Der Einsiedler

Achim von Arnim

Der Einsiedler

Dreißig Jahr im hohlen Gramm
Saß der alte Einsiedler,
Bis die reine Andachtsflamm'
Durch und durch gedrungen wär;
Und nun fühlt er sich so rein,
Keine Luft mehr athmen konnt,
Er vergeht in heil'gem Schein,
Und kein Mensch sich drinnen sonnt,
Und vor dieser Heiligkeit
Kriegte er nun eine Scheu,
Meinte sich von Demuth weit
Und begann sein Werk auf's neu.
Sonntags ging er in die Stadt,
In der Kirch' zur Kanzel klomm,
Dort mit faulen Äpfeln hat
Er beworfen, die nicht fromm.
Welch ein Lärmen, mancher Schlag,
Doch das trug der Einsiedler,
Andre Thorheit er vermag,
Um zu büßen hart und schwer.
Bei dem Juden sich verdingt,
Der am Markte Fleisch verkauft,
Ihm dann alles Fleisch verschlingt,
Daß der Jud sein Haar ausrauft,
Wird dann stumm und bleibet stumm
Bis er sich erst taufen läßt,
So geht er mit Juden um,
Um zu sorgen für ihr Best. –
Sieben Räuber, die er fand,
Speist er köstlich auf der Haid,
Daß sie Christum zugewandt
Alle ziehn in Einsamkeit. –
Einen Teufel trieb er aus,
Der ein Weib besessen hielt,
Als er einsmals kam in's Haus,
Und mit ihren Kohlen spielt,
Und die Finger nicht verbrannt,
Und das Kleid auch nicht versengt,
Alles hat sie ihm bekannt,
Buße hat er ihr verhängt. –
Hofnarr wurd' er alsobald
Und bekehrt den Komödiant,
Denn er zeigt in der Gestalt,
Daß er mehr im Spaß verstand;
Seinen Fürsten er blamirt,
Wenn der will recht vornehm thun,
Bis er recht mit Fleiß regiert,
Läßt er ihn auch gar nicht ruhn;
Alles das ganz heimlich hielt,
Bis er endlich heimlich starb,
Jeder bei dem Narren fühlt,
Daß er höh're Gnad' erwarb,
Als so manche ernste Seel',
Die mit Anstand und Moral
Nie verschuldet einen Fehl,
Auch nichts Gutes that zumal,
Und da ging es zum Bericht,
Jeder rühmt sich einer Gnad',
Schlug er einem in's Gesicht,
War es immer Gottes Rath,
Wer ihn sonst belächelt hat,
Ihn mit Kerzen nun verehrt,
Doch ein Windzug kommen that,
Löschet aus, die ihm nichts werth.
-
Wer nie mit wilder Faust
An die eherne Glocke geschlagen,
Worin der Geist gefangen haust,
Dem wird nimmermehr Ruhe zusagen,
Der hört noch nicht,
Der sieht kein Licht,
Er wähnt sich Gott,
Weiß viel von sich zu sagen.
-
Wem nie das Herz zu schnell
In den forschenden Geist eingeschlagen,
Der sieht am lichten Tag nicht hell,
Der wird über die Zeiten hinjagen,
Der hört noch nichts,
Der sieht noch nichts,
Er wähnt sich Gott,
Bis er sich überschlagen.
-
Wem nie mit Liebesmacht
Beide glühende Arme gezogen,
Bis Sie entwichen, er verlacht,
Von stockfinsteren Nächten umzogen,
Der hört mich nicht
Aus Zuversicht,
Der meint sich Gott
Und hat sich Lieb' gelogen.
-
Die blinde Leidenschaft
Ehre klagender Mensch in dem Staube,
Sie führt dich an mit deiner Kraft
Auf Klippen den Vögeln zum Raube!
Du hörst dich nicht,
Du siehst dich nicht,
Du fühlest Gott
Und betest nun mit Glauben.
-
Wem nie ging aus die Luft,
Wo er stürmend vieltausend mitrissen,
Wo Leichtsinn zu den Waffen ruft,
Der bleibt immerdar ohne Gewissen,
Der hört nur sich,
Der sieht nur sich,
Der wähnt sich Gott,
Bis er die Welt zerrissen.
-
Der sonst der Welten Lauf
Auf der eigenen Fährte sich dachte,
Sieht nun verwundert auf,
Wieviel größer sich alles rings machte,
Der hörte nicht,
Der sahe nicht,
Der meinte Gott,
Daß er das Glück verachte.
-
Wer lernen kann, der lebt,
Der nur immerdar leben wird bleiben,
Und der in allem wieder lebt,
Du Herr wirst ihn nun höher noch treiben,
Er hört in sich
Nun dich, nur dich!
Er schauet Gott,
Und wird in Gott verbleiben.

Analyse

Achim von Arnims Gedicht „Dreißig Jahr im hohlen Gramm“ ist ein komplexes poetisch-mystisches Werk, das Elemente von Legende, Mystik, Satire und Spiritualität verbindet. Es steht in der romantischen Tradition, ist aber zugleich eigenwillig, voller Kontraste und stilistischer Brüche.
Ein dichterischer Zyklus von spirituellen Stationen, Leiden, Läuterungen und ekstatischen Transgressionen, die eine Transformation des "alten Einsiedlers" nachzeichnen. Es vermengt hagiographische, groteske und mystische Elemente und bewegt sich im Spannungsfeld von Anarchismus und Heiligkeit, Ironie und Transzendenz.

