Der Henker

Hugo Ball

Der Henker

Ich kugle Dich auf Deiner roten Decke.
Ich bin am Werk: blank wie ein Metzgermeister.
Tische und Bänke stehen wie blitzende Messer
der Syphiliszwerg stochert in Töpfen voll Gallert und Kleister.
-
Dein Leib ist gekrümmt und blendend und glänzt wie der gelbe Mond
deine Augen sind kleine lüsterne Monde
dein Mund ist geborsten in Wollust und in der Jüdinnen Not
deine Hand eine Schnecke, die in den blutroten Gärten voll Weintrauben und Rosen wohnte.
-
Hilf, heilige Maria! Dir sprang die Frucht aus dem Leibe
sei gebenedeit! Mir rinnt geiler Brand an den Beinen herunter.
Mein Haar ein Sturm, mein Gehirn ein Zunder
meine Finger zehn gierige Zimmermannsnägel
die schlage ich in der Christenheit Götzenplunder.
-
Als dein Wehgeschrei dir die Zähne aus den Kiefern sprengte
da brach auch ein Goldprasseln durch die Himmelssparren nieder.
Eine gigantische Hostie gerann und blieb zwischen Rosabergen stehen
ein Hallelujah gurgelte durch Apostel- und Hirtenglieder.
-
Da tanzten nackichte Männer und Huren in verrückter Ekstase
Heiden, Türken, Kaffern und Muhammedaner zumal
Da stoben die Engel den Erdkreis hinunter
Und brachten auf feurigem Teller die Finsternis und die Qual.
Da war keine Mutterknospe, kein Auge mehr blutunterlaufen und ohne Hoffen
Jede Seele stand für die Kindheit und für das Wunder offen.

Analyse

• »Der Henker« ist ein expressionistisches Fieberwerk, das in seiner sprachlichen Radikalität und religiösen Grenzüberschreitung eine ekstatische Weltwende imaginiert. Zwischen Blasphemie, Mystik und Groteske erschafft Hugo Ball ein prophetisches Bild der Auflösung traditioneller Ordnungen – und einer zugleich erschreckenden wie hoffnungsvollen Offenheit für das »Wunder«.
• Ein sprachgewaltiger, grotesk-ekstatischer Text, der das Heilige und das Obszöne, das Körperliche und das Metaphysische, die Apokalypse und die Ekstase in einem Bildrausch vereint. Hugo Ball dekliniert in wenigen Strophen eine radikale Kulturkritik, die durch sakrale Parodie, ekstatische Vision und sprachliche Überforderung eine neue Dimension lyrischer Erfahrung schafft.
• Die religiöse Bildwelt wird nicht nur pervertiert, sondern zur Projektionsfläche für eine transrationale, ekstatische Welterfahrung, in der sich die Grenzen von Subjekt, Körper, Welt und Gott auflösen – ganz im Geiste einer Mystik, die durch das Chaos ins Offene führt.
• »Der Henker« ist ein psychodramatisches Gedicht voller ekstatischer Wucht. Es bringt Dadaismus, Christentum, Sexualität und Revolte in ein fiebriges Gleichgewicht. Die Ich-Figur ist Täter, Prophet und Opfer zugleich. Die psychologische Spannung speist sich aus der Überlagerung von Blasphemie, Lust, Erlösungssehnsucht und Weltabkehr. Literarisch steht Ball damit in der Nähe expressionistischer Dichter wie Else Lasker-Schüler oder Georg Trakl, überschreitet deren symbolische Ordnung aber zugunsten einer radikalen Bildsprache.
• Es lässt sich als Gegensakrament lesen – sowohl als Mysterienspiel der Befreiung wie auch als Klagelied auf die Verrohung der Moderne. In dieser Doppeldeutigkeit liegt seine Kraft:
• als mystische Utopie, weil es durch die Obszönität hindurch auf ein Wunder hofft, das nur jenseits von Moral und Ordnung möglich scheint,
• als apokalyptisches Dokument, weil es die Ikonographie des Untergangs nicht nur beschreibt, sondern performativ aufruft – und so im Innersten von Balls Dadaismus den Schrei nach einer neuen, verwandelten Welt hörbar macht.

