausts Suche nicht zur Auflösung des Ichs, sondern zur Bestätigung seiner existenziellen Spaltung führt. Die Szene ist keine mystische Einheit, sondern ein metaphysischer Kollaps.

Geist.
Du flehst erathmend mich zu schauen,486
»Du flehst« – Faust wird vom Geist direkt angesprochen. Die Formulierung ist konfrontativ: Das Verb »flehen« hebt Fausts Unterlegenheit und Bedürftigkeit hervor. Er hat nicht »gebeten« oder »gewünscht«, sondern gefleht – mit leidenschaftlicher Inbrunst und Verzweiflung.
»erathmend« – ein seltenes, poetisches Wort, das auf »erathmen« zurückgeht – also auf ein tiefes, atemloses Verlangen oder ein angstvolles, erwartungsvolles Sehnen. Das Wort evoziert körperliche Intensität: Faust hat nicht nur geistig um Erkenntnis gebeten, sondern mit dem ganzen Leib, »atemraubend« geradezu. Es schwingt auch eine Ekstase mit, vielleicht sogar eine mystische Anstrengung – eine Art existenzielle Überhitzung.
»mich zu schauen« – Das Verb »schauen« steht hier nicht bloß für sinnliches Sehen, sondern für ein höheres Schauen – im Sinne von visionärer Erkenntnis oder Erleuchtung. Faust will den Geist erkennen, durchdringen, vielleicht sich einverleiben. Im Kontext von Goethes Anthropologie ein gefährliches Unterfangen: das Streben nach dem Absoluten, nach einem Bild, das das menschliche Auge nicht fassen kann.
Die gesamte Verszeile ist also eine Zusammenfassung dessen, was Faust an Beschwörung und Sehnsucht zuvor artikuliert hat – jetzt aber aus der Perspektive des Geistes, der Fausts Versuchung durchschaut.

Meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehn,487
»Meine Stimme zu hören« – Die Stimme ist Ausdruck von Wesen, Geist, Wort. In der christlich-mystischen Tradition ist die Stimme oft das erste Medium der Offenbarung. Wer die Stimme des göttlichen oder überirdischen Wesens hört, wird zum Propheten oder Mystiker. Doch hier ist das Hören keine begnadete Gabe, sondern Ausdruck Fausts gewaltsamen Zugriffsversuchs.
»mein Antlitz zu sehn« – Das Antlitz (»Angesicht«) ist in biblischer und mystischer Sprache die höchste Form der Gotteserkenntnis, die aber dem Menschen verweigert ist: »Kein Mensch kann mein Angesicht sehen und leben« (Ex 33,20). Goethe greift hier genau diese Spannung auf. Faust verlangt das Unmögliche: das unmittelbare Schauen eines übermenschlichen Wesens. Er will, was kein Mensch aushalten kann.
Die Reihung – sehen, hören, sehen – verdeutlicht ein crescendo des Begehrens: erst die Präsenz (sehen), dann das lebendige Wort (hören), dann die unverhüllte Offenbarung des Wesens selbst (Antlitz sehen).
Doch der Geist formuliert das nicht bewundernd, sondern als Vorwurf: Du hast das gewollt – aber kannst du es auch ertragen?
Zusammenfassend 486-487
Diese Zeilen sind Teil der gewaltigen Konfrontation zwischen Faust und dem Erdgeist – einer Schlüsselszene, die Fausts geistige Hybris und die Grenzen menschlicher Erkenntnis dramatisch inszeniert.
Diese beiden Verse sind Teil der spirituellen Grenzüberschreitung Fausts. Der Geist tritt nicht als gnädiger Erfüllungsgehilfe, sondern als Spiegel von Fausts Hybris auf. Faust hat versucht, sich der Sphäre des Geistes gewaltsam zu bemächtigen – doch was er beschworen hat, entzieht sich seinem Zugriff und stellt ihn bloß. Die Verse markieren den Wendepunkt: Faust erfährt seine Ohnmacht – und wird später vom Geist verstoßen (»Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!«).

Mich neigt dein mächtig Seelenflehn,488
Der Geist beginnt mit einer Antwort auf Fausts intensive, innere Anrufung.
»Mich neigt«: eine archaische Wendung für »mich zieht herab« oder »mich bewegt« – der Geist wird durch Fausts innige Bitte herbeigerufen.
»mächtig Seelenflehn«: ein stark aufgeladener Ausdruck; Fausts Flehen geht nicht nur vom Verstand, sondern aus der Tiefe seiner Seele aus – es ist ernst, echt, existentielle Beschwörung.
Diese Zeile bestätigt, dass der Geist keine triviale Erscheinung ist, sondern tatsächlich aus einer jenseitigen Sphäre stammt, in die Faust eindringen will – ein Erfolg, der ihm zugleich zum Verhängnis wird.

Da bin ich! – Welch erbärmlich Grauen489
Ein dramatischer Umschwung:
»Da bin ich!« – eine lapidare, fast lapidarschöpferische Aussage, die an göttliche Selbstoffenbarungen erinnert (z. B. Gottes »Ich bin, der ich bin« aus der Bibel) – der Geist tritt mit voller Gegenwart auf.
Doch direkt darauf folgt die Ernüchterung: »Welch erbärmlich Grauen« – der Geist nimmt unmittelbar Fausts Reaktion wahr und wertet sie ab.
»erbärmlich« markiert eine extreme Enttäuschung: Anstelle der erhofften heroischen Begegnung zeigt Faust Angst, Grauen – seine menschliche Begrenztheit wird entlarvt.
Die Diskrepanz zwischen Ruf und Reaktion, zwischen Anmaßung und Wirklichkeit, ist hier auf dem Höhepunkt.

