Hans Aßmann von Abschatz
Die fremde Regung
Im Mittel aller Lust/ die Glück und Zeit mir geben/
Kan ich ohn Silvien nicht frölich leben;
Und wenn ich bey ihr bin/ so spielet um mein Hertz
Ein angenehmer Schmertz.
-
Mein Sinn fühlt sich gereizt von unbekandtem Triebe/
Ich such/ und treffe sie doch ohne Furcht nicht an.
Wofern ein Mensch iemahls unwissend lieben kan/
So glaub ich/ daß ich liebe.
Analyse
Hans Aßmann von Abschatz' Gedicht »Die fremde Regung« gehört zur spätbarocken Lyrik und zeigt eine interessante Spannung zwischen kontrollierter Affektivität, galantem Ton und einer tiefen inneren Bewegung, die in der Titelgebung selbst als »fremde Regung« bezeichnet wird. Ein Vergleich mit Andreas Gryphius, Paul Fleming und Friedrich Gottlieb Klopstock bietet eine Möglichkeit, Entwicklungslinien der Liebeslyrik vom Barock bis in die Empfindsamkeit bzw. den frühen Sturm und Drang zu verfolgen.
Beispiel barocker Liebeslyrik, zentrale Motive wie Liebesleid, Ambivalenz der Gefühle und die Erfahrung des Unbewussten.
Vers-für-Vers-Analyse
Im Mittel aller Lust/ die Glück und Zeit mir geben/
• »Im Mittel aller Lust« positioniert das Ich in einem Zustand höchster Lebensfreude und Genuss – »Lust« steht hier für weltliche Freuden.
• »Glück« (Schicksalsgunst) und »Zeit« (Vergänglichkeit, aber auch Lebenszeit als Geberin von Momenten) sind barocke Kategorien.
• Doch bereits hier wird Spannung eingeführt: Obwohl alles zu stimmen scheint, fehlt offenbar etwas Wesentliches.
→ Barockes Motiv: Vanitas (Vergänglichkeit alles Irdischen), aber auch die begrenzte Gültigkeit äußerer Güter ohne seelische Erfüllung.
Kan ich ohn Silvien nicht frölich leben;
• Silvie wird als notwendige Bedingung echter Freude genannt: Das Ich kann ohne sie nicht »fröhlich leben« – die äußeren Gaben (»Lust, Glück, Zeit«) reichen nicht.
• Es handelt sich also nicht nur um ein amouröses Interesse, sondern um existenzielle Abhängigkeit.
→ Motiv der Minne: Die Geliebte als Lebenssinn, fast mystisch überhöht.
→ Gleichzeitig: Typische barocke Ambivalenz von Innen (Sehnsucht) und Außen (äußere Lust).
Und wenn ich bey ihr bin/ so spielet um mein Hertz / Ein angenehmer Schmertz.
• Paradoxon: »angenehmer Schmertz« – Schmerz wird hier positiv konnotiert, als bittersüßer Zustand.
• Das Wort »spielet« verleiht dem Schmerz eine gewisse Leichtigkeit oder Unberechenbarkeit – er ist dynamisch, lebendig.
• Auch eine erotische Note ist möglich: Nähe zur Geliebten erzeugt körperliche Erregung, seelische Unruhe.
→ Topos: Liebesschmerz als süße Qual – zentral in der barocken Liebesdichtung, beeinflusst von Petrarkismus.
Mein Sinn fühlt sich gereizt von unbekandtem Triebe/
• Der »Sinn« (Verstand oder Empfindung) wird gereizt – also aufgewühlt, nicht kontrollierbar.
»unbekandter Trieb« zeigt: Es geht um ein inneres Begehren, das sich der bewussten Reflexion entzieht.
• Diese Formulierung weist auf eine tiefere psychologische Dimension hin – vielleicht sogar ein vorbewusstes oder unbewusstes Verlangen.
→ Frühpsychologische Dimension, auch in Verbindung mit dem Konzept der »fremden Regung« (Titel).
