Jacob Balde
Ehrenpreiß 30
Sag hiemit auch den Parcis ab/
Die mir bißher gespunnen.
Bey denen ich an meinem Grab
Verlohren mehr als gwunnen.
Falsch vnd Vntrew seynd alle drey
Haimblich mit mir vmbgangen.
Müßt an jhr Gspunst vnd blawen dunst/
Mein Leib vnd Leben hangen!
Analyse
Jacob Balde (1604–1668), ein deutscher Barockdichter und Jesuit, verbindet in seinem Gedicht Ehrenpreiß 30 typische barocke Themen wie Vanitas, Treue, Tod und Schicksal mit mythologischen Anspielungen, sprachlicher Kunstfertigkeit und persönlichem Pathos.
Er formuliert in dieser Strophe eine dichte, verzweifelte Abrechnung mit dem (heidnisch verstandenen) Schicksal. Die Sprache ist klagend und kunstvoll, die Symbolik tief mythologisch aufgeladen. Gleichzeitig reflektiert der Text zentrale Anliegen des Barock: das Scheitern am Irdischen, die Fragwürdigkeit des Schicksals, die Illusion von Lebensgewinn – und vielleicht im Subtext eine Sehnsucht nach transzendenter Wahrheit jenseits des „blauen Dunstes“.
Sprachliche Analyse
Die Sprache ist typisch für das Barock: durchsetzt von Emphase, Alliteration, archaischer Orthographie („synd“, „vnd“, „gspunst“), einer bewusst kunstvollen Syntax und einem dramatischen Ton. Es herrscht ein klagender Gestus vor. Die erste Zeile — „Sag hiemit auch den Parcis ab“ — ist eine formelhafte Lossagung, die einen Bruch mit dem Schicksal markiert.
Die Reime sind im Kreuzschema (ab ab) organisiert, mit Binnenklang („gespunnen / gwunnen“, „drey / bey“) und Wortspiel („blawen dunst“). Die Verwendung von Verben wie „verlohren“, „müßt hängen“ oder „vmbgangen“ betont das Motiv der existenziellen Ohnmacht und des Leidens.
Inhaltliche Interpretation
Balde spricht in dieser Strophe ein tiefes Unbehagen über sein Schicksal aus. Er „sagt den Parzen ab“ – also den drei Schicksalsgöttinnen –, weil ihr Wirken ihm mehr Schaden als Nutzen gebracht habe:
• „Sag hiemit auch den Parcis ab“ – Dies ist ein bewusster Bruch mit dem vom Schicksal vorgegebenen Lebensweg.
• „Die mir bißher gespunnen“ – Die Parzen haben den Lebensfaden gesponnen; er erkennt sie rückblickend als Quelle von Leid.
• „Bey denen ich an meinem Grab / Verlohren mehr als gwunnen“ – Bereits zu Lebzeiten, am eigenen „Grab“, spürt er Verluste (vermutlich moralischer, existentieller, sozialer oder emotionaler Art) stärker als Gewinne.
• „Falsch und Vntrew seynd alle drey / Haimblich mit mir vmbgangen“ – Der Dichter klagt die Schicksalsmächte an, ihn im Verborgenen betrogen zu haben.
• „Müßt an jhr Gspunst vnd blawen dunst / Mein Leib vnd Leben hangen!“ – Er beklagt, dass sein ganzes Leben an den ungreifbaren, undurchsichtigen (blauer Dunst = Illusion, Lüge) Fäden der Parzen hängt.
• Hier spricht eine tiefe Frustration gegenüber der vermeintlichen Vorherbestimmtheit des Lebens. Der Dichter sieht sich nicht als autonom Handelnder, sondern als Spielball dunkler Mächte.
Mythologische Symbolik
Die Parzen (römisch: Parcae, griechisch: Moiren) stehen im Zentrum der Strophe. Diese drei Göttinnen des Schicksals – Clotho (die Spinnerin), Lachesis (die Zuteilerin) und Atropos (die Abschneiderin des Lebensfadens) – symbolisieren die Unverfügbarkeit des Lebens und die Macht des Fatum.
Indem Balde ihnen abzusagen versucht, lehnt er das passive Erdulden seines Schicksals ab. Diese Geste ist in mythologischem Sinne blasphemisch oder rebellisch – denn niemand kann sich dem Wirken der Parzen entziehen. Doch gerade in dieser Revolte liegt die tief barocke Tragik: Das Schicksal wird zwar verflucht, bleibt aber dennoch wirksam.
Der „blaue Dunst“ ist eine Bildsprache für Täuschung, Trugbild und leere Versprechung – ein Hinweis auf die „falsche Hoffnung“, die ihm das Schicksal gemacht hat.
Theologisch-barocke Deutung
Im christlich-barocken Kontext wird der Rückgriff auf heidnische Mythologie häufig allegorisch oder ironisch verwendet. Baldes Klage ist weniger ein metaphysisches Bekenntnis als vielmehr eine literarische Darstellung innerer Zerrissenheit.
Die „Falschheit“ der Parzen kann als Sinnbild für das weltliche Vertrauen gelesen werden, das nach barocker Denkweise immer enttäuschen muss. So könnte die Lossagung von den Parzen auch eine versteckte Hinwendung zu einem christlich-gottvertrauenden Weltbild andeuten – der Mensch soll sich nicht auf „blauen Dunst“ oder irdische Hoffnung stützen, sondern auf göttliche Vorsehung.
Zudem ist die barocke Betonung des Todes und der Vergänglichkeit hier deutlich spürbar. Der Dichter lebt „am eigenen Grab“, in einer Art vorweggenommener Endlichkeit – ein klassisches Vanitas-Motiv.