Der Tragödie Erster Theil
Nacht. (1)
In einem hochgewölbten, engen, gothischen Zimmer Faust unruhig auf seinem Sessel am Pulte.
Faust.
Habe nun, ach! Philosophie,354
Der Vers beginnt mit einem Rückblick: »Habe nun«. Faust resümiert sein bisheriges Leben, und gleich im ersten Atemzug tritt ein tiefes Seufzen hinzu: »ach!« Dieses Interjektionswort unterbricht die nüchterne Feststellung und bringt eine Mischung aus Erschöpfung, Enttäuschung und Resignation zum Ausdruck.
Die »Philosophie« steht an erster Stelle der aufgezählten Disziplinen – sie ist traditionell die »Königin der Wissenschaften«, die nach dem umfassenden Sinn des Daseins fragt. Doch das »ach!« lässt erkennen: Faust hat in ihr nicht das gefunden, was er suchte.
Juristerey und Medicin,355
Die Aufzählung setzt sich mit der »Juristerey« (Rechtswissenschaft) und »Medicin« (Medizin) fort. Beide Wissenschaften betreffen das soziale und das leibliche Leben: die Juristerei regelt das menschliche Zusammenleben, die Medizin das körperliche Wohl.
Die Anordnung wirkt nicht zufällig: Nach der Philosophie, die die Wahrheit und das Ganze sucht, wendet sich Faust konkreteren, »praktischen« Wissenschaften zu. Sie sollten ihm ermöglichen, in der Welt wirksam zu sein – aber auch hier scheint er gescheitert zu sein, wie das »ach!« zuvor schon andeutete.
Auffällig ist die altertümliche Schreibweise »Juristerey«, die den barocken Bildungsweg beschwört – ein Mann, der das ganze Curriculum eines Gelehrten durchlaufen hat.
Und leider auch Theologie!356
Das »und leider« wirkt fast ironisch, ja sarkastisch. Es verweist auf eine besondere Enttäuschung oder gar Frustration mit der Theologie – also mit der Lehre von Gott.
Die Theologie wäre eigentlich die Krone der Erkenntnis, das spirituelle Ziel philosophischer Suche. Doch hier steht sie am Ende der Liste – und wird mit Bedauern erwähnt.
Das Ausrufezeichen unterstreicht die emotionale Wucht dieser Enttäuschung. Faust hat versucht, Gott und das Transzendente mit dem Verstand zu fassen – vergeblich. Der Ausruf bringt sein Missverhältnis zum Glauben auf den Punkt: Die Theologie, statt Trost oder Sinn zu spenden, hat ihn möglicherweise nur noch weiter in die Sinnkrise geführt.
Durchaus studirt, mit heißem Bemühn.357
Die abschließende Zeile dieser Passage fasst das bisher Gesagte zusammen: Faust hat all diese Wissenschaften »durchaus«, also vollständig, intensiv studiert – und das »mit heißem Bemühn«.
Der Ausdruck ist doppeldeutig: »heiß« bedeutet hier leidenschaftlich, aber auch verzweifelt, fiebrig, fast krankhaft. Es spricht ein Mensch, der sich mit voller Energie der Erkenntnissuche hingegeben hat – und dennoch leer geblieben ist.
Die Kombination aus adverbialer Betonung (»durchaus«) und emotional aufgeladener Motivation (»heißem Bemühn«) unterstreicht die Tragik Fausts: Er ist kein fauler Büchergelehrter, sondern ein ernsthaft Suchender, der dennoch an den Grenzen menschlicher Erkenntnis scheitert.
Zusammenfassend 354-357
Diese vier Verse eröffnen Fausts innere Klage über den Mangel an Wahrheit, Erkenntnis und Lebenssinn trotz einer umfassenden akademischen Bildung. Die rhetorische Struktur (Aufzählung, Interjektion, Ironie, Pathos) spiegelt seine Zerrissenheit zwischen Vernunft, Glaube und Erfahrung. Was folgt, ist sein Entschluss, einen radikaleren Weg zur Wahrheit zu suchen – selbst wenn dies bedeutet, sich mit dunklen Kräften einzulassen.
Da steh’ ich nun, ich armer Thor!358
»Da steh’ ich nun«: Die Wendung ist schlicht, beinahe alltäglich, hat aber in ihrem Pathos eine doppelte Bedeutung. Einerseits bezeichnet sie den physischen Zustand: Faust steht in seinem Studierzimmer. Andererseits verweist sie auf einen existenziellen Stillstand: Trotz all seiner Anstrengungen steht er da, ohne inneren Fortschritt.
»ich armer Thor«: Die Selbstbezeichnung als »Thor« (altertümlich für »Narr«, »Dummkopf«) ist dramatisch. Faust erkennt sich als betrogen in seiner Hoffnung, durch das Studium zur Wahrheit vorzudringen. Das Wort »arm« verstärkt die Selbstabwertung, bringt zugleich eine emotionale Tiefe ins Spiel – nicht nur intellektuelles Scheitern, sondern existenzielle Verlassenheit.
In der Gesamtwirkung konvergieren Selbstanklage, Enttäuschung und ein Anflug von Selbstmitleid. Der große Gelehrte erkennt seine Ohnmacht.
Und bin so klug als wie zuvor;359
Der zweite Vers vertieft die vorherige Feststellung und bringt die tragische Pointe.
»Und bin«: Die Konjunktion »und« verbindet logisch und emotional mit dem Vorhergehenden. Sie zeigt: Das körperliche und geistige »Stehen« hat zur Stagnation geführt.
»so klug als wie zuvor«: Diese Formulierung, heute ungebräuchlich (doppelte Vergleichspartikel »als wie«), war im 18. Jahrhundert zwar umgangssprachlich, aber hier bewusst gewählt. Sie betont auf lakonische Weise die Wirkungslosigkeit all seines Wissens. »Klug« meint nicht bloß intellektuelle Bildung, sondern tiefere Erkenntnis – jene, die Faust durch Philosophie, Jura, Medizin und Theologie vergeblich zu erlangen suchte.