→ Der Liebestrieb ist rätselhaft, fremd, unkontrollierbar – das Ich ist von sich selbst entfremdet.
Ich such/ und treffe sie doch ohne Furcht nicht an.
• Paradoxe Bewegung: Das Ich sucht Silvie – will ihr nahe sein – doch ihre Gegenwart ist furchteinflößend.
• Diese Furcht könnte auf die Tiefe des Gefühls, die Unerreichbarkeit oder die Selbstentblößung vor dem Anderen hinweisen.
• Alternativ könnte es die Angst vor Zurückweisung oder die Macht der Leidenschaft ausdrücken.
→ Motive: Ambivalenz von Nähe und Distanz; Eros als Gefahr und Erfüllung zugleich.
Wofern ein Mensch iemahls unwissend lieben kan/
• Bedingungssatz: Wenn es möglich ist, »unwissend« zu lieben – also ohne zu wissen, was Liebe eigentlich ist –
• Das lyrische Ich zweifelt an seinem Verständnis von Liebe, erlebt sie aber dennoch intensiv.
• Reflexion über das Paradox: Kann man lieben, ohne zu wissen, dass oder warum man liebt?
→ Motiv des Nicht-Wissens, typisch für barocke Seelenlage: Zwischen Rätselhaftigkeit und Erfahrung.
So glaub ich/ daß ich liebe.
• Schlussfolgerung aus der vorherigen Überlegung: Trotz oder wegen des Nichtwissens liebt das Ich.
»glaub ich« bringt Unsicherheit und Subjektivität ins Spiel.
• Liebe wird hier nicht als objektives Wissen, sondern als innerer Glaube, als Bekenntnis erfahren.
→ Subjektive Erkenntnisweise, sehr modern: Liebe als Gefühl jenseits von Ratio.
Zusammenfassung der zentralen Motive:
• Ambivalenz von Lust und Leid
• Unerklärbarkeit der Liebe (fremde Regung)
• Selbstentfremdung durch das Gefühl
• Barocke Gegensätze: Glück vs. Schmerz, Nähe vs. Furcht, Wissen vs. Glauben
• Eros als fremde, übermächtige Kraft
Stilistische Analyse
1. Form und Aufbau
• Versmaß: Das Gedicht besteht aus einem einzigen achtzeiligen Strophenblock, wobei die Metrik auf einem fünfhebigen Jambus beruht, wie für die Lyrik des Barock typisch. Allerdings ist der Rhythmus bewusst leicht variiert, was dem innerlich bewegten Inhalt entspricht.
• Reim: Das Reimschema ist nicht durchgehend regelmäßig (z. B. geben – leben, Hertz – Schmertz, Triebe – liebe, an – kan), es bewegt sich zwischen Paarreimen und Kreuzreimen. Dies erzeugt eine gewisse musikalische Spannung, passend zur thematisierten inneren Unruhe.
2. Sprachliche und stilistische Mittel
a) Antithetik (typisch barocke Spannungsstruktur)
• Die ersten beiden Verse kontrastieren äußere Glücksumstände (»Im Mittel aller Lust / die Glück und Zeit mir geben«) mit einer inneren Leere ohne die Geliebte (»Kann ich ohn Silvien nicht fröhlich leben«). Das betont das barocke Motiv von vanitas und der Unvollständigkeit irdischer Freude.
• Auch in den Versen 3–4 wird das Paradox deutlich: »Ein angenehmer Schmertz« – eine klassische Oxymoron-Struktur, die Lust und Leid untrennbar verknüpft.
b) Metaphorik und Empfindungsrhetorik
• »Spielet um mein Hertz« – das Bild des Herzens als Zentrum emotionaler Bewegung verweist auf die frühbarocke Seelenpsychologie. Das Verb »spielet« verleiht der Empfindung eine fast körperlich fühlbare Dynamik.