Faßt Uebermenschen dich! Wo ist der Seele Ruf?490
Dieser Vers kulminiert die Anklage des Geistes.
»Faßt Uebermenschen dich!« ist rhetorisch mehrdeutig. Die Wendung kann bedeuten: »Hat dich, der du dich für einen Übermenschen hältst, das Grauen ergriffen?« – eine ironische Bloßstellung von Fausts Hybris.
Gleichzeitig kann sie so gelesen werden: »Ein Übermensch ist von Grauen erfasst worden« – was die Unmöglichkeit solcher übermenschlichen Aspirationen unterstreicht.
Der Geist fragt spöttisch weiter: »Wo ist der Seele Ruf?« – also: Wo ist die Kraft, der Ernst, das Feuer deiner Beschwörung jetzt, in dem Moment der Begegnung?
Diese Frage zielt auf das Auseinanderfallen von Geist und Körper, Ideal und Wirklichkeit. Fausts Ruf war mächtig, aber sein Leib, seine Psyche ist nicht fähig, das Ersehnte zu ertragen.
Zusammenfassend 488-490
In diesen drei Versen wird Fausts existentielle Tragik schlagartig offenbar-
Der »Geist, den du begreifst, ist nicht dein Gleichgewicht« – wie es später heißt.
Faust ruft mit aller Kraft nach dem Absoluten – doch als es erscheint, bricht er zusammen.
Der Geist ist keine Projektion oder bloßes Symbol, sondern ein Wesen eigener Art, das Maß nimmt an der Größe des Rufes – und enttäuscht ist vom Menschen, der ihn ausspricht.
Diese kurze Passage ist ein kleines Drama für sich: der Kulminationspunkt einer übermenschlichen Sehnsucht, gefolgt von Entlarvung und Scheitern. Sie führt ins Herz von Goethes Faust: das Paradox, dass der Mensch nach dem Höchsten strebt – aber es nicht aushält, wenn es sich ihm offenbart.

Wo ist die Brust? die eine Welt in sich erschuf,491
Der Vers beginnt mit einer rhetorischen Frage. Der Geist fragt nicht aus Unwissenheit, sondern stellt Faust (und damit auch den Menschen) zur Rede.
»die Brust«: Metonymisch steht sie für das fühlende, schöpferische Ich – für die menschliche Innenwelt als Ort der Weltgestaltung. In ihr kann eine Welt entstehen – nicht bloß durch Rationalität, sondern durch inneres Erleben, Einbildungskraft, Willen und Empfindung.
»eine Welt in sich erschuf«: Diese Formulierung ist mehrdeutig. Zum einen spielt sie auf die schöpferische Kraft des Menschen an, wie sie der romantischen und idealistischen Philosophie vorschwebt (z. B. Fichte: das Ich setzt sich selbst und die Welt). Zum anderen evoziert sie biblische, ja göttliche Vorstellungen der Schöpfung. Der Mensch soll, so scheint es, mit göttlicher Macht ausgestattet sein – im Innersten seines Wesens.
Der Geist fragt also: Wo ist der, der wahrhaft schöpferisch war – ein zweiter Gott im Mikrokosmos Mensch?

Und trug und hegte; die mit Freudebeben492
Dieser Vers führt die Gedanken weiter. Schöpfung ist nicht ein punktueller Akt, sondern verlangt Fürsorge und Liebe.
»trug und hegte«: Diese Begriffe gehören zum Wortfeld des Gebärens, des Pflegens, des Lebensspendens. Wer eine Welt erschaffen hat, muss sie tragen (in sich halten, stützen) und hegen (pflegen, wachsen lassen). Die Anklänge an Mutterschaft sind deutlich: die Welt als Kind des schöpferischen Subjekts.
»mit Freudebeben«: Ein besonders intensives Bild. Es suggeriert ein ekstatisches Erleben – kein nüchternes Bewusstsein, sondern eine tiefe, freudige Erregung, eine fast mystische Bewegung des Innersten. Freude und Erschütterung verbinden sich: das Erhabene im Sinn von Schiller und Kant – das, was zugleich überwältigt und erhebt.
Diese Zeile fragt: Wo ist die Seele, die nicht nur schuf, sondern auch liebte, lebte, und in ihrem Werk erzitterte?

Erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben.493
Hier steigert sich das Pathos. Die »Brust« wird nicht nur tragend und fühlend, sondern wachsend, sich erhebend – sie strebt zu den Geistern empor.
»Erschwoll«: Ein seltenes, aber ausdrucksstarkes Wort. Es meint ein Aufblähen, ein Anschwellen – wiederum mit Assoziationen zur Schwangerschaft, aber auch zu Begeisterung, zu innerem Wachstum. Diese Bewegung ist kein bloßes Denken, sondern ein kraftvolles, leiblich-seelisches Aufsteigen.
»sich uns, den Geistern, gleich zu heben«: Das Ziel ist klar: Der Mensch (bzw. Faust) soll sich auf die Stufe der Geister erheben – der reinen, geistigen Wesen. Dies ist das Ideal des Übersinnlichen, des Transzendierens der menschlichen Begrenztheit. Fausts Drang, das Absolute zu erfahren, wird hier vom Geist gespiegelt – aber auch ironisch hinterfragt.
Diese letzte Zeile ist Herausforderung und Vorwurf zugleich: Wo ist der, der wirklich diesen Weg beschritten hat – ohne zu scheitern?
Zusammenfassend 491-493
Diese drei Verse bilden ein komprimiertes Urteil des Geistes über Fausts Unzulänglichkeit. Sie erinnern an das Ideal eines Menschen, der in sich eine Welt erschafft, sie liebt und pflegt, und sich durch diese innere Größe den Geistern angleicht.
Der Geist lobt nicht, sondern fragt – und verneint durch die Frage selbst: Faust ist nicht dieser Mensch. Er hat den Willen, aber nicht die Kraft.
Es ist ein Vorwurf der Hybris und zugleich ein Spiegel: Du willst erkennen, du willst »Gott gleich sein« – aber wo ist die innere Wahrheit, die dich dazu erhebt?
Diese Szene steht damit im Zentrum der Goetheschen Anthropologie: Der Mensch als mögliches gottähnliches Wesen, aber auch als zerrissenes, tragisch Begrenztes. In dieser Spannung wird Fausts Weg verlaufen – zwischen Streben und Scheitern, zwischen metaphysischer Sehnsucht und dämonischer Verführung.

Wo bist du, Faust? deß Stimme mir erklang,494
1. »Wo bist du, Faust?«
Der Geist beginnt mit einer direkten Anrede. Die Frage ist mehrdeutig: Sie ist einerseits wörtlich – der Geist »sieht« oder »spürt« Faust offenbar nicht mehr –, andererseits auch existentiell gemeint: Wo bist du in deinem Wesen, in deiner inneren Haltung, in deinem Mut?
Diese Frage stellt das zentrale Motiv des Scheiterns der Annäherung in den Mittelpunkt. Der Geist sucht nicht den physischen Ort Fausts, sondern fragt nach der geistigen Gegenwärtigkeit – nach der inneren Bereitschaft, das Erschienene auch zu ertragen.
2. »deß Stimme mir erklang,«
Der Relativsatz bezieht sich auf Faust, verwendet aber die veraltete Form »deß« statt »dessen«. Das hebt den Ausdruck ins Archaische und Feierliche, was zum übernatürlichen Ton des Geistes passt.
Die Stimme Fausts »erklang« dem Geist – also ist Fausts Ruf tatsächlich bis zur Sphäre des Geistes gedrungen. Das unterstreicht Fausts intensive Sehnsucht und seine ursprüngliche Kraft der Anrufung, fast wie ein Gebet oder ein metaphysischer Akt.
Zugleich klingt hier bereits der Vorwurf mit: Der Geist hat Faust gehört – aber wo ist er jetzt? Warum entzieht sich Faust, nachdem der Geist sich offenbart hat?

Der sich an mich mit allen Kräften drang?495
1. »Der sich an mich \[...] drang«
Auch dieser Relativsatz beschreibt Faust: er »drang« sich mit all seiner Kraft an den Geist – ein Bild gewaltsamer, beinahe erzwungener Kontaktaufnahme. »Drang« ist ein starkes Wort, fast wie »stürmen« oder »einbrechen«. Es beschreibt Faust als jemanden, der aktiv, fordernd, ja vermessen war.
2. »mit allen Kräften«
Diese Wendung hebt Fausts Sehnsucht, seine Gier nach Erkenntnis, nach Transzendenz hervor. Er setzte alles ein – nicht nur intellektuelle, sondern auch emotionale, vielleicht sogar spirituelle Kräfte. Faust ist hier nicht mehr der distanzierte Gelehrte, sondern ein Mensch am Rand seiner Selbst.
Zusammenfassend 494-495
Diese zwei Verse sind keine bloße Reaktion auf Fausts Anrufung, sondern eine Entlarvung seines Scheiterns. Der Geist fragt enttäuscht und kritisch: Wo ist derjenige, der mich so heftig wollte? Warum hält er die Erscheinung, die er selbst herbeizitiert hat, nicht aus?
Goethe inszeniert hier die Kluft zwischen Sehnsucht und Realität. Faust will das Übermenschliche, das Große – aber in dem Moment, in dem es ihm begegnet, erschrickt er. Das ist tragisch, denn es zeigt: Faust ist noch nicht bereit. Seine Seele ist zu unruhig, zu gespalten.
Der Geist spricht hier also nicht nur als Antwort, sondern auch als Spiegel: Er reflektiert Fausts eigene Zerrissenheit und entzieht sich, weil Faust (noch) nicht die Reife besitzt, ihm standzuhalten.

Bist Du es? der, von meinem Hauch umwittert,496
Der Erdgeist richtet sich mit dieser Frage direkt an Faust. Das »Du« meint den Menschen, der ihn durch Beschwörung heraufgezwungen hat. Die Formulierung ist nicht bestätigend, sondern prüfend – fast spöttisch.
»Von meinem Hauch umwittert« evoziert eine dichte, beinahe mystische Atmosphäre. Der »Hauch« steht nicht nur für Atem, sondern auch für das Wirken des Geists – seine Aura, Macht oder Energie. »Umwittert« deutet an, dass Faust in einen Bereich eingedrungen ist, der ihn einhüllt, ihm fremd ist und übermächtig. Schon hier klingt an, dass der Mensch sich in eine Sphäre begeben hat, der er nicht gewachsen ist.

In allen Lebenstiefen zittert,497
Dieser Vers setzt den Gedanken fort und offenbart, was der Hauch des Geists im Menschen bewirkt: Zittern – eine körperlich-seelische Reaktion auf etwas, das unermesslich, unheimlich oder erschütternd ist.
Die »Lebenstiefen« bezeichnen nicht nur äußere Schichten des Seins, sondern die innersten, geheimsten Dimensionen des Lebens. Der Erdgeist spricht damit nicht nur Faust, sondern den Menschen generell an: In der Tiefe seines Daseins, da wo Bewusstsein, Gefühl und Instinkt wurzeln, ist er erschüttert – nicht aus Stärke, sondern aus Angst. Es ist eine Totalerfassung: der ganze Mensch, durchdrungen von dieser übermenschlichen Macht.

Ein furchtsam weggekrümmter Wurm!498
Der Vers kulminiert in einer drastischen, ja grausamen Herabsetzung. Der Mensch, der zuvor glaubte, sich durch Magie zu erhöhen, wird nun auf das Bild eines »Wurms« reduziert – eines kriechenden, hilflosen Wesens, das sich bei Gefahr reflexhaft »wegkrümmt«.
»Furchtsam« unterstreicht die emotionale Reaktion: Angst ist die Grundhaltung des Menschen in Gegenwart des wahrhaftigen, lebendigen Geists.
Das Bild des Wurms hat lange Tradition in der Theologie und Literatur (z. B. Hiob 25,6: »der Mensch, ein Wurm«). Goethe greift diese Vorstellung auf, um die Kluft zwischen dem göttlich-dynamischen Erdgeist und dem begrenzten Menschen zu illustrieren.
Zusammenfassend 496-498
In diesen drei Versen wird Faust – und mit ihm der Mensch – auf radikale Weise entlarvt. Der Erdgeist spiegelt nicht, wie Faust erhofft hatte, seine Größe oder Streben wider, sondern offenbart seine Schwäche und Selbsttäuschung.
Goethe lässt so die Hybris des Menschen aufflammen und sofort verglühen: Der Wunsch, sich zum Göttlichen zu erheben, endet in der Demütigung durch das Übernatürliche selbst. Die Sprache des Erdgeists ist übermächtig, rhythmisch packend, bildgewaltig – sie bricht den Menschen in seiner Anmaßung.

Faust.
Soll ich dir, Flammenbildung, weichen?499
Dieser Vers ist eine rhetorische Frage, voller Erregung, Überwältigung und zugleich einem Rest von Trotz.
»Flammenbildung«: Das Bild des Geists ist flammend – es steht für Energie, Übermacht, das Unfassbare, vielleicht Göttliche. Die »Flammenbildung« ist nicht nur visuell, sondern symbolisch: Feuer als Urbild des Geists, aber auch der Läuterung, der Gefahr.
»weichen«: Das Verb suggeriert Rückzug, Unterwerfung, Kapitulation. Faust stellt die Frage, ob er sich vor dieser Erscheinung beugen müsse – ob er ihr intellektuell oder spirituell unterlegen sei.
Implizit steht hier auch Fausts Hybris im Raum: Er glaubt, Anspruch auf ein Gegenüber wie den Erdgeist erheben zu können.
Die Formulierung ist zugleich verzweifelt und trotzig. Faust ist überwältigt von der Erscheinung, aber will sich nicht geschlagen geben. Die Frage enthält also eine Spannung zwischen Faszination und Angst, zwischen Unterordnung und Behauptung.

Ich bin’s, bin Faust, bin deines gleichen!500
Der zweite Vers ist ein Ausruf der Selbstbehauptung. Faust spricht mit Nachdruck und in steigernder Intensität.
»Ich bin’s« – Das ist eine Selbstvergewisserung. Wer spricht hier? Es ist ein Ich, das sich inmitten einer metaphysischen Krise seiner selbst vergewissern will.
»bin Faust« – Faust nennt sich beim Namen – das ist mehr als nur Identifikation. Der Name »Faust« ist ein Symbol für den Menschen als Ganzes, als Fragender, als Grenzüberschreitender.
»bin deines gleichen« – Die entscheidende Behauptung. Faust erhebt den Anspruch, dem Erdgeist ebenbürtig zu sein. Das ist der Kern seiner Hybris: Er will Teil des »Geisterreichs« sein, sich in den kosmischen Kreislauf einschreiben.
Diese Selbstidentifikation ist allerdings tragisch überhöht. In Wahrheit ist Faust dem Erdgeist nicht gleich – wie sich kurz darauf zeigen wird, als der Geist ihn zurückweist:
> »Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!« (V. 512)
Fausts Ruf ist daher ein dramatischer Höhepunkt der Szene, in dem sich sein Streben, sein Übermut und seine existentielle Not verdichten. Die Repetition (»Ich bin’s, bin Faust…«) wirkt wie ein verzweifelter Zauberspruch, ein Versuch, die eigene Existenz auf metaphysischer Ebene durch Sprache zu befestigen.
Zusammenfassend 499-500
Diese beiden Verse markieren den Moment, in dem Faust seine menschliche Grenze überschreitet und zugleich an ihr zerschellt.
Er steht vor dem Geist, erkennt in ihm etwas Verwandtes – aber dieses Erkennen ist eine Selbsttäuschung. Die beiden Verse fassen sein inneres Drama zusammen: Er will mehr sein, als er ist, und doch bleibt er Mensch, gebunden an Zeit, Raum, Körper, Endlichkeit.
Es ist der Konflikt zwischen dem Faustischen Streben und der kosmischen Ordnung, den Goethe hier in komprimierter, leidenschaftlicher Sprache verdichtet.

Geist.
In Lebensfluthen, im Thatensturm501
»Lebensfluthen«: Der Begriff evoziert das Bild des Lebens als ein gewaltiger, unaufhaltsamer Strom. Die Pluralform (»Fluthen«) intensiviert den Eindruck der Bewegung, der Vielheit und der Unergründlichkeit. Es geht hier nicht um ein individuelles Leben, sondern um das Leben schlechthin – das organische, wogende, dynamische Prinzip.
Die Natur ist hier nicht statisch, sondern ein chaotischer, vitaler Strom.
»Thatensturm«: Der Sturm der Taten kontrastiert und ergänzt die Lebensfluten. Während die Fluten eher das passive Element (Natur, Gefühl, Schicksal) betonen, verweist der »Thatensturm« auf das aktive Prinzip – auf Handlungen, Willen, menschliches (oder übermenschliches) Eingreifen.
Zusammen bilden die beiden Bilder eine Polarität: Passivität und Aktivität, Gefühl und Tat, Natur und Geschichte.
Metrik und Klang: Der Vers ist im jambischen Rhythmus gehalten, was dem Ganzen eine schwingende, energetische Bewegung verleiht. Die Alliteration von »Thatensturm« und der Assonanzklang von »Lebensfluthen« verstärken den musikalischen Fluss und die Bildkraft.
Philosophischer Kontext: Hier klingen pantheistische oder idealistische Konzepte an – insbesondere aus der Naturphilosophie Schellings oder dem frühen deutschen Idealismus. Der Geist durchdringt das Ganze, ist nicht außerhalb, sondern im Strom von Leben und Tat.

Wall’ ich auf und ab,502
»Wall’ ich«: Das Verb »wallen« verweist auf ein sanftes, zugleich aber unablässiges Strömen oder Wandern. Es kann sowohl geisterhaftes Schweben als auch fließende Bewegung meinen. Die Form »wall’ ich« ist elliptisch und poetisch verkürzt, was dem Vers eine altertümlich-entrückte Klangfarbe verleiht.
»auf und ab«: Dieses einfache Gegensatzpaar bringt Bewegung in zwei Richtungen zum Ausdruck – vertikal gedacht symbolisiert es ein kosmisches Pendeln zwischen Himmel und Erde, Idee und Materie, Ordnung und Chaos.
Zugleich drückt es ein nie zur Ruhe kommendes Kreisen aus – keine lineare Bewegung, sondern eine ewige Wiederkehr oder eine zyklische Durchdringung der Gegensätze.
Bildhafte Deutung: Der Geist ist nicht ein Gott über den Dingen, sondern er durchwandert sie: auf und ab, durch alle Sphären. Er ist nicht still oder abgeschlossen, sondern dynamisch, in Bewegung, in allem lebendig. Das entspricht auch Goethes Konzept vom »immer strebenden Leben« (später im Faust II expliziter ausgearbeitet).
Rhetorik und Wirkung: Die Kürze und Schlichtheit dieses Verses nach dem komplexeren ersten wirkt wie ein Ausruhen auf der Bewegung selbst. Er bringt das Bildhafte auf den Punkt – in der Kürze liegt die Kraft der Aussage: der Geist ist Bewegung. Sein Wesen ist Prozess.
Zusammenfassend 501-502
Diese Verse sind Teil eines größeren Monologs, in dem der »Geist« Faust gegenübertritt und seine eigene Existenz beschreibt. Der Geist ist kein Dämon oder Engel im konventionellen Sinn, sondern vielmehr ein Symbol des kosmischen, schöpferischen Prinzips, ein »Geist der Zeiten«, der über der Welt schwebt und sie durchdringt. Eine Vers-für-Vers-Analyse folgt.
Die beiden Verse öffnen einen Zugang zu Goethes umfassendem Naturverständnis und zur spirituellen Tiefe seines Weltbildes. Der »Geist« spricht hier als Manifestation einer schöpferischen Kraft, die sich nicht außerhalb, sondern im Inneren der Natur und der Geschichte bewegt – unablässig, widerspruchsvoll, lebendig. »Lebensfluthen« und »Thatensturm« bilden dabei eine dialektische Einheit, während das »Wallen auf und ab« ihre ständige Bewegung und ihr nie ruhendes Prinzip zeigt.

Webe hin und her!503
Dieser Imperativ richtet sich an den Erdgeist selbst. Faust spricht ihn allerdings nicht aus eigenem Willen, sondern es ist der Geist, der hier spricht – nachdem er erschienen ist. Die Aufforderung ist also eine Selbstaussage des Geistes, ein performativer Sprechakt: Der Geist beschreibt und zugleich vollzieht er sein Wirken.
»Webe« ist ein zentrales Bild des gesamten Faust-Dramas und erinnert an das mythische Motiv der Schicksalsweberinnen (Moiren/Nornen), die das Leben der Menschen spinnen. Weben ist eine Handlung, die Ordnung schafft, Fäden verbindet, das Einzelne in ein größeres Ganzes integriert – also ein Bild für kosmische Strukturierung, aber auch für die Kreisläufe der Natur.
»hin und her« bezeichnet eine Bewegung in beide Richtungen: rhythmisch, zyklisch, unaufhörlich. Es evoziert die Vorstellung des Pendels, des Weberschiffchens, aber auch der Zeit selbst. Dieses Bild suggeriert Dynamik, Gegensätzlichkeit und Nichtverweilen.
Der Geist verkörpert die Prinzipien des Werdens und Vergehens, des ewigen Prozesses. Mit »webe hin und her« charakterisiert er sich als eine Kraft, die nicht statisch ist, sondern immanente Bewegung verkörpert – ein zentraler Gegensatz zur Fausts Wunsch nach Fixierung des Augenblicks (»Verweile doch, du bist so schön!«).

Geburt und Grab504
Diese beiden Substantive stehen als Metaphern für die extremen Pole der menschlichen Existenz. Die Alliteration (G–G) verstärkt den Eindruck der Verbundenheit und Gleichzeitigkeit dieser Gegensätze.
»Geburt« ist der Beginn des Lebens, die Entstehung, der Eintritt in die Welt. Sie steht für Hoffnung, Neubeginn, Möglichkeit.
»Grab« hingegen ist das Ende, das Verschwinden aus der Welt, das unausweichliche Ziel alles Lebendigen. Es symbolisiert Vergänglichkeit, aber auch Rückkehr zur Erde – was wiederum auf den Erdgeist verweist.
Durch die Verbindung mit dem vorherigen Vers ergibt sich ein Bewegungsmuster: Der Geist webt zwischen Geburt und Grab – also zwischen Anfang und Ende, Leben und Tod. Das bedeutet:
Der Geist durchzieht die gesamte Seinsordnung.
Er ist nicht gebunden an individuelle Existenzen, sondern wirkt im Ganzen.
Geburt und Grab sind keine absoluten Gegensätze, sondern Glieder in einem fortwährenden Kreislauf.
Der Geist ist somit nicht transzendent, sondern immanent, in der Welt wirkend. Das unterscheidet ihn radikal von einem metaphysischen Gott: Er ist Naturkraft, Weltkraft, ein Prinzip der konkreten Realität, des Werdens, nicht des Seienden.
Zusammenfassend 503-504
Diese zwei Verse fassen das Selbstverständnis des Erdgeistes prägnant zusammen:
Er wirkt in den Polaritäten und Verflechtungen der Welt – zwischen Anfang und Ende, Leben und Tod.
Sein »Weben« symbolisiert den Weltprozess, der keine Ruhe kennt und alles umfasst.
Geburt und Grab sind keine Gegensätze im christlichen Sinn (Erlösung – Verdammnis), sondern Verwandlungsstufen.
In der Dramaturgie des »Faust« ist das eine klare Abgrenzung vom christlichen Weltbild. Der Erdgeist verweigert Faust ja später die Einverleibung in sein eigenes Wesen, weil Faust nicht fähig ist, diesen Prozess zu ertragen. Die Verse 503–504 markieren damit eine Art metaphysischer Schwelle: Sie eröffnen eine Weltsicht, die den Menschen nicht als Mittelpunkt, sondern als Teil eines großen Ganzen versteht – ein radikaler Bruch mit anthropozentrischem Denken.

Ein ewiges Meer505
Der Erdgeist beginnt mit einem Bild kosmischer Dimension: das »ewige Meer«.
Dieses Bild evoziert den Eindruck des Unendlichen, des Grenzenlosen und zugleich des Unfassbaren. Das Meer ist in vielen poetischen Traditionen ein Symbol für das Urchaos, den Ursprung allen Seins, aber auch für Bewegung, Tiefe, das Unbewusste und das Göttliche. Indem es als »ewig« bezeichnet wird, entzieht es sich der Zeit – der Erdgeist spricht nicht von etwas Vergänglichem, sondern von einem Zustand, der ursprünglich und fortwährend ist.
Faust hatte zuvor nach einem Geist verlangt, der das Universum durchdringt – der Erdgeist antwortet mit einem Bild, das diesen kosmischen Anspruch erfüllt: Das Meer als Metapher für das pulsierende Sein.
Gleichzeitig ist der Begriff »Meer« in der romantisch-klassischen Naturphilosophie (z. B. bei Herder oder Schelling) oft Träger einer pantheistischen Vorstellung: alles Leben als Teil eines allumfassenden, göttlich durchdrungenen Stromes.

Ein wechselnd Weben506
Der zweite Vers führt Bewegung ein: Das »Weben« ist ein Bild für dynamische Vernetzung, Verflechtung, für das ständige Entstehen und Vergehen, für die kreative Kraft der Natur. Es knüpft an die Idee des Schöpfungsvorgangs an – nicht statisch, sondern prozessorientiert, im ständigen Wandel begriffen.
Das Adjektiv »wechselnd« betont die Unstetigkeit, das Fluktuierende, das keinem Schema fest gehorcht. Hier schwingt das Goethesche Naturverständnis mit: die Welt als ein lebendiger Organismus, in stetiger Umwandlung, dem Gesetz der Polarität und Steigerung (Goethes Begrifflichkeit) unterworfen.
Es erinnert zugleich an mythologische Bilder: Die Nornen oder Moiren, die das Schicksalsgewebe spinnen, tauchen ebenso auf wie die Idee des »Weltgewebes« aus der Mystik und frühneuzeitlichen Hermetik.

Ein glühend Leben507
Der dritte Vers steigert die vorhergehenden beiden: Vom unendlichen Meer (passive Tiefe), über das bewegte Weben (aktive Ordnung) hin zum »glühenden Leben« – eine Metapher der Intensität, der inneren Hitze, des feurigen, schöpferischen Impulses.
»Glühend« bedeutet hier mehr als bloße Hitze – es ist Leidenschaft, innere Kraft, das Feuer des Seins selbst. In alchemistischen wie mystischen Traditionen gilt das Feuer als transformierende Kraft – ein Symbol für Geist, Energie, Vergeistigung und Lebenskraft.
Goethe lässt den Erdgeist hier nicht als abstraktes Prinzip auftreten, sondern als lebendigen Puls des Kosmos – ein Prinzip, das zugleich schöpft, durchwirkt und erfüllt. Das Leben ist dabei nicht bloß »vorhanden«, sondern »glühend« – mit einer Qualität des Übermaßes, der Ekstase, des Brennens.
Zusammenfassend 505-507
Diese drei Verse zeichnen ein komprimiertes Weltbild des Erdgeists:
Das ewige Meer steht für das ungeformte, grenzenlose, universale Sein.
Das wechselnde Weben verweist auf die formende Dynamik der Natur.
Das glühende Leben schließlich symbolisiert den Höhepunkt der Daseinsintensität, das kreative Feuer, das allem innewohnt.
Goethe schichtet hier eine kosmische Vision, in der Elemente der Naturphilosophie, Mystik und Antike in dichter Bildsprache zusammentreffen. Für Faust wird dadurch deutlich: Der Erdgeist ist nicht bloß ein »Diener« der Magie, sondern die lebendige Totalität des Werdens, der er sich nicht gewachsen zeigt – was sich wenige Verse später tragisch offenbart.

So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit,508
Dieser Vers beginnt mit »So«, das auf die vorherigen Zeilen verweist und einen Zusammenhang mit der Offenbarung des Geistes herstellt. Der Geist erklärt hier sein Wirken.
»schaff’ ich«: Das Verb »schaffen« bedeutet hier nicht nur »etwas herstellen«, sondern trägt die Konnotation göttlicher oder kosmischer Wirksamkeit. Es erinnert an den biblischen Schöpfungsakt (»Im Anfang schuf…«). Der Geist ist schöpferisch tätig, aber nicht im statischen Sinne, sondern im Prozessualen.
»am sausenden Webstuhl der Zeit«: Dieses Bild ist zentral. Der Webstuhl ist ein uraltes Symbol für das Schicksal und die Weltordnung – in der Antike weben etwa die Moiren das Lebensgewebe der Menschen. Goethe greift diese Tradition auf, gibt ihr aber eine dynamische Wendung: Der Webstuhl »saust«. Zeit wird hier nicht als ruhig fließend dargestellt, sondern als mit Geschwindigkeit, Energie, vielleicht sogar als gefährlich oder unaufhaltsam.
Der Geist wirkt also in einem hochbewegten, lebendigen, zeitlich verankerten System – die Zeit selbst ist der Rahmen, in dem er »schafft«.

Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.509
»wirke«: Wieder ein Schöpfungsverb, diesmal spezifischer auf das Weben bezogen. »Wirken« hat im älteren Deutsch auch die Bedeutung von »weben« (vgl. noch »Wirkerei« für Textilherstellung). Der Geist ist also ein »Weber« kosmischen Ausmaßes.
»der Gottheit«: Das Gewebe, das er herstellt, gehört nicht einem bestimmten Gott, sondern der »Gottheit« – ein abstrakter, überpersonaler Begriff. Das entspricht Goethes pantheistischer Tendenz, Gott nicht als personalen Schöpfer zu sehen, sondern als in der Welt selbst wirkend, als lebendige Kraft.
»lebendiges Kleid«: Die Welt, die Zeit, das Universum – all das ist nicht nur eine Hülle oder ein Mechanismus, sondern ein lebendiges Kleid der Gottheit. Es umhüllt nicht nur, sondern ist selbst durchwirkt von Leben, Bewegung, Geistigkeit.
Das Bild erinnert an pantheistische oder auch mystische Auffassungen: Gott ist nicht außerhalb der Welt, sondern zeigt sich in ihr. Die Natur ist sein »Kleid«, durch das seine Gegenwart hindurchscheint. Goethe ist hier Spinoza und auch der romantischen Naturphilosophie verwandt: Die Welt ist sichtbarer Ausdruck des Unsichtbaren.
Zusammenfassend 508-509
In diesen beiden Versen schildert der Geist nicht nur sein eigenes Wesen, sondern zugleich ein zentrales Weltbild Goethes. Der Geist ist kein Dämon, kein persönlicher Genius, sondern eine kosmische Kraft, die durch die Zeit hindurch das göttliche Gewebe der Welt hervorbringt. Die Metaphern von Webstuhl, Zeit und lebendigem Kleid verknüpfen Vergänglichkeit und Ewigkeit, Bewegung und Dauer, Natur und Geist.
Der Kontrast zur Stimmung Fausts könnte kaum größer sein: Während Faust von Erkenntnishunger, Zweifel und existenzieller Unruhe geplagt ist, spricht der Geist von einem durchwirkt sinnvollen, schöpferisch belebten Weltzusammenhang – aber gerade diese Erhabenheit ist es, die Faust nicht ertragen kann.

