Jacob Balde
Ehrenpreiß 33
Wann bey dem Beth die Kertzenbrinnt/
Die Augen nimmer wachen/
Vom Leib der kalte Todtschwaiß rinnt/
Die Bainer jetzt schon krachen:
Dein schöne Hand/ dein milte Hand
O Junckfraw außerkohren;
Schneid oder halt/ gleich wies dir gfalt/
Sonst ist es alls virlohren.
Analyse
Jacob Balde (1604–1668), ein Jesuit und einer der bedeutendsten deutschsprachigen Barockdichter, verbindet in seinem Gedicht Ehrenpreiß 33 eine typisch barocke Todesmeditation mit einer zugleich zärtlichen und theologischen Anrufung der Jungfrau Maria. Der Text steht im Zeichen des „Memento mori“, doch nicht in düsterer Verzweiflung, sondern in einer Haltung des Vertrauens und der Anrufung.
Eine dichterische Miniatur des barocken Todesbewusstseins: drastisch, körperlich, erschütternd – und zugleich durchdrungen von Hoffnung und Demut. Maria ist hier die letzte Instanz der Gnade. Der Text bringt in wenigen Zeilen das ganze barocke Spannungsfeld zwischen Vergänglichkeit und Erlösung, Verzweiflung und Hoffnung zum Ausdruck – mit einer emotionalen Dringlichkeit, die bis heute berührt.
Inhalt und Motivik
"Wann bey dem Beth die Kertzenbrinnt":
Das Gedicht beginnt mit einem typischen barocken Sterbeszenario: Die Kerze, ein klassisches Vanitas-Symbol, brennt am Totenbett – sie steht für das vergehende Leben. Der Moment des Todes ist gekommen.
"Die Augen nimmer wachen":
Der Tod hat bereits begonnen, Besitz vom Körper zu ergreifen. Die Augen sind geschlossen – ein Bild sowohl für Schlaf als auch für das unwiderrufliche Ende des Lebens.
"Vom Leib der kalte Todtschwaiß rinnt":
Der Todeskampf ist in vollem Gange. Der kalte Schweiß des nahenden Todes verleiht der Szene eine drastische Körperlichkeit, wie sie für die barocke Ästhetik typisch ist.
"Die Bainer jetzt schon krachen":
Ein besonders makabres Detail: Das Knochengerüst beginnt bereits zu „krachen“ – das Bild erinnert an eine physisch aufgelöste Existenz, an das memento mori und an den Zerfall des Menschen.
"Dein schöne Hand / dein milte Hand / O Junckfraw außerkohren":
Ein plötzlicher Wechsel der Perspektive: Nun richtet sich der Sprecher an die Jungfrau Maria. Ihre "schöne" und "milte" (milde, sanfte) Hand wird angerufen. Maria wird hier nicht als ferne Himmelsgestalt, sondern als gegenwärtige Helferin im Todesmoment beschrieben.
"Schneid oder halt / gleich wies dir gfalt / Sonst ist es alls virlohren":
Die Entscheidung liegt in Marias Hand. Das Bild des „Schneidens“ erinnert an die antike Parze Atropos, die den Lebensfaden abschneidet – hier jedoch christlich umgedeutet. „Schneid oder halt“: ob Maria das Leben verlängert oder enden lässt – ihre Entscheidung ist maßgeblich. Ohne ihre Hilfe ist alles verloren („virlohren“).
Theologische und allegorische Dimension
Marianische Fürbitte im Sterben:
Das Gedicht setzt auf die barocke Vorstellung, dass Maria in der Todesstunde die letzte Zuflucht ist. Die mater misericordiae ist nicht nur Fürsprecherin, sondern Retterin aus dem finalen Verfall.
Dualität von Gnade und Gericht:
Der Bittecharakter des Gedichts ist auch ein Akt der Unterwerfung. Ob Maria das Leben verlängert oder nicht, bleibt ihrer „Wahl“ überlassen. Damit wird das Leben als radikal von der göttlichen Gnade abhängig dargestellt.
Anspielung auf das Jüngste Gericht:
„Sonst ist es alls virlohren“ verweist auf das Heil oder die Verdammnis. Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass Maria beim Jüngsten Gericht Fürsprache leisten kann, besonders für den frommen Christen – und hier speziell für den Dichter als Jesuit.
Stil und Form
Klanglich-rhetorische Mittel:
Die Alliteration in „dein schöne Hand / dein milte Hand“ erzeugt eine sanfte, beschwörende Wirkung, passend zur Anrufung Marias.
Der Rhythmus beschleunigt sich in „Schneid oder halt / gleich wies dir gfalt“, was die Dringlichkeit des Anrufs im Todesmoment betont.
Kontraststruktur:
Körperlicher Zerfall und himmlische Zuwendung stehen sich scharf gegenüber: Todesschweiß, knarrende Knochen vs. schöne, milde Hand.
Diese Gegensätze strukturieren das Gedicht und schaffen Spannung zwischen Verwesung und Erlösung.
Barockes Weltbild
Balde bewegt sich ganz im Weltbild des Theatrum Mundi und der Vanitas: Das Leben ist vergänglich, der Tod unausweichlich, aber der Blick auf Maria eröffnet eine Perspektive auf ewiges Leben. Die letzte Hoffnung liegt nicht in weltlicher Leistung, sondern in der Gnade der Himmelskönigin.
Interpretation im historischen Kontext
Als Jesuit verstand Balde seine Dichtung nicht bloß als Kunst, sondern als devotio moderna – als Mittel der Seelenführung. Ehrenpreiß 33 ist daher sowohl poetischer Ausdruck als auch Gebet. Die Verbindung aus drastischer Körperlichkeit und frommer Anrufung ist typisch für die katholische barocke Frömmigkeit nach dem Tridentinum, das die Rolle der Heiligen, besonders der Gottesmutter, stark betonte.