• »Unbekandter Trieb«: Eine metaphorische Beschreibung des Affekts, die auf den barocken Topos des irrationalen, übermächtigen Gefühls verweist.
c) Personifikation und Emotionalisierung
• »Mein Sinn fühlt sich gereizt«: Hier wird der »Sinn« – im Sinne des Verstandes oder inneren Empfindens – zur aktiv empfindenden Instanz personifiziert.
• Die Angst (»ich such/ und treffe sie doch ohne Furcht nicht an«) verleiht dem emotionalen Zustand Tiefe: Freude an der Geliebten ist mit Zittern und Scheu verwoben – typisch für höfische Liebeslyrik.
d) Hypotaxe und Reflexivität
Stilistische Analyse
Besonders die letzten beiden Verse (»Wofern ein Mensch iemahls unwissend lieben kan / So glaub ich/ daß ich liebe«) zeigen einen reflektierenden, fast philosophischen Duktus. Das Gedicht schließt mit einer Art epistemologischer Paradoxie: Liebe wird behauptet gerade durch ihre Unwissenheit – ein Rückgriff auf neuzeitliche Erkenntnistheorie (Descartes, frühaufklärerisches Denken), gepaart mit emotionalem Pathos.
3. Stilniveau und Diktion
• Die Sprache ist gehoben, aber nicht überladen. Sie folgt der barocken Tendenz zur Kunstsprache: häufige Alliterationen (z. B. »Silvien… so spielet«) und Klangfiguren.
• Der Ton ist empfindsam, jedoch nicht sentimental – eine kontrollierte Affektivität ist typisch für den höfischen Stil des Hochbarock.
4. Barockes Lebensgefühl
• Das Gedicht spiegelt die Grundhaltung der Barockzeit: das Bewusstsein innerer Zerrissenheit, die Verbindung von Leidenschaft und Vernunft, Eros und Furcht, Sehnsucht und Scheu.
• Der Titel »Die fremde Regung« verweist auf die Unerklärlichkeit und Fremdheit der eigenen Gefühle – eine Art Vorwegnahme psychologischer Innenwelt, wie sie im 18. Jahrhundert ausgeprägt wird.
Seelische Deutung
• Das Gedicht stellt die Erfahrung einer innerlich fremden Regung in den Mittelpunkt. Diese regt das »Herz« an – der Seelensitz im frühneuzeitlichen Denken – mit einem »angenehmen Schmerz«. Diese oxymoronische Formulierung ist Ausdruck einer paradoxen Seelenbewegung:
• Die Seele erlebt im Zustand der Freude (»aller Lust«) zugleich eine Unruhe, einen Mangel.
• Diese Unruhe ist nicht selbstgewählt: »Mein Sinn fühlt sich gereizt von unbekandtem Triebe« – ein unbekannter Trieb zeigt die Selbstentfremdung des Liebenden.
• Silvie wird zur Projektionsfläche eines inneren Prozesses, dessen Ursprung außerhalb des bewussten Selbst liegt – Sehnsucht als seelisches Erzittern.
• Die Seele steht hier an der Schwelle zwischen Kontrolle und Ohnmacht – der barocke Topos der inneren Zerrissenheit, oft auch im religiösen Kontext als Kampf zwischen Leib und Geist gedeutet.
Theologische Deutung
• Obwohl das Gedicht nicht explizit theologisch formuliert ist, lässt sich vor dem Hintergrund barocker Denkformen (v.a. Neuplatonismus und pietistische Gefühlstheologie) eine theologische Schicht erschließen:
• Der »unbekandte Trieb« kann als göttliche Inspiration oder Anrufung gedeutet werden – eine »Regung von außen«, wie es etwa auch mystische Liebeserfahrungen beschreiben.
• Die Fremdheit des Gefühls (»Ich such/ und treffe sie doch ohne Furcht nicht an«) kann als Zeichen der Unverfügbarkeit göttlicher Gnade gelesen werden: Die Liebe kommt, aber sie erschüttert und ängstigt.
• »Wenn ein Mensch jemahls unwissend lieben kan / so glaub ich/ daß ich liebe« – das erinnert an negative Theologie, bei der der Mensch die wahre Liebe (zu Gott oder durch Gott) nur in einem Zustand des »Nichtwissens« erfährt.
Affektpsychologische Deutung
• Barocke Affektlehre (u.a. nach Descartes, Galenus, oder in protestantischer Predigttradition) verstand den Menschen als durch Leidenschaften bewegbar, aber auch zu deren Reflexion fähig:
• Die Affekte sind hier widersprüchlich konnotiert: Freude (Lust), Schmerz, Furcht, Sehnsucht.
• Besonders wichtig ist die ambivalente Mischung von Lust und Angst, typisch für die Liebe in der barocken Dichtung – der Geliebte steht zwischen Erfüllung und Zerrissenheit.
• Die psychologische Spannung entsteht durch die Ungewissheit über die eigene Regung: »Wenn \[…] unwissend lieben kan / so glaub ich/ daß ich liebe.«
• Dies ist eine proto-psychologische Selbstbeobachtung: Das Ich reflektiert seinen inneren Zustand nicht als Gewissheit, sondern als Glaube – was dem modernen Begriff von »unbewusster Regung« erstaunlich nahekommt.
Sprachlich-rhetorische Untersuchung
• Die rhetorischen Mittel im Gedicht dienen vor allem dazu, den inneren Zwiespalt des lyrischen Ichs darzustellen — zwischen Lust und Unruhe, zwischen Nähe und Furcht, zwischen Gefühl und Unwissenheit. Es handelt sich um ein sprechendes Beispiel für frühbarocke Emotionsrhetorik, geprägt von kultivierter Ausdrucksweise und reflektierter Leidenschaft.
a) Antithese
> »Im Mittel aller Lust \[…] kann ich ohn Silvien nicht frölich leben«
• Die Spannung zwischen äußerem Glück (»aller Lust«) und innerer Leere (»ohn Silvien«) wird antithetisch aufgebaut. Die Antithese wird durch die direkte Gegenüberstellung zweier gegensätzlicher Zustände (Lust – Unfröhlichkeit) erzeugt.
b) Paradoxon / Oxymoron
> »Ein angenehmer Schmertz«
• Diese paradoxe Formulierung steht exemplarisch für das barocke Lebensgefühl. Schmerz und Angenehmes werden verbunden, um die ambivalente Natur der Liebe zu verdeutlichen. Auch typisch für Petrarkismus, in dem süßes Leid eine zentrale Figur darstellt.
• c) Chiasmus und Inversionen
> »Ich such/ und treffe sie doch ohne Furcht nicht an.«
• Die Satzstruktur ist leicht verschoben: »Ich suche \[sie], aber ich treffe sie nicht ohne Furcht an«. Die Umstellung betont das Moment der Furcht. Der Einschub »doch ohne Furcht nicht« wirkt wie eine parenthetische Betonung der Unsicherheit.
Rhetorische Frage und Selbstbeantwortung
> »Wofern ein Mensch jemahls unwissend lieben kan/
> So glaub ich/ daß ich liebe.«
• Die rhetorische Frage steht am Ende und leitet über in eine reflexive Aussage: Der Sprecher erkennt seine Liebe gerade daran, dass sie sich seiner Erkenntnis entzieht – ein klassisches Motiv der barocken Liebesdichtung, in der das Unbegreifliche der Leidenschaft Teil ihrer Größe ist.
Sprachlich-stilistische Untersuchung
• Hier steht die konkrete sprachliche Gestaltung im Vordergrund – insbesondere Wortwahl, Syntax, Klang und Metrik.
a) Lexik (Wortwahl)
• Abstrakta wie »Lust«, »Zeit«, »Furcht«, »Trieb«, »Liebe« – diese Worte vermitteln ein hohes Maß an Emotionalität und Abstraktion.
• »Silvien« als ein klassisch anmutender Frauenname verweist auf die Topoi höfischer bzw. petrarkistischer Liebeslyrik.
