Jacob Balde
Ehrenpreiß 32
Wann dann die Kranckheit wird zuschwer
Daß ichs nit mehr kan leyden:
Soll mir den Faden nimmermehr
Derselben ein abschneyden:
Dein schöne Hand/ dein milte Hand/
Weil je die Stundt abgloffen;
Schneid oder halt/ gleich wies dir gfalt/
Sonst ist es auß mit hoffen.
Analyse
Jacob Baldes Gedicht Ehrenpreiß 32 ist ein barockes geistliches Lied, das in Form eines Gebets oder Zwiegesprächs mit Gott gestaltet ist. Es thematisiert das Leiden des Menschen in Krankheit und den Wunsch nach göttlicher Entscheidung über Leben und Tod. Im Folgenden erfolgt eine strukturierte Analyse und Interpretation des Textes unter Berücksichtigung formaler, inhaltlicher, theologischer und poetischer Aspekte.
Ein tief religiöses, von barocker Frömmigkeit und Dichtungskunst geprägtes Gebet in Versform. Es stellt das Leiden des Menschen unter das Zeichen göttlicher Gnade und Entscheidung. Die Sprache ist schlicht, aber von dichterischer Kraft und theologischer Dichte. In der Tradition des Jesuitenpoeten Jacob Balde ist es Ausdruck einer poetisch-theologischen Reife, die sowohl Trost als auch Demut vermittelt.
Form und Sprache
Das Gedicht besteht aus einer einzigen Strophe mit acht Versen im Kreuzreim. Der Sprachduktus ist deutlich vom Barockstil geprägt: Pathos, religiöse Tiefe, und eine Mischung aus Demut und Vertrauen dominieren. Die Sprache ist frühneuhochdeutsch, mit charakteristischen Merkmalen wie "kan" für "kann", "leyden" für "leiden", "gfalt" für "gefällt", oder "auß" für "aus".
Inhaltliche Analyse
a. Die Krankheit als Grenzerfahrung
"Wann dann die Kranckheit wird zuschwer / Daß ichs nit mehr kan leyden:"
Die ersten beiden Verse beschreiben den Moment, an dem das Leiden durch Krankheit unerträglich wird. Der Sprecher erkennt die Grenze seiner körperlichen und seelischen Belastbarkeit. Diese Einleitung verweist auf die barocke Vanitas-Vorstellung der Gebrechlichkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens.
b. Die Entscheidung über Leben und Tod
"Soll mir den Faden nimmermehr / Derselben ein abschneyden:"
Hier wird das Bild des Lebensfadens eingeführt, das aus der antiken Mythologie stammt (die Parzen bzw. griechisch Moiren). Im Christentum wird dieses Bild häufig übertragen – Gott als Herr über Leben und Tod. Der Sprecher überlässt die Entscheidung über das Lebensende vollständig der göttlichen Hand.
c. Göttliche Hand als Subjekt
"Dein schöne Hand/ dein milte Hand/"
Diese doppelte Anrede betont sowohl Schönheit als auch Milde der göttlichen Hand – also Ästhetik und Gnade zugleich. Sie unterstreicht die Lieblichkeit und Gütigkeit Gottes, auch im möglichen Akt des Todes. Es ist keine angsterfüllte Bitte, sondern eine vertrauensvolle Hinwendung.
d. Zeitliche Finalität und Übergabe an den göttlichen Willen
"Weil je die Stundt abgloffen;"
Die "Stundt" – also die Lebenszeit – ist abgelaufen. Hier tritt ein Bewusstsein für die Endlichkeit des Lebens ein. Der Sprecher erkennt den Zeitpunkt des Todes als göttlich bestimmten Moment. Auch dies entspricht barocken Motiven der memento mori-Kultur.
e. Letzte Bitte: Entscheidung und Vertrauen
"Schneid oder halt/ gleich wies dir gfalt / Sonst ist es auß mit hoffen."
Der Schluss ist theologisch hoch aufgeladen: Der Sprecher bittet nicht um eine konkrete Entscheidung (Leben oder Tod), sondern überlässt beides dem Willen Gottes. Die Alternative "schneid oder halt" – also das Beenden oder Fortsetzen des Lebens – wird nicht bewertet. Entscheidend ist allein, dass Gott entscheide. Das letzte Verspaar bringt jedoch einen Wendepunkt: "Sonst ist es auß mit hoffen." Wenn Gott nicht handelt – gleich wie – bleibt nur Hoffnungslosigkeit. Das bedeutet: Der Mensch ist vollkommen auf Gottes Handeln angewiesen.
Theologische Deutung
Das Gedicht steht ganz in der barocken Frömmigkeitstradition: Das Leben ist vergänglich, Leid unausweichlich, aber alles steht unter der souveränen Hand Gottes. Das Bild der "Hand Gottes", die den Lebensfaden hält oder schneidet, verweist auf eine tiefe theologische Anthropologie: Der Mensch ist Geschöpf, Gott allein ist Herr über Zeit und Ewigkeit.
Das Vertrauen des Sprechers in Gottes "milde Hand" steht in Spannung zur realen Not der Krankheit – ein barocker Ausdruck innerer Seelenreifung. Das Gedicht kann als Ausdruck von passive readiness gelesen werden: ein bereites, innerlich geläutertes Herz, das weder an dieser Welt klebt noch den Tod wünscht, sondern Gott die Entscheidung überlässt.
Poetische Mittel
Antithese: "schneid oder halt" – Leben oder Tod
Symbolik: Lebensfaden, göttliche Hand
Alliteration und Lautsymbolik: "dein schöne Hand / dein milte Hand" – klanglich sanfte Verse, die Gnade betonen
Repetitio: Die Wiederholung von "Hand" verstärkt das Bild göttlicher Macht und Nähe.
Ellipse: Der Schlussvers ("Sonst ist es auß mit hoffen") verzichtet auf ein Verb – was die Endgültigkeit betont.
Barocke Welt- und Leidenssicht
Jacob Balde bringt hier das barocke Spannungsfeld zwischen Diesseits und Jenseits, Leiden und Gnade, Verzweiflung und Hoffnung zur Sprache. Der menschliche Wille tritt hinter die göttliche Verfügung zurück. Das Gedicht ist ein Beispiel für barocke Gelassenheit im ursprünglichen Sinne (vgl. Meister Eckhart): das Loslassen des Eigenwillens und das Einlassen auf den göttlichen Willen – auch im Tod.