Der Vers bringt eine ernüchternde Bilanz auf den Punkt: Trotz lebenslangen Studiums ist Faust keinen Schritt weiter. Die scheinbare Klugheit entpuppt sich als bloße Illusion.
Zusammenfassend 358-359
Diese beiden Verse markieren einen zentralen Wendepunkt: Die Erkenntnis der Grenzen menschlicher Wissenschaft und der Beginn der inneren Krise, die schließlich zum Pakt mit Mephistopheles führen wird.
Rhetorisch arbeiten die Verse mit Kontrast, Ironie und Selbstentblößung. Die Aussage »so klug als wie zuvor« ist auf paradoxe Weise schneidend – sie verdichtet Fausts intellektuelle Hybris und seine existenzielle Leere in einer einfachen Aussage.
So entfaltet sich hier bereits die Tragik des modernen Menschen: das Streben nach totalem Wissen, das in Selbstzweifel umschlägt, wenn das »Warum?« unbeantwortet bleibt.
Heiße Magister, heiße Doctor gar,360
Schon im ersten Vers offenbart sich Fausts Verbitterung über seine akademischen Titel. Das zweimalige »heiße« unterstreicht zwar seine formale Qualifikation – als Magister (Lehrbefugnis) und Doctor (höchster akademischer Grad) –, aber eben nur im Modus der Benennung: Er »heißt« so, doch fühlt sich nicht entsprechend erfüllt. Die ironische Distanz zwischen dem Titel und dem eigentlichen Sein wird hier eingeführt: Es ist ein bloßer Name, der keine innere Erfüllung bringt. Die Reihung von Magister und Doctor unterstreicht zugleich die bürgerliche Karriere, die Faust vollständig durchlaufen hat – und die ihm dennoch keinen Sinn vermittelt.
Und ziehe schon an die zehen Jahr,361
Faust blickt zurück: Seit »zehen Jahr« – also seit einem Jahrzehnt – wirkt er als Gelehrter. Die Zeitspanne wirkt zugleich lang und leer. Das »ziehe« impliziert eine gewisse Zähigkeit, vielleicht sogar Mühsal: Er zieht diese Tätigkeit durch, ohne wirkliche Begeisterung, eher mit einem Gefühl von Trägheit und Enttäuschung. Das »an« betont dabei den quälenden Charakter dieser Zeit: Es ist kein fließendes Erleben, sondern ein mühsames »Hinschleppen«. Faust hat über Jahre hinweg seine Rolle erfüllt, ohne darin Erfüllung zu finden.
Herauf, herab und quer und krumm,362
Diese Aufzählung ist rhythmisch dynamisch und assoziativ räumlich – sie suggeriert Bewegung, Umtriebigkeit, Vielfalt. Aber die Bewegung ist chaotisch, richtungslos. Die Worte »herauf, herab« könnten symbolisch für das Auf und Ab des intellektuellen Ringens stehen, das letztlich zu nichts führt. »Quer und krumm« verstärken dieses Bild: Die Wege sind nicht nur vielfältig, sondern auch verschlungen und ungerade. Es gibt keine klare Linie, keinen Fortschritt. Das Bild wirkt fast grotesk: ein Gelehrter, der sich wie in einem Labyrinth aus Denkfiguren bewegt – doch ohne Ziel.
Meine Schüler an der Nase herum –363
Der Vers endet in einer scharfen Selbstanklage: Faust gibt zu, dass er seine Schüler – und damit letztlich auch sich selbst – »an der Nase herumgeführt« hat. Das ist eine Wendung, die im Deutschen eine klare Konnotation des Betrugs und der Manipulation trägt. Er erkennt, dass sein Lehren nicht von Wahrheit durchdrungen ist, sondern eher einem Spiel gleicht, einem täuschenden Umgang mit Wissen. Die unvollständige Syntax des Verses (er endet mit einem Gedankenstrich) suggeriert zudem eine Unterbrechung, einen Bruch im Redefluss – als könne Faust selbst nicht mehr weitersprechen, als stocke er angesichts der bitteren Erkenntnis.
Zusammenfassend 360-363
Diese vier Verse verdichten Fausts existentielle Krise. Die Titel »Magister« und »Doctor« stehen als leere Hüllen für eine Bildung, die ihm weder Wahrheit noch Lebendigkeit gebracht hat. Die zehn Jahre akademischen Lehrens erscheinen ihm als verlorene Zeit. Die ziellose Bewegung (»herauf, herab...«) lässt das Wissen selbst fragwürdig erscheinen, und die Einsicht in seine Rolle als Täuscher stürzt Faust endgültig in Selbstverachtung. Die Verse stehen damit exemplarisch für das Scheitern der Aufklärung am inneren Erleben eines Menschen, der nach Ganzheit und Sinn strebt – aber im Formalismus der Wissenschaft keine Erfüllung findet.
Und sehe, daß wir nichts wissen können!364
Dieser Ausruf stellt eine radikale Infragestellung aller erkenntnistheoretischen Bemühungen dar. Das Verb »sehe« verweist auf eine Art inneres Erkennen – eine Erkenntnis, die nicht mehr nur intellektuell oder theoretisch, sondern existenziell erfahren ist. Es ist kein bloßes Wissen mehr, sondern ein Sehen, das einer Epiphanie ähnelt: Faust sieht die Wahrheit – und diese Wahrheit ist negativ. Sie besteht in der Einsicht, dass das Streben nach Wissen letztlich zum Nichts führt: »daß wir nichts wissen können«.
Die Konstruktion mit dem Modalverb »können« hebt hervor, dass es hier nicht nur um aktuelles Wissen, sondern um prinzipielle Erkenntnisfähigkeit geht. Faust zweifelt nicht daran, dass er noch nicht genug weiß – sondern daran, dass es dem Menschen grundsätzlich unmöglich ist, wahres Wissen zu erlangen. Damit greift Goethe eine zentrale Frage der Philosophie auf: Sind die Grenzen der menschlichen Erkenntnis unüberwindbar? Fausts Satz erinnert in seiner Radikalität an die Skepsis David Humes oder an die Kantische Kritik der reinen Vernunft – nur dass Faust nicht kühl-philosophisch argumentiert, sondern existenziell erschüttert ist.
Das will mir schier das Herz verbrennen.365
Dieser Vers bringt das emotionale Echo der vorangegangenen Erkenntnis zum Ausdruck. Es handelt sich nicht um eine nüchterne, resignative Feststellung, sondern um einen inneren Schmerz, eine leidenschaftliche Reaktion. Die Wendung »das will mir schier das Herz verbrennen« verbindet bildhaft-intensiv die Sphäre des Denkens mit der des Fühlens. Der Zweifel an der Erkenntnisfähigkeit ist kein bloßes theoretisches Problem – es geht Faust buchstäblich »ans Herz«.
»Will mir ... verbrennen« beschreibt ein beinahe unausweichliches inneres Geschehen. Das Verb »will« wird hier nicht im Sinne von Wollen, sondern als Ausdruck einer Notwendigkeit oder inneren Dringlichkeit gebraucht: die Erkenntnis drängt sich ihm so stark auf, dass sie seine Seele, sein innerstes Empfinden »verbrennen« will. Die Metapher des Brennens steht für Qual, Leidenschaft, Zerstörung – aber vielleicht auch für Läuterung. Das Herz, als Sitz des Gefühls, der Lebenskraft und in mystischer Tradition auch des göttlichen Funkens, wird von dieser Einsicht verzehrt.
In dieser Reaktion zeigt sich, wie sehr Faust seine Hoffnung auf Erkenntnis, auf Sinn und Wahrheit gesetzt hatte. Dass dieses Streben nun als illusorisch erscheint, ist für ihn nicht nur eine intellektuelle Enttäuschung, sondern ein seelisches Zerbrechen. Es ist der emotionale Tiefpunkt, der den Weg für seinen Pakt mit Mephisto vorbereitet – ein verzweifeltes Ausbrechen aus der Begrenztheit menschlicher Existenz.
Zusammenfassend 364-365
Diese zwei Verse komprimieren ein ganzes geistiges Drama. Goethe lässt Faust hier an die Grenze des Denkens stoßen, wo Erkenntnis in Schmerz umschlägt. Aus dem Streben nach absolutem Wissen wird eine existenzielle Krise. Das Pathos dieser Verse – besonders das Bild des »Herzverbrennens« – zeigt, dass für Faust Erkenntnis nicht abstrakt ist, sondern mit dem ganzen Wesen errungen (und verloren) wird. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Denken und Empfinden, zwischen Wissen und Sein, zwischen Sehnsucht und Grenze, durchzieht das gesamte Drama und macht Faust zur Symbolfigur des modernen Menschen.
Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen,366
Inhaltlich: Faust beginnt mit einem selbstbewussten, ja fast arroganten Gestus: Er hält sich für klüger (»gescheiter«) als alle anderen, die sich im akademischen oder religiösen Betrieb befinden. Die abwertende Bezeichnung »Laffen« ist entscheidend: Es handelt sich um ein Schimpfwort, das dumme Schwätzer oder eitle Gecken meint – also Menschen, die vielleicht viel reden oder formal gebildet sind, aber keine wirkliche Tiefe besitzen. Das Wort trägt auch eine gewisse Geringschätzung gegenüber bloß äußerlicher Bildung und gesellschaftlichem Status.
Rhetorik & Stil: Das »Zwar« signalisiert einen concessiven Einstieg – Faust gibt etwas zu, aber es wird sofort eine Spannung angekündigt: Er gesteht sich Überlegenheit zu, doch das »zwar« deutet auf ein »aber« hin. Diese Struktur zieht sich durch den gesamten Monolog: zwischen Wissen und Unwissen, Macht und Ohnmacht, Hochmut und Verzweiflung.
Ton & Haltung: Faust wirkt im ersten Moment stolz, doch schon durch die konzedierende Struktur wird deutlich, dass dieser Stolz keine Erfüllung bringt. Der Vers ist eine Art Selbstvergewisserung, aber ohne Befriedigung. Es ist eine Klage über den Wert intellektueller Überlegenheit ohne existentielle Erkenntnis.
Doctoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;367
Inhaltlich: Hier folgt die Liste derer, über die Faust sich erhoben glaubt. Es handelt sich um die vier traditionellen Repräsentanten von Wissen und Autorität in der frühneuzeitlichen Gesellschaft:
Doctoren – die Gelehrten mit höchstem akademischen Rang
Magister – Lehrer oder niedrigere Akademiker, symbolisch für das Bildungswesen
Schreiber – Verwaltungsbeamte, Sinnbild für bürokratische Ordnung und kleingeistige Pedanterie
Pfaffen – Priester, Symbol der kirchlichen Autorität und religiösen Dogmatik (das Wort ist bereits bei Luther negativ konnotiert)
Faust grenzt sich von diesen Institutionen bewusst ab – er will mehr als bloßes Buchwissen, bürokratische Ordnung oder dogmatische Religion. Es geht ihm um tiefere, existenzielle Wahrheit, um eine innere Erkenntnis, die nicht durch akademische Titel oder kirchliche Weihen vermittelt wird.
Form & Klang: Die Aufzählung hat einen bewusst abwertenden Klang – sie kulminiert in »Pfaffen«, was besonders polemisch wirkt. Der Klang ist trocken und schneidend; das Versmaß (Knittelvers) unterstützt den forcierten, nachdrücklichen Ton.
Philosophisch: Fausts Kritik ist Ausdruck eines tieferliegenden Problems: das Scheitern der traditionellen Wissenschaft und Theologie, den Menschen wirklich zu erfüllen. Der Vers verweist auf das zentrale Thema des gesamten Werkes: das Spannungsverhältnis zwischen rationalem Wissen und metaphysischem Verlangen, zwischen äußerer Erkenntnis und innerer Wahrheit.
Zusammenfassend 366-367
Mich plagen keine Scrupel noch Zweifel,368
»Mich plagen« – Das Verb plagen deutet ursprünglich auf einen inneren Schmerz oder ein bedrückendes Gefühl. Der Begriff suggeriert eine innere Bedrängnis, die der Sprecher jedoch hier negiert. Die Negation des Geplagtseins ist bedeutsam: Faust stellt nicht nur fest, dass er keine Skrupel hat, sondern betont ausdrücklich, dass er frei von jeglichem inneren Konflikt sei. Dies ist ein emphatischer Gestus der Selbstversicherung – oder Selbsttäuschung.
»keine Scrupel noch Zweifel« – Zwei Begriffe, die moralisches und erkenntnistheoretisches Gewicht haben. Skrupel (aus dem Lateinischen »scrupulus« = kleiner Stein) meint Gewissensbisse oder moralische Hemmungen, Zweifel verweist auf den intellektuellen Zustand der Unsicherheit. Dass Faust beides von sich weist, ist Ausdruck seiner existenziellen Radikalisierung. Er möchte weder von ethischen Normen eingeengt noch von erkenntnistheoretischer Skepsis gebremst werden.
Die doppelte Negation (keine … noch …) verstärkt die Abgrenzung von herkömmlicher Moral und Philosophie. Faust will über das herkömmlich Menschliche hinausgehen.
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel –369
»Fürchte mich weder … noch …« – Die parallele Struktur zur vorherigen Zeile (»keine … noch …«) schafft rhythmisch und inhaltlich eine Steigerung. Faust wendet sich nun von inneren Hemmungen zu äußeren metaphysischen Gefahren.
»vor Hölle noch Teufel« – Dies ist eine direkte Abkehr vom christlichen Heilsverständnis. Faust lehnt nicht nur die Ethik (Skrupel) und das philosophische Fragen (Zweifel) ab, sondern auch die Furcht vor transzendenter Bestrafung. Der Verweis auf Hölle und Teufel evoziert die mittelalterliche christliche Vorstellungswelt, vor der sich ein gottfürchtiger Mensch normalerweise scheut.
Die Aussage ist trotzig und blasphemisch: Faust negiert nicht nur das Christliche, sondern zeigt sich über das Religiöse erhaben. Doch gerade durch diese ostentative Absage wird er offen für den teuflischen Pakt. Die Verneinung der Furcht ist ein gefährlicher Moment der Hybris – wie bei Lucifer im Fallmotiv.
Zusammenfassend 368-369
Diese beiden Verse sind ein Wendepunkt: Faust erklärt sich zum souveränen, selbstgesetzlichen Subjekt – frei von Moral, frei von Zweifel, frei von Angst vor jenseitiger Strafe. Doch gerade diese vermeintliche Unabhängigkeit ist ein gefährliches Moment der Öffnung für das Dämonische. Seine Erklärung ist nicht Ausdruck innerer Ruhe, sondern eines existenziellen Aufbegehrens. Sie kündigt an, dass der Weg in eine Grenzüberschreitung führt, in der er das Jenseits nicht mehr ignorieren, sondern herausfordern wird.
Dafür ist mir auch alle Freud’ entrissen370
Dieser Vers steht am Ende einer Reflexion über Fausts intensives, aber unbefriedigendes Studium verschiedener Wissenschaften (Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Philosophie). Mit »dafür« verweist Faust auf das Resultat seines intellektuellen Strebens, das nicht etwa Erkenntnis oder innere Erfüllung gebracht hat, sondern das Gegenteil: den Verlust der Lebensfreude. Das Verb »entrissen« suggeriert eine gewaltsame, leidvolle Entfremdung – die Freude ist ihm nicht einfach abhandengekommen, sondern »entrissen«, also aktiv und mit Schmerz geraubt worden.
Der Vers zeigt, dass Wissen und Gelehrsamkeit für Faust keinen intrinsischen Wert mehr haben, da sie ihn nicht zur Wahrheit oder zum Sinn geführt, sondern seine Lebenskraft geschwächt haben. »Alle Freud’« klingt nach einem totalen Verlust – nicht nur bestimmter Genüsse, sondern der Fähigkeit, Freude überhaupt zu empfinden.
Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen,371
Hier spricht Faust weiter über die Illusion, durch das Studium zu echter Erkenntnis zu gelangen. Das reflexive »bilde mir nicht ein« verweist auf eine selbstkritische Erkenntnis: Er will sich nicht länger in die Vorstellung hineintäuschen (»einbilden«), dass er »was Rechts«, also etwas wirklich Gültiges, Wahres oder Gerechtes, »zu wissen« vermag.
Der Ausdruck »was Rechts« ist vielschichtig. Er kann im engeren Sinne juristisch verstanden werden, was angesichts seines früheren Jurastudiums passt, aber im weiteren Sinn geht es um das Wahre, das Ethisch-Gerechte, das metaphysisch Richtige. Faust erkennt, dass sein Wissen bloß äußerlich und formal geblieben ist – es hat ihn nicht zu einer existenziell tragfähigen Wahrheit geführt.
Das Verb »einbilden« verweist zudem auf die Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit, ein Leitmotiv in Faust. Fausts Wissenschaftlichkeit entlarvt sich hier als selbsttäuschende Konstruktion, als Trugbild ohne echten Inhalt.
Zusammenfassend 370-371
Diese beiden Verse stehen an einem Wendepunkt des Monologs. Sie markieren den Übergang von enttäuschter Gelehrsamkeit zu einer tieferen, fast mystisch-existenzialistischen Krise. Faust erkennt, dass reines intellektuelles Wissen nicht genügt. Damit kündigt sich bereits sein Pakt mit dem Teufel an – aus dem Wunsch heraus, etwas »wirklich Rechtes«, also Lebendiges, Erfahrbares, Sinnhaftes zu erleben, koste es, was es wolle.
Die Verse reflektieren auch Goethes eigene Zeitkritik an einem entleerten Rationalismus der Aufklärung. Wissen ohne Weisheit, Erkenntnis ohne Leben – das ist Fausts Drama.
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren372
Wort- und Satzstruktur: Bilde mir nicht ein ist eine reflexive Redewendung: sich »etwas einbilden« bedeutet, sich selbst etwas vorgaukeln, wovon man fälschlich überzeugt ist.
Das Präsens betont die Aktualität: Faust steht in diesem Moment an einem inneren Wendepunkt.
ich könnte was lehren verweist auf die Tätigkeit des akademisch Gelehrten. Faust ist Doktor der Theologie, Philosophie, Medizin und Jurisprudenz – und doch stellt er seine pädagogische Autorität grundlegend in Frage.
Inhaltliche Bedeutung: Faust zweifelt an der Wirksamkeit seines Wissens. Die Vorstellung, anderen Menschen durch Lehren zum Besseren zu verhelfen, erscheint ihm als Selbsttäuschung.
Implizit kritisiert er eine humanistische oder aufklärerische Hybris: Die Idee, dass Bildung und Vernunft zur moralischen Besserung der Menschheit führen könnten, erscheint ihm naiv oder zumindest nicht durch seine Erfahrung gedeckt.
Die Aussage steht in direktem Kontrast zu traditionellen Idealen universitärer Bildung und damit auch zu Goethes eigener Zeit, die das Ideal des »gebildeten Bürgers« hochhielt.
Die Menschen zu bessern und zu bekehren373
Wort- und Satzstruktur: Der Infinitivanschluss (»zu bessern und zu bekehren«) konkretisiert, worin das Lehren bestehen würde.
bessern bezieht sich auf moralische oder sittliche Vervollkommnung.
bekehren hat religiöse Konnotationen – es verweist auf Bekehrung im theologischen Sinn, also auf eine innere Wandlung hin zum rechten Glauben oder Leben.
Inhaltliche Bedeutung: Faust spricht hier aus der Perspektive eines resignierten Intellektuellen: Selbst mit all seinem Wissen fühlt er sich ohnmächtig gegenüber den realen Veränderungen im Menschen.
Er erkennt – oder behauptet – dass menschliche Natur oder Moral nicht durch äußere Belehrung veränderbar ist.
Bekehrung klingt in dieser Perspektive fast zynisch: Als jemand, der Theologie studiert hat, glaubt Faust selbst nicht mehr an die transformative Kraft religiöser Unterweisung.
Zusammenfassend 372-373
Diese zwei Verse markieren einen inneren Bruch mit den Idealen der Aufklärung und der akademischen Welt. Fausts tiefe Skepsis betrifft nicht nur seine eigene Lebensleistung, sondern auch das Menschenbild, das seiner wissenschaftlichen Laufbahn zugrunde lag. Der Glaube an Belehrbarkeit und moralische Vervollkommnung des Menschen ist für ihn eine Illusion. Damit rücken existenzielle Fragen in den Vordergrund: Worin liegt dann der Sinn seines Strebens? Was bleibt, wenn das Lehren nicht zum Guten führt?
Diese beiden Verse leiten thematisch über zum zentralen Konflikt des Dramas: Fausts Suche nach einem anderen Zugang zur Wahrheit, zum Leben, zur Erfüllung – jenseits von Büchern, Lehre und abstrakter Erkenntnis.
Auch hab’ ich weder Gut noch Geld,374
»Auch«: Das einleitende Wort verstärkt die Aufzählung; es bedeutet hier soviel wie »überdies« oder »außerdem«, ein rhetorisches Mittel, das die Erschöpfung von Möglichkeiten betont.
»hab’ ich weder«: Die Konstruktion mit »weder« leitet eine Negation ein, die im folgenden Vers mit »noch« fortgesetzt wird. Dies ist typisch für Parallelismen, die die rhetorische Wucht erhöhen.
»Gut noch Geld«: Mit »Gut« ist Besitz im allgemeinen Sinne gemeint, also Immobilien, Vorräte, Vieh oder anderes Eigentum; »Geld« steht spezifisch für flüssige Mittel. Faust betont damit seine materielle Armut. Dass »Gut« an erster Stelle steht, zeigt, dass es nicht nur um ökonomische Mittel geht, sondern auch um den symbolischen Status, den Besitz verleiht.
Diese Zeile weist Faust als einen Menschen aus, der nicht nur innerlich unzufrieden ist, sondern auch äußerlich keinen Erfolg im herkömmlichen, gesellschaftlichen Sinne vorweisen kann. Es steht in Kontrast zu seinem hohen Bildungsgrad – ein Gelehrter, der trotz all seines Wissens arm geblieben ist.
Noch Ehr’ und Herrlichkeit der Welt.375
»Noch«: Fortsetzung der Aufzählung aus Vers 374; gemeinsam mit »weder« bildet es eine vollständige koordinierende Negation, was den Eindruck totaler Leere oder Vergeblichkeit verstärkt.
»Ehr’«: Abgekürzt für »Ehre«, steht für gesellschaftliche Anerkennung, moralisches Ansehen und persönliche Würde – immaterielle Werte, die in der bürgerlichen Welt sehr hoch geschätzt wurden.
»Herrlichkeit der Welt«: Ein Ausdruck, der auf weltliche Macht, Ruhm, Status und äußere Pracht verweist. Das Wort »Herrlichkeit« ist stark religiös und biblisch konnotiert (vgl. »Gloria mundi«), was eine gewisse Ironie in Fausts Tonfall hineinbringt. Denn obwohl er die Welt verachtet, ist er dennoch verletzt, dass sie ihm keine Herrlichkeit gewährt hat.
Diese Zeile macht deutlich, dass Faust auch in Bezug auf soziale Anerkennung und öffentlichen Ruhm ein Scheitern erlebt hat. Es reicht ihm nicht, innerlich klug zu sein; er sehnt sich nach weltlichem Erfolg, der ihm jedoch versagt geblieben ist.
Zusammenfassend 374-375
Faust beklagt nicht nur seine materielle Armut, sondern auch sein Scheitern in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen. Damit fasst er die Enttäuschung zusammen, die ihn über das intellektuelle Leben hinaus auch in seiner Stellung als Mensch betrifft. Die beiden Verse wirken wie ein Echo biblischer oder klösterlicher Armutsideale (»Ich habe nichts…«), stehen aber hier nicht als Zeichen religiöser Demut, sondern tief empfundener Frustration. Faust fühlt sich betrogen – von der Wissenschaft, vom Leben, von der Welt.
Diese Bilanz führt letztlich zur Öffnung gegenüber dunkleren Mächten – denn wenn die Welt nichts zu bieten hat, wird Faust sich an außerweltliche, metaphysische Kräfte wenden. Die zwei Verse sind also psychologisch und dramaturgisch ein Schlüsselmoment im inneren Fall des Protagonisten.
Es möchte kein Hund so länger leben!376
Inhaltlich: Faust beschreibt mit schockierender Direktheit sein inneres Elend. Der Vergleich mit einem Hund ist absichtlich radikal: Nicht einmal ein Tier – das üblicherweise niedrig, triebhaft, leidensfähig gedacht wird – würde sich mit einem solchen Leben zufriedengeben. Damit entwertet Faust nicht nur sein eigenes Dasein, sondern stellt die gesamte menschliche Existenz in Frage, insofern sie sinnentleert und gefangen im bloßen Funktionieren ist.
Sprachlich: Die Formulierung »möchte kein Hund« wirkt wie ein Sprichwort oder ein Derbnis aus dem Volksmund – aber bei Goethe bekommt es eine existenzielle Tiefe.
Das »so« ist entscheidend: Es verweist auf die vorherige Beschreibung seines Zustandes (Gefangensein in totem Wissen, fruchtlosem Forschen, Isolation). Es meint nicht bloß »nicht mehr leben«, sondern: so leben, wie es Faust tut – also ohne Erfüllung, ohne Sinn.
Der Einsatz des Konjunktivs (»möchte«) und der doppelten Verneinung (»kein Hund«) verstärkt die Verachtung für den eigenen Zustand.
Rhetorisch:Der Satz ist kurz, drastisch, wie ein Ausbruch.
Die Hundemetapher hat historische Konnotationen: Der Hund galt als Symbol für das Unreine, aber auch für Treue und Instinkt. Faust negiert sogar diese elementaren Triebe: Sein Zustand liegt unterhalb des tierischen Lebens.
Drum hab’ ich mich der Magie ergeben,377
Inhaltlich: Hier folgt die Konsequenz aus der radikalen Ablehnung des bisherigen Lebens: Faust hat sich der Magie verschrieben. Diese Entscheidung ist keine bloße Neugier, sondern ein verzweifelter Ausweg – ein Akt der Selbstüberschreitung, fast religiös in seinem Totalitätsanspruch.
»Drum« (also: deshalb) signalisiert eine logische, aber tragische Konsequenz.
»ergeben« ist ein starkes Wort: Es bedeutet sowohl Hingabe als auch Unterwerfung. Es klingt passiv – als habe Faust keine Wahl mehr. Zugleich enthält es eine Spur von fatalistischer Entschlossenheit.
»Magie« steht für den Wunsch, das bloß Rationale, Empirische zu transzendieren. Faust sucht nicht Wissen, sondern Erfahrung – unmittelbare, mystische, vielleicht sogar dämonische.
Sprachlich: Der Vers ist rhythmisch ruhig und nach innen gewendet – im Gegensatz zur explosiven Emotion des ersten Verses.
Die Alliteration (m – m: »mich der Magie«) betont die Intimität und Umklammerung, fast wie ein stilles Mantra.
Theologisch-philosophisch: Faust wendet sich von der scholastischen, christlich geprägten Wissenschaft ab und hin zu einer esoterischen, möglicherweise gefährlichen Wissensform. Es ist ein Schritt aus dem göttlich geordneten Kosmos in die Sphäre des Eigenwillens, vielleicht der Hybris.
Zusammenfassend 376-377
Die beiden Verse stehen in einem paradoxen Verhältnis:
Der erste Vers artikuliert Verzweiflung, der zweite eine Entscheidung.
Der eine ist negativ-abgrenzend (»So will ich nicht leben«), der andere positiv-suchend (»Ich versuche etwas anderes«).
Zusammen markieren sie den Übergang vom bloßen Leiden zur Tat – eine innere Tat, die zur äußeren (Mephisto-Bündnis) führen wird.
Diese beiden Zeilen kondensieren Fausts existenzielle Lage in größter Dichte: Sie sind der Wendepunkt vom Leiden zur Suche nach Transzendenz – außerhalb aller bürgerlichen, religiösen und akademischen Normen.
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund378
»Ob mir ...« – Die Versstruktur beginnt mit einer Fragepartikel (»ob«), die keine vollständige Frage bildet, sondern den Beginn eines hypothetischen Gedankens markiert. Es ist die Einleitung zu einem konditionalen Nebensatz: Es wird eine Möglichkeit oder ein Zweifel formuliert, der im nächsten Vers vervollständigt wird.
»... durch Geistes Kraft ...« – Diese Wendung verweist auf die geistige Fähigkeit Fausts. Der Ausdruck betont das Streben nach Erkenntnis jenseits des bloß Rationalen. »Kraft« hat eine doppelte Bedeutung: zum einen die intellektuelle Fähigkeit, zum anderen die fast metaphysische Wirkkraft des »Geistes«, womöglich auch im esoterischen oder magisch-alchemistischen Sinne. Es schwingt die Idee mit, dass Wissen nicht nur durch Bücher (wie im Prolog beklagt), sondern durch unmittelbare geistige Erleuchtung erlangt werden könnte.
»... und Mund« – Die Ergänzung »und Mund« erweitert die Kraft des Geistes auf die Sprache, die Artikulation. Nicht nur das Verstehen, sondern auch das Aussprechen oder Formulieren des Wissens ist von Bedeutung. Das kann sowohl rhetorisch als auch magisch interpretiert werden – Sprache als Medium der Erkenntnis oder gar Beschwörung. Goethe spielt hier subtil auf die alchemistische oder mystische Vorstellung an, dass Sprache selbst schöpferische Macht haben kann (»im Anfang war das Wort« – wie später im Studierzimmer paraphrasiert wird).
Nicht manch Geheimniß würde kund;379
»Nicht manch Geheimniß ...« – Diese Formulierung ist ein typisches Beispiel für Goethes rhetorische Feinheit. »Nicht manch« wirkt paradoxerweise wie eine Steigerung: Es betont nicht die Zahl, sondern das Gewicht der Geheimnisse. Es geht um das Verborgene, um okkultes oder metaphysisches Wissen, das Faust sucht – jenseits von »schulweisheitlichem« Lernen. Es steht im Kontext seiner Enttäuschung über Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Faust will nicht wissen, was gelehrt wird, sondern was verborgen ist.
»... würde kund« – Das Verb »kundwerden« oder »kund« bedeutet: offenbar werden, erkennbar, mitgeteilt. Die Konstruktion im Konjunktiv II (»würde kund«) verweist auf eine Möglichkeit, die Faust erwägt oder ersehnt. Der hypothetische Charakter wird so weitergeführt: wenn die Kraft des Geistes und des Mundes wirkt, dann könnte ihm verborgenes Wissen offenbar werden. Der Vers bleibt offen, als sehnsüchtiger Gedanke, ohne dass er zur Erfüllung gelangt.
Zusammenfassend 378-379
Diese beiden Verse sind Ausdruck eines existentiellen Drangs nach transzendenter Erkenntnis. Faust hat alles Studierbare durchdrungen und bleibt doch unbefriedigt. Hier stellt er sich die Frage, ob es nicht eine andere Form der Erkenntnis gibt – durch den eigenen Geist und durch die Sprache –, die ihm den Zugang zu den letzten Geheimnissen des Daseins öffnen könnte.
In diesen Versen kündigt sich bereits der Übergang zur Magie an. Es ist das innere Vorspiel zu dem, was folgen wird: Fausts Versuch, über die konventionellen Grenzen des Wissens hinauszugehen, was schließlich zur Beschwörung des Erdgeists führt. In diesem Sinne stehen diese Verse an einem Scharnierpunkt: zwischen akademischer Enttäuschung und okkulter Hoffnung.
Daß ich nicht mehr mit sauerm Schweiß380
Dieser Vers beginnt mit einer finalen Konstruktion: »Daß ich nicht mehr …«, was ein Ziel oder einen Wunsch ausdrückt. Faust formuliert hier den tiefen Wunsch, von einer bestimmten quälenden Tätigkeit befreit zu sein.
»saurer Schweiß« ist eine Redewendung, die körperlich spürbare Anstrengung andeutet. »Sauer« unterstreicht nicht nur die Mühe, sondern auch das Widerwärtige, Unangenehme der Anstrengung. Der Ausdruck evoziert ein Bild der Erschöpfung, das sowohl körperlich als auch geistig verstanden werden kann.
In der Szene zuvor hat Faust bereits klargemacht, dass er trotz all seines Studiums nicht zur wahren Erkenntnis gelangt ist. Der »sauere Schweiß« verweist hier auf die Lehrtätigkeit, auf jahrelanges Pauken und Lehren von Dingen, die ihm selbst leer erscheinen.
Insgesamt drückt der Vers eine tiefe Ermüdung und Abneigung gegen die eigene akademische Rolle aus. Es ist ein Wunsch nach Authentizität und zugleich ein Ausdruck von Selbstverachtung: Er strengt sich ab, um Dinge weiterzugeben, die ihn innerlich nicht mehr überzeugen.
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;381
Dieser Vers bringt das Dilemma auf den Punkt: Faust will nicht mehr gezwungen sein, Dinge zu behaupten, die er selbst nicht verstanden oder durchdrungen hat.
»Zu sagen brauche« legt nahe, dass Faust sich nicht freiwillig so verhält, sondern gezwungen ist — durch seine gesellschaftliche Rolle als Gelehrter, als Professor, vielleicht sogar durch die Erwartungen der Studenten oder der Institution.
»was ich nicht weiß« ist die schlichte, bittere Erkenntnis seiner eigenen Unwissenheit. In der Tradition des sokratischen Denkens klingt hier das Eingeständnis durch: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Doch anders als bei Sokrates ist dies nicht Ausgangspunkt philosophischer Demut, sondern Zeichen tiefster Frustration.
Faust empfindet es als intellektuell unehrlich und seelisch erniedrigend, Wissen vorzutäuschen. Er leidet an der Kluft zwischen Wissen und Weisheit, zwischen Lehrbuchwissen und echter Erkenntnis. Die Wiederholung des »ich« (»ich nicht mehr«, »ich nicht weiß«) betont seine persönliche Betroffenheit und das existenzielle Ausmaß der Krise.
Zusammenfassend 380-381
Die beiden Verse fassen in kompakter Form Fausts Krise als Gelehrter zusammen. Sie offenbaren:
eine innere Spaltung zwischen äußerem Schein (Lehrender, Akademiker) und innerer Wahrheit (Zweifel, Nicht-Wissen),
ein Leiden an der Rolle des Wissenschaftlers in einer Welt, die bloßes Wissen, nicht aber tiefere Einsicht verlangt,
den Wunsch nach Authentizität, Wahrheit und Erlösung aus intellektuellem Zwang.
Diese Verse markieren einen Höhepunkt der existenziellen Unruhe, die Faust später zu seinem Pakt mit Mephisto treiben wird. Der Wunsch, nicht mehr »mit sauerm Schweiß« die Unwahrheit lehren zu müssen, ist Ausdruck einer geistigen Revolution — gegen eine Welt des toten Wissens und für eine neue Form des Erfahrens.