• Verben wie »spielet«, »fühlt«, »sucht«, »trifft«, »glaub ich« sind affektiv und subjektzentriert.
b) Syntax und Stil
• Vorwiegend hypotaktischer Stil, aber in stark rhythmisierten, teilweise elliptischen Sätzen.
• Die Umstellung von Satzgliedern (z. B. Inversionen: »so spielet um mein Hertz ein angenehmer Schmertz«) hebt die emotionale und poetische Wirkung hervor.
• Der Stil ist von einem gemäßigten Barockton geprägt: kultiviert, aber nicht überladen; reflektiert, aber nicht kunstvoll überformt.
c) Klang- und Stilfiguren
• Alliteration (»Silvien – spielet – Schmertz«) steigert den klanglichen Reiz.
• Assonanz und Binnenreimähnlichkeiten: »Triebe – liebe«, »geben – leben« – diese lautlichen Effekte dienen der musikalischen Strukturierung.
d) Metrik
• Vierzeilige Strophenform mit durchgängiger Zweizeilenschlussbetonung.
• Der Rhythmus ist trochäisch geprägt, gelegentlich mit Auftaktvariationen.
• Reimschema: aabb, typisch für barocke Kleinlyrik, mit Tendenz zur abgeschlossenen, pointierten Aussage.
Motivgeschichtliche Einordnung
Das Motiv der »fremden Regung« / unerklärlichen Liebe
• Das zentrale Motiv ist eine irrationale, unerklärliche Liebe, die der Sprecher selbst nicht ganz versteht (»unbekandter Trieb«, »unwissend lieben«).
• Dies ist typisch für die barocke Darstellung von Leidenschaft als Macht, der das Subjekt ausgeliefert ist.
• Es entspricht der barocken Vorstellung vom Menschen als durch Affekte Getriebener, oft in Spannung zur Vernunft oder sozialen Konvention.
Angenehmer Schmerz – »angenehmer Schmertz«
• Die Verbindung von Lust und Schmerz, das bittersüße Empfinden, ist ein Topos der Liebeslyrik seit der Antike, aber besonders beliebt in der barocken Dichtung.
• Diese Ambivalenz verweist auch auf petrarkistische Traditionen, wie sie durch Martin Opitz nach Deutschland vermittelt wurden.
Liebesunruhe / »fremder Trieb«
• Die Unruhe des Ichs angesichts einer unbekannten inneren Bewegung verweist motivgeschichtlich auf das barocke Interesse an Psychologie, Triebstruktur und Selbstbeobachtung.
• Auch die Gefahr in der Nähe der Geliebten ist ein gängiges Motiv: Liebe wird nicht nur als schön, sondern auch als gefährlich dargestellt (»ich such/ und treffe sie doch ohne Furcht nicht an«).
Stilistische Merkmale
• Antithetik: Lust ↔ Schmerz, Nähe ↔ Furcht
• Selbstreflexion: Das Ich beobachtet sich selbst beim Empfinden (»Ich glaub, dass ich liebe«)
• Mäßigung: Kein ekstatisches Ausbrechen, sondern kontrollierte Beschreibung innerer Bewegung – Zeichen des höfischen Ideals.
➤ »Die fremde Regung« steht literaturgeschichtlich im Barock, genauer im Kontext höfischer Dichtung der zweiten Schlesischen Schule. Abschatz verbindet typische barocke Motive wie unerklärliche Liebe, angenehmer Schmerz, und Affektpsychologie mit einer reflektierten, stilisierten Sprache. Das Gedicht steht somit zwischen barocker Leidenschaft und aufklärerischer Selbstbeobachtung – und zeigt bereits Tendenzen zur Individualpsychologie, die später in der Aufklärung ausgebaut werden.
Literarische Topoi
1. »Lust« und »angenehmer Schmerz«: der topos der dolor amoris
> »Ein angenehmer Schmertz«
• Dieser scheinbare Paradoxon – Lust inmitten des Schmerzes, Schmerz inmitten des Glücks – verweist auf den Topos des »süßen Schmerzes der Liebe« (suavis dolor, dolor dulcis), ein zentraler Bestandteil der barocken Liebesdichtung. Schon bei Ovid und später bei Petrarca erscheint diese Ambivalenz: Liebe ist keine reine Freude, sondern erzeugt innere Zerrissenheit, ein bittersüßes Gefühl zwischen Sehnsucht und Erfüllung.
2. Unerklärlicher Trieb: amor ignotus
> »Mein Sinn fühlt sich gereizt von unbekandtem Triebe«
• Hier wird der Liebestrieb als fremde, unerklärliche Regung dargestellt – ein Topos des unbewussten oder irrationalen Liebesgefühls (amor ignotus, passio ignota). Dies entspricht dem barocken Menschenbild, in dem das Subjekt nicht vollständig Herr über seine Leidenschaften ist. Abschatz betont die Fremdheit und Unverfügbarkeit der Liebe, die dem Individuum als affectus alienus erscheint.
3. Unwissenheit in der Liebe: nescio quid amo
> »Wofern ein Mensch iemahls unwissend lieben kan / So glaub ich/ daß ich liebe.«
• Dieser Vers paraphrasiert den berühmten Topos des »Ich weiß nicht, was ich liebe, aber ich liebe« – ein Konzept, das bereits in der Antike vorkommt (z. B. bei Augustinus: nescio quid amo, nescio quem amo), und auch in der mystischen Tradition (Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz) präsent ist. In der höfischen und barocken Liebesdichtung wird damit die Irrationalität, ja Transzendenz des Liebesgefühls betont.
4. Liebe als Suche und Furcht: amor timidus
> »Ich such/ und treffe sie doch ohne Furcht nicht an.«
• Dieser Vers greift den Topos der furchtsamen Annäherung auf. Das Subjekt sucht zwar die geliebte Person, begegnet ihr jedoch mit Scheu. Dies ist besonders in der Petrarkistischen Tradition verbreitet, wo der Anblick der Geliebten Ehrfurcht, ja Angst auslöst, weil sie als überhöhtes, fast göttliches Wesen empfunden wird.
5. Unverzichtbarkeit der Geliebten: sine te vivere non possum
> »Kan ich ohn Silvien nicht frölich leben«
• Hier begegnet uns der klassische Topos der Lebensunfähigkeit ohne die Geliebte (non possum sine te vivere). Dieser Gedanke findet sich häufig in der Neulateinischen und barocken Dichtung, aber bereits auch in der römischen Liebespoesie (z. B. Properz, Tibull). Die geliebte Frau wird zur Lebensbedingung des lyrischen Ichs.
• dolor amoris | »Ein angenehmer Schmertz« | Süßer Liebesschmerz als Ambivalenz der Liebe |
• amor ignotus | »unbekandtem Triebe« | Liebe als fremde, unbegreifliche Regung |
• nescio quid amo | »unwissend lieben« | Liebesempfindung ohne kognitives Verständnis |
• amor timidus | »treffe sie doch ohne Furcht nicht an« | Scheu vor der Geliebten |
• sine te vivere non possum | »ohn Silvien nicht frölich leben« | Unmöglichkeit, ohne die Geliebte zu leben |
Barocke Rhetorik
Antithetik
• Typisch für die barocke Stilistik ist der Gebrauch von Antithesen, um Spannungen zu verdeutlichen:
»Im Mittel aller Lust / die Glück und Zeit mir geben« ↔ »ohn Silvien nicht frölich leben«
→ Die äußeren Umstände (Glück, Zeit) sind zwar günstig, doch ohne Silvie ist keine wahre Freude möglich.
»Ein angenehmer Schmertz«
→ Diese Oxymoron ist typisch barock: Schmerz und Lust als paradoxe Einheit der Liebe.
