Ehrenpreiß 21

Jacob Balde

Ehrenpreiß 21

Komb her dem Keuschheit angenemb/
Vnd will ein Gspons erfragen:
Die Töchter zu Jerusalem
Einhellig alle sagen;
Vnd heben drauff zween Finger auff/
Daß vnder allen Frommen/
Maria frey die schönste sey/
Durchauß kein außgenommen.

Analyse

Ein kurzes geistliches Gedicht aus dem Barock, entfaltet in seiner konzentrierten Form eine Lobpreisung der Jungfrau Maria. Es ist sowohl literarisch als auch theologisch aufgeladen und greift auf Motive der Hoheliedtradition, mariologischer Dogmatik und barocker Rhetorik zurück.
Eine kunstvolle Miniatur geistlicher Poesie, in der theologische Hochachtung, mystische Bildsprache und barocke Formkunst verschmelzen. Die Sprache verweist auf biblische und liturgische Kontexte (Hohelied, Marienlob), während die Szene die Jungfrau Maria zur unvergleichlichen Braut des Himmels erhebt. Das Gedicht ist in seiner Kürze sowohl Gebet als auch kleine theatralische Szene – ein marianischer „Augenblick der Ewigkeit“.
Die Verse stehen in der langen Tradition biblischer und mystisch-marienhafter Poesie, die in Maria die einzig wahre Braut Christi sieht — schöner als alle Töchter Jerusalems, weil sie Gnade, Demut und Keuschheit in höchstem Maße verkörpert.

Inhaltliche Struktur und Thematik

Das Gedicht lässt sich als kleine Szene verstehen:
• Eine Aufforderung („Komb her“) richtet sich an die Keuschheit („Keuschheit angenemb“), eine personifizierte Tugend, die einen „Gspons“ – also einen Bräutigam – erfragen will. Darauf antworten die „Töchter zu Jerusalem“ einstimmig, dass unter allen frommen Frauen Maria die schönste sei.
• Diese Struktur erinnert an ein dramatisch inszeniertes marianisches Gloria: Maria wird als Inbegriff weiblicher Heiligkeit und Schönheit dargestellt – ausgezeichnet unter allen Frauen.

Literarische Mittel und Sprache

a) Archaische Sprache und Rhythmus
• Der Gebrauch süddeutscher bzw. frühneuhochdeutscher Orthographie („Komb“, „Gspons“, „durchauß“) verleiht dem Gedicht barocke Färbung und Musikalität.
• Das Versmaß ist vierhebiger Jambus mit Paarreimen (aabb), was dem Text eine gewisse Feierlichkeit und Geschlossenheit verleiht.
b) Rhetorische Figuren
Personifikation: Die Keuschheit wird als Subjekt angesprochen, als sei sie eine reale Gestalt.
Topos der „Töchter zu Jerusalem“: Ein Anklang an das Hohelied Salomos (vgl. Hld 5,9; 6,1), wo die Töchter Jerusalems den Dialog mit der Braut führen. Dieser Bezug bringt Maria in Verbindung mit der Braut Gottes, die traditionell mit der Kirche, aber auch mit der Jungfrau Maria identifiziert wird.
Hyperbel: „Durchauß kein außgenommen“ steigert die Einzigartigkeit Marias ins Absolute.
c) Gestikulierende Szene
Die Geste der „zween Finger“ (zwei erhobene Finger) ist auffällig und doppeldeutig. Sie kann:
• auf die Zweiheit von Naturen Christi verweisen (christologische Deutung),
• auf die Zweiheit von Jungfrau und Mutter hinweisen (mariologische Deutung),
• oder schlicht als emphatische Bekräftigung dienen (barocke Theatralik).

Theologische Implikationen

a) Marienverehrung im Barock
Das Gedicht preist Maria nicht nur als moralisches Ideal (keusch, fromm), sondern als überragende Gestalt unter allen Frommen. Damit nähert sich die Darstellung dem dogmatischen Gedanken der „Tota pulchra“ (Ganz-Schöne) an – eine Formel der unbefleckten Empfängnis.
b) Maria als Typus der Kirche und Braut Christi
Indem sie als „schönste“ unter den „Töchtern Jerusalems“ herausgestellt wird, wird sie gleichsam zur paradigmatischen Braut. Damit wird sie nicht nur als Mensch, sondern auch als theologisch-symbolische Figur lesbar – eine Brücke zwischen Gott und Menschheit.
c) Mystisches Liebesideal
Die Frage nach einem „Gspons“ (Bräutigam) und die Antwort, dass Maria die Erwählte sei, knüpft an die Sprache mystischer Brautmystik an, in der Christus der göttliche Bräutigam ist, Maria oder die Seele aber die Erwählte.