Inhaltliche Analyse und Gliederung

1. Strophe: Einführung in das Szenario der Gewalt
Der Sprecher stellt sich als »Henker« dar, der auf einer »roten Decke« seine grausige Arbeit verrichtet. Die Szenerie gleicht einer Schlachtbank: »blank wie ein Metzgermeister«, Tische und Bänke sind »blitzende Messer«. Die Figur des »Syphiliszwergs« verstärkt die Atmosphäre der Krankheit, Degeneration und des Ekels.
➡ Motivfeld: Gewalt – Krankheit – Zersetzung
2. Strophe: Sexualität und sakrale Körperlichkeit
Der Fokus verschiebt sich auf den Körper einer Frau, der zugleich faszinierend, erotisch und entstellt erscheint. Ihre »kleinen lüsternen Monde« (Augen) und der »geborstene« Mund in »der Jüdinnen Not« verbinden Lust und Leid, Erotik und religiöse oder ethnische Referenz. Die Hand als »Schnecke« evoziert zugleich Lustorgan und Rückzug.
➡ Motivfeld: Erotik – Körperlichkeit – weibliche Sakralität und Leid
3. Strophe: Blasphemische Verknüpfung von Religion und Sexualität
Ein ekstatischer Schrei nach Maria (Geburtsmutter Christi) wird zur Kulisse für körperlich-sexuelle Entgrenzung (»Mir rinnt geiler Brand…«). Der Sprecher identifiziert sich mit einem zerstörerischen Furor: Sturm, Zunder, Zimmermannsnägel – letzteres eine Anspielung auf die Kreuzigung.
➡ Motivfeld: Blasphemie – erotische Gottesbegegnung – Zerstörung religiöser Ordnung
4. Strophe: Apokalyptischer Umschlag in Vision
Der Schmerz der Frau (»Wehgeschrei«) führt zu einer surrealen Himmelsvision. Das Bild der »gigantischen Hostie«, die stehen bleibt, evoziert eine sakrale Stasis – die unterbrochene Zeit, der Moment der Offenbarung.
➡ Motivfeld: Liturgie – kosmische Verzückung – Schmerz als Transzendenzschlüssel
5. Strophe: Auflösung der Weltordnung in ekstatischer Universalmystik
In der letzten Strophe kippt das Szenario in eine Mischung aus dionysischer Orgie und eschatologischer Vision: alle Kulturen (auch »Kaffern«, »Türken«, »Muhammedaner«) tanzen gemeinsam in entgrenzter Ekstase. Engel stürzen zur Erde, bringen aber »Finsternis und Qual«. Dennoch endet die Vision in einer paradoxen Hoffnung: »Jede Seele stand für die Kindheit und für das Wunder offen.«
➡ Motivfeld: Kosmische Umkehr – interreligiöse Ekstase – neue Unschuld

Philosophisch-theologische Deutung

1. Der Henker als mystischer Antichrist
Die Figur des Henkers verkörpert eine pervertierte Christusfigur oder einen ekstatischen Zerstörer, der das Heilige entlarvt und entweiht. In ihm verschmelzen Lust, Gewalt und religiöse Transzendenz. Seine Instrumente sind irdisch (»Zimmermannsnägel«), doch sein Ziel ist eine transzendente Grenzüberschreitung.
2. Sexualität und Sakralität
Ball dekonstruiert das traditionelle christliche Bild der Maria und bringt sie in eine radikale Nähe zu Körperlichkeit, Lust und Tod. Die heilige Fruchtbarkeit wird mit obszöner Hitze kontrastiert. Dies könnte auf eine gnostisch-mystische Erfahrung des »Durchbruchs« (wie bei Meister Eckhart) hindeuten – allerdings auf den Kopf gestellt.
3. Der apokalyptische Universalismus
Im ekstatischen Chaos der letzten Strophe begegnen sich alle Religionen – nicht in Harmonie, sondern in entgrenzter Orgie. Hier klingt eine visionäre Hoffnung auf transkulturelle Einheit an, allerdings durch den Weg der Zerstörung: Die Engel bringen »Finsternis«, nicht Licht. Doch das Wunder bleibt möglich – in der »Kindheit« der Seele.
4. Kritik an Heilsversprechen
Der Text ironisiert christliche Erlösungsbilder: Hostie, Hallelujah, Apostel und Hirten werden in groteske Verzerrungen überführt. Ball zeigt eine Welt, in der Heil nicht mehr durch institutionalisierte Religion erreichbar ist – sondern nur in der paradoxen Grenzerfahrung von Ekstase, Leid und Körperlichkeit.

Strukturelle Mittel und Rhetorik

1. Sprachrhythmus und Bildgewalt
Der Text ist in freien Versen verfasst, mit abrupten Bildwechseln und rhythmischen Schlägen. Der Stil erinnert an liturgische Refrains und apokalyptische Visionen. Das Bildvokabular ist drastisch, surreal und körpernah.
2. Reihung und Steigerung
Die einzelnen Strophen bauen sich in einer spiralartigen Steigerung auf: von der körperlichen Gewalt über erotische Verzückung zur blasphemischen Überhöhung und schließlich zur apokalyptischen Weltenwende. Die wiederholte Anrufung religiöser Begriffe (Maria, Hostie, Halleluja) steigert sich bis zur finalen Entgrenzung.
3. Kontraste und Metaphern
Kontraste durchziehen den gesamten Text: hell/dunkel, Lust/Schmerz, Sakral/Obszön, Kindheit/Zerstörung. Diese Gegensätze sind nicht als klare Trennungen gesetzt, sondern verschmelzen ineinander, was einen schockierenden Effekt erzeugt. Typisch expressionistische Metaphern (»mein Gehirn ein Zunder«, »mein Haar ein Sturm«) drücken inneres Beben und psychische Ekstase aus.
4. Provokation und Tabubruch

Sprache und Stilmittel

Die Sprache ist expressiv, surreal, teilweise archaisch-religiös aufgeladen und in ihrer Bildhaftigkeit bewusst übersteigert. Ball verwendet ein hohes Maß an Metaphorik, Synästhesien, Alliterationen und symbolischen Überfrachtungen.
Metaphern wie »deine Hand eine Schnecke« oder »mein Gehirn ein Zunder« verknüpfen Körperliches mit Tierischem oder Stofflichem – Zeichen einer Entgrenzung des Subjekts.
Synästhesien und groteske Körperbilder überfluten den Text: »geiler Brand«, »blutrote Gärten«, »Zähne aus den Kiefern gesprengt«.
Alliterationen (»blutroten Gärten voll Weintrauben und Rosen«, »geiler Brand an den Beinen«) steigern die phonetische Präsenz des Gedichts und verstärken seinen körperlich-eruptiven Charakter.
Stilistisch nähert sich der Text der Litanei, Beschwörung oder Apokalypsepredigt, was durch den Ruf »Hilf, heilige Maria!« und die Rede von Hostie, Hallelujah und Engel unterstrichen wird.
Zentrale Stilmittel sind auch:
Ekphrasis: die bildhafte Beschreibung ekstatischer oder grausamer Szenen.
Anakoluth und Parataxe: Der Satzbau zerfällt stellenweise, z.B. in den eruptiven Ausrufen und der bewusst gestörten Syntax.
Kontrastierung: zwischen Heiligem und Obszönem, Kultischem und Perversion, Licht und Finsternis.