Affektrhetorik und Emotionsdarstellung
Der Barock liebte es, Emotionen zu inszenieren. Das Gedicht arbeitet mit einer gesteigerten Affektivität: »spielet um mein Hertz«, »gereizt von unbekandtem Triebe«, »treffe sie doch ohne Furcht nicht an«.
→ Die Gefühle sind nicht ruhig oder rein – sie sind dramatisch, wechselhaft und oft widersprüchlich.
Topos der amor hereos
• Die Liebe ist nicht bloß Zuneigung, sondern eine krankhafte Leidenschaft: Das »Herz« leidet, fühlt sich »gereizt«, »ohne Furcht« kann die Geliebte nicht aufgesucht werden.
→ Dies entspricht dem barocken Liebestopos des »heldenhaften«, leidenschaftlichen, ja oft selbstzerstörerischen Liebenden.
Formale Merkmale
Alexandriner (sechshebiger Jambus mit Zäsur nach der dritten Hebung) → typisch für den Barock, besonders für die Sonettform.
• Reime: Paarreim, der hier einfache Ordnung suggeriert, während das Thema von innerer Zerrissenheit spricht → spannungsgeladenes Verhältnis zwischen Form und Inhalt.
Metaphysische Implikationen
Liebe als transzendentale Kraft
Die »fremde Regung«, der »unbekandte Trieb« deutet auf eine Kraft, die nicht rational erfassbar ist. Diese Liebe ist nicht steuerbar oder erklärbar.
→ Der Dichter erkennt die Liebe als metaphysisches Phänomen, das über Erfahrung und Erkenntnis hinausgeht.
Platonische Grundstruktur
Die Frau (Silvie) ist nicht nur ein menschliches Gegenüber, sondern auch Objekt einer idealen Projektion – möglicherweise eine Allegorie für das Göttliche oder das Absolute. Die Suche nach ihr ist angstbesetzt, was auf das Mysterium verweist, das sich nie ganz erschließen lässt.
Anthropologische Unsicherheit
• Die letzten Verse – »Wofern ein Mensch iemahls unwissend lieben kan / So glaub ich/ daß ich liebe« – bringen eine skeptische Selbstreflexion ins Spiel:
• Erkenntnisgrenze: Kann der Mensch überhaupt wissen, was Liebe ist?
• Unbewusstheit als Zustand der Liebe: Das »unwissende Lieben« ist ein paradoxes, fast mystisches Konzept → ähnlich dem mittelalterlichen docta ignorantia (Nikolaus von Kues), wonach das wahre Erkennen im Nicht-Wissen besteht.
Liebe als Erkenntnisweg
• In dieser Ungewissheit und paradoxen Emotion (»angenehmer Schmerz«) zeigt sich die Liebe als Weg der Selbsterkenntnis und transzendentalen Erfahrung, nicht bloß als Gefühl. Sie führt an Grenzen: der Sprache, des Wissens, des Ichs.
• Abschatz' Gedicht ist ein typisches Produkt des Barock mit rhetorischer Kunst, psychologischer Feinheit und metaphysischem Tiefgang. Es verbindet stilistische Raffinesse (Antithese, Oxymoron, Affektinszenierung) mit einem philosophisch-theologischen Unterton, der die Liebe als einen Geisteszustand des Erstaunens, Suchens und Nicht-Wissens zeigt – ein Zwischenreich zwischen Erfahrung und Transzendenz.
Poetologischer Kontext
Deutscher Barock, im Spannungsfeld zwischen affektgeladener Liebeslyrik, neulateinischer Gelehrtenkultur und der beginnenden Subjektivitätserkundung in der frühneuzeitlichen Dichtung.
1. Gattungs- und Stilkontext: Barocke Liebeslyrik
• Abschatz' Gedicht ist ein typisches Beispiel für barocke Liebeslyrik:
Formal:
• Vierzeilige Strophenform mit Paarreimen (aa / bb)
• Knapp gefasst, pointiert, mit klarer Wendung im letzten Vers
Thematisch:
• Liebe als paradoxale Erfahrung zwischen Lust und Schmerz
• Ein innerer »Trieb«, der unbekannt, fremd und irrational ist
• Mischung aus sinnlichem Begehren und geistigem Unbehagen
• Diese Ambivalenz ist typisch für die barocke Darstellung der Liebe, in der sinnliches Verlangen oft mit moralischer Reflexion und religiöser Unsicherheit einhergeht.