Barocke Frömmigkeit und Stil

Das Gedicht ist tief geprägt vom barocken Katholizismus:
Affektgeladene Religiosität: Die emotionale Beteiligung (Geste, Einstimmigkeit) zeigt eine vom Herzen geprägte Marienfrömmigkeit.
Hierarchisches Weltbild: Maria nimmt einen klaren Rang über allen anderen ein – kein demokratisches, sondern ein monarchisch geprägtes Bild geistlicher Würde.
Sinnfälligkeit: Die Geste der Finger, die Aussage „durchauß kein außgenommen“ – dies sind Verkörperungen von inneren Wahrheiten in äußere Zeichen. Ein Prinzip der barocken compositio loci.

Hohelied (Canticum Canticorum) 6,9

„Eine ist meine Taube, meine Makellose, die einzige ihrer Mutter, die Auserwählte der sie geboren hat. Die Töchter sahen sie und priesen sie selig; Königinnen und Nebenfrauen rühmten sie: Wer ist sie, die hervortritt wie die Morgenröte, schön wie der Mond, klar wie die Sonne, furchtbar wie ein Heer mit Bannern?“
Diese Stelle bildet das wohl wichtigste biblische Substrat für Baldes Zeilen. Die Formulierung der Töchter Jerusalems, das Einhellige, das Lob auf eine „einzige“ makellose Frau, und die visuelle Schönheit als Zeichen geistiger Hoheit spiegelt sich klar in Baldes Versen:
„Die Töchter zu Jerusalem / Einhellig alle sagen“ ist eine fast wörtliche Referenz an das Canticum.
Maria erscheint hier als die typologische Erfüllung der Braut im Hohelied, was typisch ist für die marianische Exegese seit dem Mittelalter.

Lukas 1,28–42 (Verkündigung und Begegnung mit Elisabeth)

„Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen.“
„Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.“
• Diese neutestamentlichen Verse begründen Mariens einzigartige Erwählung unter allen Frauen, was Balde mit der Wendung „daß unter allen Frommen / Maria frey die schönste sey“ aufgreift.
• Die „Frommen“ entsprechen hier nicht bloß einer Kategorie von Tugendhaften, sondern dem ganzen Typus der biblisch-heiligen Jungfrauen und Mütter (Sara, Rebekka, Judith, etc.), die in Maria überboten werden.
Litanei von Loreto (spätes Mittelalter, tradiert bis Barock)
„Virgo praedicanda“ (Rühmenswürdige Jungfrau),
„Mater purissima“ (Allerreinste Mutter),
„Regina virginum“ (Königin der Jungfrauen)
• Diese marianischen Titel zeigen, wie sehr das barocke Sprachgefühl von Balde an die überlieferte Litanie anschließt. Besonders „Regina virginum“ wird zum dogmatischen Hintergrund für die Aussage, dass Maria „die schönste“ sei — nicht äußerlich, sondern in Reinheit, Gnade und Erwählung.

Johannes Tauler, Predigten (14. Jh., rezipiert bis in Baldes Zeit)

• Tauler beschreibt Maria oft als den „reinen Spiegel der göttlichen Weisheit“ und „das einzige Gefäß der Demut und Gnade“. Diese Mystik betont, dass Maria nicht nur passiv schön ist, sondern durch ihre leere, bereitwillige Aufnahme des göttlichen Willens zur Schönsten aller wird.
• Baldes „Komb her dem Keuschheit angenemb“ folgt dieser Vorstellung: die Schönheit Mariens ist Frucht ihrer Keuschheit, nicht nur körperlich, sondern geistlich.

Angelus Silesius (Nahe Zeitgenosse Baldes)

(z. B. Cherubinischer Wandersmann, II, 124)
„Maria ist das Bild der reinen Seelen,
Die sich mit Gott vermählen wollen.“
• Diese Linien greifen dieselbe Bildlichkeit wie Balde auf: die Seele als Jungfrau, Maria als archetypische mystische Braut, die als einzige würdig ist, dem Logos sich zu einen. Damit wird die „G’sponsfrage“ (Brautwerbung), von der Balde spricht, zum typologisch-mystischen Akt: Gott sucht eine Braut, die „Keuschheit angenehm“, und nur Maria erfüllt dieses Bild vollkommen.
• Die Formulierung „die schönste \[...] kein ausgenommen“ betont die Einzigartigkeit Mariens im Sinne von exklusiver Erwählung, nicht nur metaphorisch, sondern heilsgeschichtlich begründet — eine Theologie in Poesieform.

Dieser Beitrag wurde unter Lyrik abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert