Jacob Balde
Ehrenpreiß 11
Was soll ein blosser Schatten seyn/
Nur ein Figur der Alten/
Gegen dem hellen Sonnenschein?
Das Feld kans nit erhalten.
Ein Engel sag/ so vil er mag/
Vnd hör nie auff zuschreiben:
Wirdt doch darob/ allzeit vom Lob/
Das maist jhm vberbleiben.
Analyse
Jacob Baldes Ehrenpreiß 11 ist ein kurzes, kunstvoll gebautes Gedicht, das in dichterischer Dichte zentrale Themen der barocken Frömmigkeit und Poetik berührt: die Unzulänglichkeit der Bilder, die Ohnmacht des Lobes angesichts göttlicher Größe, und das Verhältnis von Schatten und Licht als Allegorie für Vorbild und Erfüllung, Zeitlichkeit und Ewigkeit.
Ein paradigmatisches Beispiel barocker Lyrik: reflexiv, demütig und zugleich hochambitioniert. Es bringt in dichterischer Verdichtung das Verhältnis von Zeichen und Wirklichkeit, menschlichem Bemühen und göttlicher Größe, Bild und Erfüllung zur Sprache. Dabei wird nicht resigniert, sondern lobend geahnt: Im Bewusstsein des Ungenügens liegt die höchste Form der Anerkennung.
Balde, ein jesuitischer Barockdichter, verband rhetorische Brillanz mit theologischer Tiefe. In diesem Text ist die zentrale Bewegung die des Überstiegs – von der Figur zur Wahrheit, vom menschlichen Lob zur göttlichen Wirklichkeit. Dabei spiegelt sich das barocke Weltbild wider: die Welt ist Spiegel, Gleichnis, Schatten. Die Wahrheit liegt jenseits, bleibt aber durch Sprache – sei es auch unzulänglich – zu bezeugen.
Form und Aufbau
Das Gedicht besteht aus zwei vierzeiligen Strophen (jeweils in Kreuzreim: abab), metrisch im Barock oft üblich als vierhebige Verse mit wechselndem Auftakt. Die Sprache ist prägnant, mit barocktypischer rhetorischer Dichte, Antithesen und steigernden Bildern.
Inhaltliche Analyse
Strophe 1: Schatten und Licht
> Was soll ein blosser Schatten seyn / Nur ein Figur der Alten / Gegen dem hellen Sonnenschein? / Das Feld kans nit erhalten.
• Diese Strophe spielt auf das platonisch-theologische Motiv der "Schattenbilder" an. Die "Figur der Alten" verweist auf die alttestamentlichen Vorbilder, die im Lichte des Neuen Testaments – symbolisiert durch den "hellen Sonnenschein" – verblassen. Die rhetorische Frage bringt die Unangemessenheit zum Ausdruck, mit der etwas bloß Vorläufiges oder Symbolisches (Schatten, Figur) mit der vollen Wirklichkeit (Sonne, Gegenwart Gottes) verglichen wird.
• Der Schlussvers „Das Feld kans nit erhalten“ bringt die Bildlichkeit ins Konkrete: Ein Schatten hat keine Substanz; er kann das Feld, d.h. den Raum der Wirklichkeit, nicht behaupten. Dies spielt auf die ontologische Schwäche von bloßen Zeichen gegenüber der Wahrheit an.
Strophe 2: Lobpreis und seine Grenzen
> Ein Engel sag/ so vil er mag / Vnd hör nie auff zuschreiben: / Wirdt doch darob/ allzeit vom Lob / Das maist jhm vberbleiben.
• Hier wechselt die Perspektive vom Vergleich zur Reflexion über das Lob Gottes. Selbst ein Engel, also ein vollkommenes geistiges Wesen, kann nur unvollständig Gottes Größe ausdrücken. Das Verb „aufschreiben“ verweist auf poetisch-prophetisches Tun (evtl. auch auf den Dichter selbst), aber selbst dieses Streben nach Vollendung gerät ins Unendliche.
• Die letzten Verse heben die Unangemessenheit menschlichen und sogar engelhaften Lobes hervor: „Wirdt doch darob/ allzeit vom Lob / Das maist jhm vberbleiben.“ – Der größte Teil des göttlichen Lobes bleibt selbst den Engeln ungesagt. Dies ist ein Ausdruck barocker Demut, aber auch des barocken Strebens nach Transzendenz im Wissen um ihre Unerreichbarkeit.
Thematische Schwerpunkte
a) Barocke Theologie und Hermeneutik
Das Gedicht nimmt zentrale Topoi der barocken Frömmigkeit auf: Typologie (Altes Testament als Schatten des Neuen), das Ineffabile (das Unaussprechliche Gottes), die Hierarchie der Wesen (Engel > Mensch), und das Bewusstsein der Unvollkommenheit alles Geschöpflichen gegenüber dem Göttlichen.
b) Poetik der Grenze
Balde reflektiert nicht nur inhaltlich, sondern poetologisch: Der Versuch des Dichters, Lob zu formulieren, ist ein Unternehmen, das sich seiner eigenen Begrenztheit bewusst ist. Selbst der beste Redner („ein Engel“) bleibt hinter dem Gegenstand seines Lobes zurück.
c) Schatten-Sonne-Metaphorik
Diese klassische Allegorie reicht von Platon über Augustinus bis zur mittelalterlichen und barocken Lichtmetaphysik. Die „Schatten“ stehen für Vorzeichen, unvollkommene Erkenntnis oder vergangene Heilsgeschichte. Die „Sonne“ steht für die Offenbarung, Wahrheit, Christus.
Stilistische Mittel
Antithese: Schatten – Sonnenschein; Engel – Gott; sagen – überbleiben
Allegorie und Typologie: Der Schatten als alttestamentliches Zeichen.
Hyperbel: „hör nie auff zuschreiben“ – das unendliche Lob Gottes.
Personifikation: Der Engel als dichterische Figur, die sich abmüht.
Rhetorische Frage: Ein barockes Stilmittel, das die Aussage verstärkt.