2. Poeta doctus – Gelehrsamkeit und Reflexion
• Abschatz gehört zu den sogenannten »poetae docti«, den gebildeten Dichtern seiner Zeit, die sich um sprachliche Raffinesse und inhaltliche Tiefe bemühten. Der Text ist nicht bloß Ausdruck spontanen Gefühls, sondern ein reflektiertes lyrisches Konstrukt:
• Die Wendung »So glaub ich, daß ich liebe« verweist auf eine Selbstbeobachtung des lyrischen Ichs.
Die Liebe wird nicht als unmittelbare Emotion erlebt, sondern als rätselhafte Regung, die analysiert werden muss – fast wie ein psychologischer Prozess avant la lettre.
• Diese introspektive Haltung rückt das Gedicht in den Umkreis frühmoderner Selbstreflexion und Seelenkunde, die auch bei Autoren wie Andreas Gryphius oder Paul Fleming anzutreffen ist.
3. Spannungsverhältnis: Vernunft vs. Gefühl
• In der letzten Zeile kulminiert das Gedicht in einem epistemologischen Dilemma:
> »Wofern ein Mensch iemahls unwissend lieben kan / So glaub ich, daß ich liebe.«
• Dies ist ein hochreflexiver, fast cartesianischer Moment: Liebe ohne Wissen, Gefühl ohne Erkenntnis. Das Ich sieht sich ohnmächtig gegenüber einer inneren Bewegung, die sich dem rationalen Zugriff entzieht – »unbekandter Trieb«. Dies verweist auf einen Dualismus von:
• Affektiver Bewegung (Regung, Schmertz)
• Kognitiver Unfähigkeit, diese zu ordnen
• Solche Spannung gehört zum zentralen Weltgefühl des Barocks, das von Zerrissenheit, Unsicherheit und dem Bruch zwischen Schein und Sein geprägt ist.
4. Poetologische Funktion des Paradoxen
• Die Verbindung von »angenehmer Schmertz« und »unbekandtem Trieb« ist ein klassisches barockes Oxymoron, das nicht nur den Inhalt, sondern auch die poetologische Haltung markiert:
• Die Kunst besteht darin, Gegensätze sprachlich zu versöhnen (dolce dolor).
• Das Gedicht selbst wird zur Reflexionsfläche des inneren Zwiespalts – ein typisches Kennzeichen der barocken Emblematik und Konzeptpoesie.
5. Verhältnis zur Tradition – Petrarkismus und Neostoizismus
• Abschatz steht im Einflussbereich des Petrarkismus:
• Die Verehrung Silviens erinnert an das donna angelicata-Motiv.
• Zugleich bleibt eine gewisse Distanz: keine ekstatische Vereinigung, sondern eine scheue Suche, geprägt von Zurückhaltung (»ich such, und treffe sie doch ohne Furcht nicht an«).
• Der Neostoizismus hingegen wird spürbar in der inneren Selbstbeherrschung: Das Ich gibt sich nicht der Leidenschaft hin, sondern reflektiert sie skeptisch. Dies entspricht der frühneuzeitlichen Idee, dass der Weise sich durch Kontrolle seiner Leidenschaften auszeichnet.
Poetologische Relevanz
• Das Gedicht ist ein Beispiel für die poetische Selbstreflexion des Subjekts in der Barockzeit:
• Es verbindet affektive Erfahrung mit rationaler Distanz.
• Es macht die sprachliche Darstellung des Inneren selbst zum Thema.
• Es steht in der Tradition gelehrter Lyrik, die emotionales Erleben in formale Klarheit bringt und zugleich dessen Unverfügbarkeit thematisiert.