Daß ich erkenne, was die Welt382
»Daß ich erkenne«
Faust formuliert hier sein innerstes Begehren: Erkenntnis. Nicht bloß Wissen im Sinne empirischer Daten oder gelehrter Bildung, sondern ein existentielles Durchdringen der Wirklichkeit. Das Verb »erkennen« trägt in der deutschen Sprache eine doppelte Bedeutung: kognitive Einsicht und ontologische Erfassung. Goethe wählt es bewusst, um Fausts Wunsch nach Wahrheit hinter den Erscheinungen zu betonen. Es geht um das Erfassen des Seins, nicht bloß um deskriptive Wissenschaft.
»was die Welt«
Mit »die Welt« ist mehr gemeint als nur die äußere Natur oder die physische Realität. Der Begriff ist hier totalisierend zu verstehen: die Ordnung des Kosmos, das Ganze des Daseins, vielleicht auch die Welt des Geistes. Faust strebt nicht nach Spezialwissen, sondern nach einer umfassenden Weltformel, einem Schlüssel zur Ganzheit.
Im Innersten zusammenhält383
»Im Innersten«
Diese Formulierung dringt zur metaphysischen Tiefe vor. Nicht die äußere Struktur, sondern das verborgene Zentrum interessiert Faust. Was hält nicht nur oberflächlich, sondern im Kern alles zusammen? Man spürt hier den Einfluss von Hermetik, Alchemie, aber auch von platonischer Ideenlehre: das Seiende ist durch ein Unsichtbares getragen.
»zusammenhält«
Das Verb verweist auf Kohärenz, Bindung, Struktur. Was ist das Band, das alle Dinge, Ideen, Wesen, Prinzipien vereint? In einem theologischen Sinne könnte man hier auch an den Logos, an Gottes schöpferisches Prinzip denken – eine Verbindung zur johanneischen Theologie ist nicht fern: »Im Anfang war das Wort… und ohne dasselbe ist nichts gemacht.« Doch Goethe lässt es offen: Ist es ein göttliches Prinzip, ist es Naturkraft, ist es Liebe, Geist, Energie?
Zusammenfassend 382-383
Diese beiden Verse bringen Fausts inneren Konflikt auf den Punkt. Er ist unzufrieden mit der bloßen Gelehrsamkeit, mit der Scholastik und den »Papierweisheiten«. Er dürstet nach letzter Wahrheit, nach dem inneren Gesetz des Universums, nach einem Durchblick durch alle Phänomene hindurch zur Ursache, zum Ursprung, zum Zentrum.
Man kann sie auch als goethesche Umformung des sokratischen »Erkenne dich selbst« lesen: Nicht nur die Welt soll erkannt werden, sondern in dieser Erkenntnis liegt auch eine Reflexion des eigenen Daseins.
Schau’ alle Wirkenskraft und Samen384
»Schau’« Das Imperativwort eröffnet den Vers und steht programmatisch für eine neue Form der Erkenntnis: Es geht um das unmittelbare Sehen, das intuitive, ganzheitliche Erfassen, nicht mehr um das bloße rationale Verstehen. Das »Schauen« erinnert an mystische Erkenntnisformen, etwa bei Jakob Böhme oder Meister Eckhart, wo wahres Wissen durch inneres Erleuchten entsteht.
»alle Wirkenskraft« Hiermit sind die wirkenden Kräfte der Natur gemeint: die verborgenen Dynamiken des Lebens, die Energie, die alles durchdringt. Goethe greift damit eine zentrale Idee seiner eigenen Naturphilosophie auf, etwa die Idee eines »Urphänomens« oder einer schöpferischen Kraft, die allem Lebendigen zugrunde liegt.
»und Samen« Der Same ist Symbol des Ursprungs, des Werdens, der organischen Entfaltung. Goethe denkt hier nicht nur biologisch, sondern metaphysisch: Der Same ist Träger der Form, der Idee, des Potenzials. Im Faustkontext weist er auf das Streben nach dem innersten Prinzip des Lebens hin, nach einem Blick »hinter« die Erscheinung.
Faust will das Leben in seiner wirkenden, keimenden Tiefe erfassen. Es geht um ein Durchdringen der Welt auf einer existenziellen Ebene, jenseits der Sprache und der abstrakten Wissenschaft.
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Und thu’ nicht mehr in Worten kramen385
»Und thu’ nicht mehr«
Die Wendung »nicht mehr« deutet auf eine Abkehr hin – von etwas, das Faust bislang getan hat. Es geht um eine Entsagung, eine Negation seines bisherigen Tuns.
»in Worten kramen«
Diese Wendung ist ausgesprochen abwertend. »Kramen« bedeutet, in Unordnung herumzuwühlen, Kleinigkeiten zu sortieren, zu wühlen wie in einem alten Kasten mit Gerümpel. Sprache, Worte, Begriffe erscheinen hier als toter Ballast – bloße Hüllen, die nicht zum wahren Wesen der Dinge führen.
Faust lehnt die philologische, begriffliche Erkenntnisform ab, die auf Definitionen und Zergliederung setzt. Sprache hat für ihn ihre heuristische Kraft verloren. Es ist ein Moment der Entzauberung der Sprache – ein Topos, der auch in der Romantik und später bei Nietzsche oder Wittgenstein wiederkehrt.
Zusammenfassend 384-385
In ihrer Gesamtheit proklamieren diese Verse eine radikale Wende: vom Wort zur Tat, von der Sprache zur Wirklichkeit, vom Buch zur Natur. Fausts Sehnsucht richtet sich auf eine lebendige, schöpferische Welterkenntnis, die in der Praxis des Schauens und Erlebens wurzelt. Der Geist soll nicht mehr »in Begriffen hausen«, sondern »wirken«, »leben«, »entdecken«. Es ist der Beginn eines erkenntnistheoretischen Umsturzes – und zugleich die Wurzel der späteren Tragik: Denn diese Wirklichkeitssuche führt ihn auch in die Hände Mephistos.