Gattungs- und Stilkontext

• Das Gedicht ist dem literarischen Expressionismus zuzuordnen, weist aber auch deutlich auf den frühen Dadaismus voraus – insbesondere in seiner performativen Struktur und antizivilisatorischen Haltung. Ball war 1916 Mitbegründer des Zürcher Cabaret Voltaire, dem Ursprungsort des Dadaismus.
• Der Expressionismus (ca. 1910–1925) reagiert auf Entfremdung, Krieg, Industrialisierung und Werteverfall mit radikaler Subjektivität, Tabubruch und Sinnsuche. In dieser Tradition steht »Der Henker«, das aber mit seiner apokalyptischen Collage, Bildsprache und religiösen Parodie bereits das dadaistische Weltbild der absurden Totalzerstörung ankündigt.
• Gattungstechnisch handelt es sich um ein lyrisches Ich-Drama, das sich teils als Beschwörung, teils als surrealer Monolog vollzieht. Die Nähe zur Vision, zur Apokalypse, zur Trancepredigt oder zum mystischen Delirium ist offenkundig.

Ausführliche semantische Analyse

1. Der Henker als Ich-Figur
Der Titel »Der Henker« evoziert Gewalt, Todesurteil, rituelle Tötung – der Sprecher ist kein neutraler Beobachter, sondern Vollstrecker einer grotesken, sakral-pervertierten Welterfahrung. Die Aussage »Ich bin am Werk: blank wie ein Metzgermeister« betont sein grausames Handwerk, aber auch seine sachliche Kälte. Der Henker ist ein Archetyp des entfesselten Menschen im Ausnahmezustand: Täter und Priester zugleich.
2. Körperbilder und Erotik
• Die Beschreibung der zweiten Strophe kreist um das Objekt der Begierde, das zugleich mit religiöser und sexueller Ikonographie überfrachtet wird. Die Frau (vielleicht Jüdin – »in der Jüdinnen Not«) wird mit Naturbildern und lunaren Symbolen (Mond, Weintrauben, Rosen) sexualisiert. Die Sexualität wird nicht als Akt der Liebe, sondern als Form der Zerstörung und Unterwerfung geschildert.
• Besonders die Wendung »geborsten in Wollust« und die »blutroten Gärten« suggerieren nicht nur Begehren, sondern eine durchdrungene Körperlichkeit, die sich mit Schmerz, Schuld und sakraler Ambivalenz verbindet.
3. Sakrale Parodie und Apokalyptik
• Ab der dritten Strophe kulminiert das Gedicht in einem sakralen Wahnsinn: Maria, Hostie, Hallelujah – Begriffe des Heiligen werden in einen Zustand absoluter Verfremdung überführt.
• Die Hostie, die »zwischen Rosabergen« gerinnt, ist ein pervertiertes Sakrament.
• Der Ausruf »Hilf, heilige Maria!« bleibt unbeantwortet und führt nur zur Selbstverbrennung (»geiler Brand an den Beinen«).
• Der Christus- und Marienkult wird mit obzöner Körperlichkeit und Gewalt konterkariert – ein Schlag gegen die verlogene Moral der bürgerlichen Gesellschaft.
4. Finale Vision: Ekstase und Zerstörung
• Die letzte Strophe zeigt eine visionäre Eskalation. Die Welt gerät in kultische Raserei: »nackichte Männer und Huren«, »Heiden, Türken, Kaffern und Muhammedaner«. Der globale religiöse Pluralismus bricht ins Zentrum eines christlich-abendländischen Enddramas ein. Die Engel, anstatt Licht zu bringen, tragen die Finsternis und die Qual.
• Und doch endet das Gedicht mit einem Moment der Verklärung:
Jede Seele stand für die Kindheit und für das Wunder offen.
Trotz aller Zerstörung eröffnet sich eine Möglichkeit der metaphysischen Reinheit, der Rückkehr zu Unschuld und Transzendenz. Die Seelen sind entleert von Ideologie, bereit für das Wunder – vielleicht eine dadaistische Vision des Nichts als Neuanfang.