Faust.
Der du die weite Welt umschweifst,510
Dieser Vers ist als Apostrophe an den »Geist der Erde« gerichtet, den Faust kurz zuvor beschworen hat (vgl. V. 482ff.). Das Personalpronomen »du« zeigt, dass Faust sich direkt an dieses metaphysische Wesen wendet, das er sich als real und gegenwärtig denkt. Die Formulierung »die weite Welt umschweifst« evoziert ein machtvolles, rastloses Wesen – ein kosmischer Geist, der nicht an Raum oder Ort gebunden ist, sondern sich dynamisch durch das All bewegt. Das Verb »umschweifen« deutet auf Umtriebigkeit und eine Art schöpferischer Tätigkeit hin – nicht ziellos, sondern welterfassend, fast omnipräsent. Hier wird bereits eine wesentliche Differenz zu Fausts eigener, irdischer Beschränktheit spürbar, zugleich aber auch seine Sehnsucht nach Teilhabe an dieser Bewegung. Er adressiert nicht mehr Gott oder das »Buch«, sondern eine immanente geistige Kraft.

Geschäftiger Geist, wie nah fühl’ ich mich dir!511
Die Anrede »Geschäftiger Geist« ist doppeldeutig: Einerseits hebt sie die Aktivität und Allgegenwärtigkeit des Geistes hervor, andererseits kann das Attribut »geschäftig« auch eine gewisse Profanität oder Rastlosigkeit tragen. Es steht in auffälligem Kontrast zur kontemplativen Gelehrtenexistenz Fausts. Der Ausruf »wie nah fühl’ ich mich dir!« offenbart eine tiefe emotionale Regung: Es handelt sich um eine innere Annäherung, nicht um eine reale Verbindung. Der Konjunktiv fehlt: Faust fühlt sich nah, nicht dass er wäre es. In dieser gefühlten Nähe schwingt Hoffnung, vielleicht ein illusionärer Moment der Verschmelzung mit dem transzendenten Prinzip. Es ist der Höhepunkt einer kurzen Ekstase, die unmittelbar danach durch den tatsächlichen Auftritt des Geistes relativiert und gebrochen wird – denn der Geist wird Faust gegenüber unnachgiebig ablehnend auftreten (V. 513ff.).
Zusammenfassend 510-511
Diese zwei Verse markieren den Übergang von der intellektuellen, fast sterilen Welt der Bücher zur imaginierten Welt des unmittelbaren, schöpferischen Geistes. Faust sieht sich nicht mehr als bloßer Leser, sondern als potenzieller Teilhaber am kosmischen Ganzen. Doch zugleich kündigt sich bereits die Tragik an: Die Nähe, die Faust empfindet, ist subjektiv und trügerisch – sie wird durch den Geist selbst sogleich dementiert. Dieses Moment vor der Desillusionierung ist entscheidend: Faust glaubt, am Ziel seiner Suche nach umfassender Erkenntnis zu sein, doch das wird sich als Illusion erweisen. Der dramatische Verlauf ist daher von hoher dialektischer Spannung durchzogen: Nähe und Fremdheit, Aufstieg und Ernüchterung, Sehnsucht und Scheitern greifen ineinander.

Geist.
Du gleichst dem Geist, den du begreifst512
Hier verwendet der Erdgeist die Begriffe »gleichen« und »begreifen« in einer fast antithetischen Spannung.
»Du gleichst« suggeriert eine Art Verwandtschaft oder Ähnlichkeit. Doch diese wird sofort relativiert: Nur was der Mensch begreifen kann – also was seinem Erkenntnisvermögen entspricht – kann er sich auch ähnlich denken.
»den du begreifst« verweist somit nicht auf das, was der Geist ist, sondern auf das, was Faust in seinem begrenzten menschlichen Verstand versteht. Das Wort »begreifen« impliziert bei Goethe weit mehr als nur intellektuelles Verstehen – es meint ein existenzielles Durchdringen, eine Art geistiger Aneignung.
Die Implikation ist: Faust hat nicht den Erdgeist selbst begriffen, sondern einen projizierten, kleineren Geist, der seinem Denken entspricht – ein »Spiegelbild« seines eigenen Bewusstseins, nicht die unermessliche Wirklichkeit des Geistes.

Nicht mir!513
Diese lakonische, scharfe Abweisung entfaltet ihre Wirkung gerade durch ihre Kürze.
Das »Nicht« fungiert hier als absolutes Urteil.
Das »mir« verweist auf den eigentlichen, wahren Geist, der hier spricht – den Erdgeist als Ausdruck der lebendigen, schöpferischen Naturmacht.
Indem er sagt »Nicht mir!«, lehnt der Geist Fausts vermeintliche Annäherung kategorisch ab. Faust, der sich für ebenbürtig hält – »Du, Geist der Erde, bist mir näher« (vgl. V. 501) – wird nun zurückgewiesen. Das ist der entscheidende Wendepunkt: Fausts hybride Selbstüberschätzung wird demaskiert.
Zusammenfassend 512-513
Die Szene spiegelt einen zentralen Aspekt des faustischen Dilemmas:
Faust sehnt sich nach einer existentiellen Verbindung mit dem Urgrund des Seins, nach dem »was die Welt im Innersten zusammenhält« (V. 382). Doch der Erdgeist macht ihm klar:
Er kann nur das erfassen, was innerhalb seiner anthropozentrischen Grenzen liegt. Faust strebt nach dem Absoluten, bleibt aber ein endliches Wesen.
Diese zwei Verse bilden damit eine radikale Zurückweisung des Menschen, der glaubt, das Ganze zu erfassen. Es ist ein Moment der Ent-Täuschung: Nicht der Geist passt sich dem Menschen an – der Mensch scheitert am Geist, den er meint zu verstehen.

Verschwindet.

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