Ehrenpreiß 34

Jacob Balde

Ehrenpreiß 34

Wann nun geschwächt seynd all fünff sinn/
Die vmbstehend Rott wird sagen:
Jetzt hat ers gar/ jetzt ist er hin/
Man merckt kein Pulß mehr schlagen:
Dein schöne Hand/ dein milte Hand/
O Mutter meines Lebens;
Schneid oder halt/ gleich wies dir gfalt/
Sonst ist es alls vergebens.

Wer ist der dises Lied gemacht/
Wann einer auch darff fragen.
Villeicht hat er gar offt zu Nacht
Ein Stuck herab geschlagen.
Er sagt nit wo/ jetzt ist er fro/
Daß d'Llauten sey zertrimmert:
Vmb Saytenspil er sich so vil
Hinfüran nicht mehr kümmert.
Ende.

Analyse

Jacob Baldes Gedicht Ehrenpreiß 34 ist ein tiefgründiger Text, der in barocker Sprache und Denkweise zentrale Themen des menschlichen Daseins verhandelt: Tod, Endlichkeit, Vergänglichkeit und möglicherweise eine kritische Selbstreflexion des dichterischen Tuns.
Ein vielschichtiges, in barocker Manier verschachteltes Gedicht über Sterben, künstlerische Resignation und das Ende der sinnlichen Welt. Die Verbindung von Todesdarstellung, religiöser (mariologischer) Anrufung und poetologischer Selbstironie verleiht dem Text eine besondere Tiefe. Es ist nicht nur ein Totengedicht, sondern auch ein kritischer Abgesang auf die Macht der Dichtung – ein resignativer Rückzug aus der Welt der Worte.

Sprachlich-formale Analyse

Der Text ist in vierstrophigen, achtzeiligen Reimversen gehalten. Die Reime folgen einer Mischung aus Paar- und Kreuzreimen, allerdings sind sie nicht streng regelmäßig. Die Sprache ist stark vom Barockstil geprägt: Archaismen wie „seynd“, „gfalt“, „merckt“, „darff“ verankern das Gedicht im 17. Jahrhundert. Auch die Syntax ist teils invertiert oder kunstvoll verschachtelt, wie es dem Geschmack der Epoche entspricht.
Besonders auffällig sind die abrupten Sprecherwechsel und Tonlagen: Von einer sachlich registrierenden Außenperspektive wechselt der Text zur anklagenden oder appellierenden Rede an eine „Mutter meines Lebens“, bis hin zur selbstironischen Bemerkung über das „zertrimmerte“ Lautenspiel. Dieser Stilbruch ist beabsichtigt und barock typisch.

Inhaltlich-thematische Deutung

1. Sterbeszene und letzte Stunden
Die erste Strophe beginnt mit einer düsteren Szene: „Wann nun geschwächt seynd all fünff sinn“ – die klassischen fünf Sinne als Zeichen des Lebens beginnen zu versagen. Die „vmbstehend Rott“, also die um das Sterbebett versammelten Menschen, konstatieren nüchtern: „Jetzt hat ers gar / jetzt ist er hin“. Der Moment des Todes wird durch den fehlenden Puls markiert. Balde beschreibt hier eine typische ars moriendi-Szene, doch mit einer eigentümlichen emotionalen Distanz.
2. Bitte um Rettung oder Gnade
Im zweiten Teil dieser ersten Szene richtet sich das lyrische Ich plötzlich an eine weibliche Figur: „Dein schöne Hand / dein milte Hand / O Mutter meines Lebens“. Diese Wendung hat eine doppelte Bedeutungsebene:
Theologisch: Sie könnte auf Maria, die Gottesmutter, verweisen – als Fürsprecherin in der Todesstunde.
Existentiell-symbolisch: Es könnte sich auch um das Leben selbst handeln, allegorisch als Mutter dargestellt, die nun entscheiden möge: „Schneid oder halt“, d.h. entweder den Lebensfaden durchtrennen oder ihn erhalten.
• Die Formulierung „gleich wies dir gfalt“ betont die Ohnmacht des Menschen vor einem höheren Willen oder Schicksal.

Poetologisches Nachwort oder Spottrede?

In der dritten Strophe tritt plötzlich eine Außenstimme oder ein Ich-Sprecher auf, der sich fragt, „Wer ist der dises Lied gemacht?“. Hier geschieht ein bemerkenswerter Bruch: Das lyrische Ich reflektiert sich selbst, fragt nach dem Verfasser des Gedichts (also sich selbst) und ironisiert dabei möglicherweise die eigene Todessehnsucht oder Melancholie:
„Villeicht hat er gar offt zu Nacht / Ein Stuck herab geschlagen.“
Diese Zeile lässt sich doppelt lesen: Einerseits als Anspielung auf das Zerschlagen eines Instruments (einer Laute), andererseits als Bild für wiederholte nächtliche Verzweiflung oder seelischen Schmerz. Der letzte Vers dieses Abschnitts bestätigt das Bild: Die „Lauten“ sind „zertrimmert“, und der Sprecher „kümmert“ sich „hinfüran nicht mehr“ darum. Es ist eine poetologische Resignation: Das Dichten ist zu Ende, der Lautenspieler hat sein Werk zerstört.

Barocke Motivik: Vanitas, Memento Mori und Ars Moriendi

Das Gedicht steht ganz in der barocken Tradition:
Vanitas: Die Vergänglichkeit alles Irdischen wird durch das Sterben, den Zusammenbruch der Sinne und das Verstummen der Musik deutlich gemacht.
Memento mori: Die Szene ruft das Bewusstsein für den eigenen Tod wach – insbesondere durch die schonungslose Beobachtung des physischen Verfalls.
Ars moriendi: Die Sterbeszene ist Teil eines barocken Motivs, das das rechte Sterben thematisiert. Doch bei Balde wird diese Vorstellung gebrochen – es herrscht kein Triumph über den Tod, sondern eine resignative Ironie.
Musik als Lebenssymbol: Die zerstörte Laute steht symbolisch für das Ende des künstlerischen Schaffens, das oft als Lebensäußerung galt. Ihre Zertrümmerung bedeutet den Rückzug des Ich aus der Welt und aus dem poetischen Ausdruck.

Poetologische Selbstreflexion

Das Gedicht endet in einer Art meta-poetischer Kapitulation. Der Dichter, der sein eigenes Sterben in kunstvollen Versen gestaltet, erkennt die Ohnmacht der Dichtung selbst gegenüber dem Tod. Die Musik, das Lautenspiel, war Sinnbild für sein poetisches Schaffen – und ist nun zerschlagen.
Der Ausdruck „Vmb Saytenspil er sich so vil / Hinfüran nicht mehr kümmert“ klingt fast lakonisch: Die Zeit des Dichtens ist vorbei. Dies ist nicht nur ein Resümee über das Leben, sondern auch über die Grenzen der Kunst, wie sie sich in der Todesstunde offenbaren.

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