Psychologische Dimension

• Das Gedicht ist durchzogen von einem inneren Spannungsfeld zwischen Sadismus und Ekstase, Ekel und Begehren. Die Ich-Figur tritt als »Henker« auf – nicht nur im physischen, sondern im spirituellen Sinne: ein Sezierer, ein Vernichter von Sinn, Ordnung, Reinheit. Die Grenzüberschreitung in Körperlichkeit und Sexualität (z. B. »geiler Brand an den Beinen«, »dein Mund ist geborsten in Wollust«) spiegelt eine psychische Überforderung durch Trieb, Schuld und Heiligkeit wider.
• Die Spannung zwischen religiösem Impuls und blasphemischer Revolte ist psychologisch zentral: Die »heilige Maria« wird zugleich angerufen und entweiht; die »gigantische Hostie« wird zur absurden Vision, zur halluzinierten Erscheinung einer zerbrochenen metaphysischen Ordnung. Man könnte sagen: Ball inszeniert ein ekstatisches Ich, das in einem fiebrigen Bilderstrom zwischen mystischer Vision, Triebüberschuss und kultureller Katastrophe taumelt.

Literarische Topoi

Der Henker: Klassischer Topos des Vernichters, hier aber mit surrealem, fast rituellem Einschlag. Die Funktion des Henkers ist hier nicht nur strafend, sondern schöpferisch im destruktiven Sinn – als Gegen-Prophet, der Wahrheit durch Zerschlagung enthüllt.
Blasphemie und religiöse Umkehrung: Der Text spielt mit Motiven christlicher Ikonographie (Maria, Hostie, Hallelujah), um diese in groteske, ekstatische Bilder zu verkehren. Der Topos der verkehrten Welt ist erkennbar: Engel stürzen zur Erde, Heiden tanzen, die Hostie wird zur Monstranz des Untergangs.
Apokalypse: Nicht im Sinne des göttlichen Gerichts, sondern als Zusammenbruch aller Ordnungen. Der letzte Vers bricht in eine Vision auf, in der nach der Katastrophe ein kindlich-offenes Seelenfeld möglich scheint – eine ironische oder verzweifelt-utopische Öffnung.

Symbole und Motive

Mond und Körper: Der weibliche Körper erscheint als glänzender, lunatischer Körper (Mond), als Spiegelbild von Lust, Gefahr, Mystik. »Dein Leib \[…] glänzt wie der gelbe Mond« verweist auf eine gefährlich verführerische, dämonisierte Weiblichkeit.
Körperlichkeit / Deformation: »Zähne aus den Kiefern gesprengt«, »Syphiliszwerg«, »gierige Zimmermannsnägel« – groteske, medizinisch-obszöne Körperbilder drücken eine tiefe psychische Deformation aus. Der Körper ist hier nicht Ort des Lebens, sondern Ort der Entstellung und der Begierde zugleich.
Christliche Bilderwelt: Maria, Hostie, Hallelujah, Engel – alles Symbole der Heilsordnung, die hier pervertiert, ironisiert oder in visionärer Übersteigerung aufgelöst werden. Die Hostie steht still zwischen »Rosabergen« – ein Bild mystischer Entrückung oder sexueller Überdeterminierung?
Feuer / Licht / Finsternis: »Zunder«, »Goldprasseln«, »feuriger Teller« – apokalyptisches Licht steht der »Finsternis und der Qual« gegenüber. Die Gegensätze steigern die Spannungen im Text: zwischen Erleuchtung und Vernichtung, Ekstase und Tod.

Historisch-kultureller Kontext

• Das Gedicht steht ganz im Zeichen des Dadaismus, den Ball 1916 mitbegründete – als Reaktion auf den Irrsinn des Ersten Weltkriegs. Die Sprache in »Der Henker« ist dementsprechend zerrissen, aufgeladen, explosiv: Ausdruck eines zivilisatorischen Zusammenbruchs, einer mystisch-masochistischen Vision, in der Religion, Körperlichkeit und kulturelle Identität explodieren.
• Die antiklerikale, aggressiv-erotische Bildsprache ist mit den Erfahrungen einer zerstörten metaphysischen Ordnung verknüpft. Die katholisch geprägte Symbolik (Maria, Hostie, Hallelujah) wird durchmischt mit sexuellem Fieber, Ekstase und apokalyptischer Vision – eine Art Umkehrung des christlichen Heilsnarrativs ins Obszöne und Visionäre. Die Figur des »Henkers« ist nicht nur Vollstrecker, sondern auch Prophet, Opfer, Liebhaber, Blasphemiker.

Lexikalik und Wortfelder

Ball arbeitet mit extrem aufgeladenen Wortfeldern, die sich teils überlagern, teils paradox kontrastieren:
Körper / Fleisch / Krankheit:
»Leib«, »Augen«, »Mund«, »Hand«, »Beine«, »Zähne«, »Haar«, »Gehirn«, »Finger« – der Körper ist zentral, aber deformiert, krank, überreizt. Syphilis, Geilheit, Verstümmelung, Wollust sind allesamt Signaturen einer verletzten und perversen Inkarnation.
Religiös-metaphysische Begriffe:
»heilige Maria«, »gebenedeit«, »Christenheit«, »Götzenplunder«, »Hostie«, »Hallelujah«, »Engel«, »Apostel« – die religiöse Sprache wird nicht ehrfürchtig verwendet, sondern als Material zerlegt, verzerrt, vermischt mit Sexualität und Gewalt.
Ethnisch und kulturell aufgeladene Begriffe:
»Jüdinnen Not«, »Heiden, Türken, Kaffern und Muhammedaner« – diese sind nicht neutral, sondern zeugen von der provozierenden, zynischen, postkolonial brisanten Bildwelt, die Ball in der Überhöhung der Abweichung (vom europäischen Idealbild) beschwört. Die Begriffe sind gleichzeitig kritisch-spiegelnd wie auch ambivalent rassistisch – typisch für einen Dadaisten, der mit Grenzverletzung arbeitet, aber nicht immer aus heutiger Sicht unproblematisch.

Metaphysische Implikationen

Im Zentrum steht die Frage: Was bleibt, wenn die Transzendenz zusammenbricht? Die Antwort lautet bei Ball: eine grelle, verstörende Vision zwischen Ekstase und Hölle.
Inkarnation pervertiert:
Die Anrufung Marias wird konterkariert durch den »geilen Brand«, der an den Beinen herunterrinnt – eine Gegen-Inkarnation. Die »Frucht«, die ihr aus dem Leib sprang, erinnert an Christus, wird aber zur sexualisierten Parodie.
Apokalypse statt Heilsgeschichte:
Der »Goldprasseln«-Moment scheint ein göttliches Zeichen – aber was folgt, ist keine Erlösung, sondern »Finsternis und Qual«, geliefert von Engeln selbst. Das ist Gotteslästerung und Mystik in einem: eine negative Theologie, in der die Heilsversprechen der Religion als sadistische Visionen umschlagen.
Mystik durch Ekstase der Auflösung:
Der Schlussvers ist fast tröstlich: »Jede Seele stand für die Kindheit und für das Wunder offen.« Nach dem Orkan der Bilder, nach Schmerz, Ekstase und sakraler Obszönität bleibt vielleicht doch eine Form des Wunders – eine Wiedergeburt jenseits von Ordnung, Kultur, Sprache.

Freie Prosaübertragung

1.
Ich wälze deinen Leib auf dem roten Teppich.
Ich bin am Werk – kalt, entschlossen wie ein Schlächter.
Um uns stehen Tische und Bänke wie blitzende Messer,
ein Zwerg, geschwächt von Syphilis, rührt in ekelhaften Töpfen.
2.
Dein Körper ist gekrümmt, blendend, leuchtend wie ein gelber Mond.
Deine Augen, lüsterne kleine Monde.
Dein Mund – zerborsten vor Lust und jüdischem Leid.
Deine Hand, eine Schnecke, einst beheimatet in Gärten voll Wein und Rosen, blutigrot.
3.
Heilige Maria, hilf! Auch dir sprang einst die Frucht aus dem Leibe –
sei gepriesen! An meinen Beinen rinnt die heiße Geilheit herab.
Mein Haar ist ein Sturm, mein Hirn aus Zunder,
meine Finger zehn gierige Nägel – bereit, die Götzen der Christenheit zu durchbohren.
4.
Als dein letzter Schrei dir die Zähne aus dem Kiefer riss,
brach goldener Regen durch die Sparren des Himmels.
Eine gigantische Hostie gerann und stand wie eingefroren zwischen rosafarbenen Bergen,
ein »Halleluja« gurgelte durch die Glieder der Apostel und Hirten.
5.
Da tanzten nackte Männer und Huren in rauschhafter Ekstase.
Heiden, Türken, Schwarze, Muslime – alle dabei.
Die Engel stürzten zur Erde,
brachten auf feurigen Tellern Dunkelheit und Qual.
Kein Mutterkeim, kein Auge mehr blutunterlaufen, kein verzweifeltes Hoffen –
jede Seele öffnete sich wie eine Blume –
für das Kind, für das Wunder.

»Der Henker« als mystische Utopie

Trotz seiner eruptiven Gewalttätigkeit trägt das Gedicht Züge eines ekstatischen Durchbruchs, einer transgressiven Transformation der Welt und des Subjekts. Der Henker, eigentlich ein Symbol der Vernichtung, wird bei Ball zu einem alchemistischen Operator, der Zerstörung in Offenbarung überführt. Die Sprache steigert sich zur Liturgie des Absurden, doch gerade darin liegt ihre mystische Qualität:
»Hilf, heilige Maria! Dir sprang die Frucht aus dem Leibe / sei gebenedeit! Mir rinnt geiler Brand an den Beinen herunter.«
Die blasphemisch-erotische Paraphrase der Verkündigung und Geburt Christi stellt keine bloße Provokation dar, sondern evoziert eine neue, archaisch-sinnliche Form des Heiligen. Der Körper wird nicht überwunden, sondern durch seine Exzesse hindurch vergeistigt – vergleichbar mit den ekstatischen Visionen eines Jakob Böhme oder einer Hadewijch von Antwerpen, bei denen göttliche Offenbarung durch das sinnlich Überwältigende hindurch spricht. Im Finale heißt es:
»Da war keine Mutterknospe, kein Auge mehr blutunterlaufen und ohne Hoffen / Jede Seele stand für die Kindheit und für das Wunder offen.«
Diese Zeilen, nach all der Obszönität und Gewalt, eröffnen eine Rückkehr zur Reinheit, nicht durch Unschuld, sondern durch die Katharsis des Wahnsinns. Ball entwirft hier eine mystische Utopie jenseits von Religion und Gesellschaft, eine Vision, in der Offenheit, Wunder und Kindheit als transzendente Kategorien neu erstehen.

Im Kontext apokalyptischer Visionen des 20. Jahrhunderts

Gleichzeitig ist das Gedicht tief in die apokalyptischen Strömungen seiner Zeit eingebettet. Es wurde 1916 veröffentlicht – mitten im Ersten Weltkrieg, der als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts das Vertrauen in Fortschritt, Vernunft und Ordnung zerstörte. Balls Text ist durchdrungen von diesem Zusammenbruch:
»Da tanzten nackichte Männer und Huren in verrückter Ekstase / Heiden, Türken, Kaffern und Muhammedaner zumal«
Diese Zeilen reflektieren einen Zustand totaler Entgrenzung, in dem die Apokalypse nicht mehr nur als göttliches Strafgericht, sondern als entfesselter menschlicher Trieb erscheint. Das Christentum wird in sakralen Fragmenten zitiert, nur um sie gleichzeitig in eine wüste Orgie aus Götzenplunder, Fegefeuer und sexueller Raserei zu überführen. Der Henker ist hier eine Chiffre für die Moderne selbst, die das Erbe der Religion zerstört und sich dabei dennoch einer quasi-theologischen Sprache bedient.
»Und brachten auf feurigem Teller die Finsternis und die Qual.«
Der feurige Teller als grotesk-sakraler Kommunionersatz erinnert an die durch Technik und Ideologie industrialisierte Apokalypse, wie sie sich in Bombenkrieg, Gaskammern und Massenhysterie manifestierte. In dieser Lesart steht das Gedicht neben Werken von Georg Heym, Trakl oder später Artaud – als Symptom und Zeugnis einer zerrissenen Welt, in der Gott entweder verstummt oder in Wahnsinn umgeschlagen ist.

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