Formale Analyse

• Strophenbau: Freie, heterogene Strophenstruktur, überwiegend vier- bis achtzeilig.
• Versmaß & Reim: Kein durchgehendes Metrum, teilweise Paarreime, dann wieder Kreuzreime, manchmal kein klares Reimschema. Diese formale „Zerbrechlichkeit“ spiegelt die existenzielle Unruhe.
• Sprache & Stil: Wechsel zwischen einfacher, fast volkstümlicher Sprache und dichter symbolischer Sprache. Viele Alliterationen, Ellipsen, metaphorisch aufgeladene Bilder.

Inhaltliche Analyse

Das Gedicht erzählt vom Werdegang eines „alten Einsiedlers“, der sich von asketischer Heiligkeit über eine Phase absichtlicher Erniedrigung bis zu einer höheren spirituellen Erleuchtung entwickelt. Es ist eine Parabel auf Umkehr, Buße, Demut, göttliche Gnade und die Grenzen des bloßen moralischen Lebens.
Gliederung des Inhalts:
• V. 1–8: Ein alter Einsiedler lebt 30 Jahre in Abgeschiedenheit – durchdrungen von Andacht, wird er „so rein“, dass selbst das Atmen unmöglich wird.
• V. 9–16: Er erkennt darin Hochmut („Meinte sich von Demuth weit“) und beginnt „sein Werk aufs neu“ – ein Akt radikaler Selbstkritik.
• V. 17–32: Er verhöhnt die Frömmigkeit der Stadt (mit „faulen Äpfeln“), dient einem jüdischen Fleischer, verschlingt dessen Fleisch – alles als symbolische Bußwerke.
• V. 33–48: Mission unter Räubern, Teufelsaustreibung bei einer Frau – christliche Taten in grotesker, unorthodoxer Form.
• V. 49–64: Wird Hofnarr, bekehrt einen Schauspieler, beeinflusst den Fürsten. Alles verborgen, bis er heimlich stirbt – die Wirkung bleibt.
• V. 65–72: Postume Ambivalenz: Verehrung und Ablehnung – der Wind löscht die Kerzen seiner Heiligsprechung.
• Die zweite Hälfte (ab V. 73) besteht aus einer Reihe aphoristischer Reflexionen, beginnend mit:
> „Wer nie mit wilder Faust / An die eherne Glocke geschlagen…“
• Diese stellen gewissermaßen mystische Initiationsbedingungen dar: Wer nicht durch Leidenschaft, Schuld, Nacht, Liebe, Krieg, Selbsterkenntnis und Buße gegangen ist, kann Gott weder sehen noch hören. Am Ende:
> „Er hört in sich / Nun dich, nur dich! / Er schauet Gott, / Und wird in Gott verbleiben.“
• Die Reise mündet in Kontemplation und dauerhafte göttliche Schau – eine theosis im Sinne der christlichen Mystik.

Themen & Motive

a) Mystik und Gotteserkenntnis
• Nicht Reinheit durch Askese, sondern Selbsterkenntnis durch Schuld und Demut führt zur Gnade.
• Nähe zu Jakob Böhme, Meister Eckhart, Tauler oder auch Sufi-Dichtern (vgl. Rūmī): Gott wird im tiefsten Innern erfahren, durch Krise, nicht durch Moralismus.
b) Satire auf äußere Religiosität
• Die frommen Kirchenleute werden mit „faulen Äpfeln“ beworfen – ein Zeichen ihrer inneren Fäulnis.
• Der Narr erkennt mehr vom Evangelium als der „ernste“ Moralchrist.
c) Paradoxie der Heiligkeit
• Der wahre Fromme ist kein anerkannter Heiliger, sondern erscheint als Narr, Sünder, Ketzer.
• Erst der Tod offenbart sein wahres Wesen – aber auch da ist die Verehrung zweifelhaft („ein Windzug löscht sie aus“).
d) Narr als prophetische Figur
• Wie bei Erasmus von Rotterdam oder Dostojewskij: Der Narr erkennt die Wahrheit, die die Welt für Unsinn hält.

Interpretation

a) Theologisch-spirituelle Dimension
• Das Gedicht ist eine mystische Läuterungsgeschichte, in der das Ich (in der Figur des Einsiedlers) durch die Tiefen von Hochmut, Verzweiflung, Torheit und Buße hindurch zur unio mystica gelangt. Nicht die moralische Makellosigkeit, sondern die Liebe (auch im Scheitern) führt zur göttlichen Schau:
> „Der hört in sich / Nun dich, nur dich! / Er schauet Gott…“
• Hier ist ein tiefer anthropologischer Ernst spürbar: Nur wer sich selbst durch Leiden und Schuld erkennt, kann Gott wirklich schauen – nicht durch Konventionen, sondern durch existentielle Wahrheit.
b) Romantisch-existenzielle Dimension
Der Text spiegelt das romantische Streben nach Innerlichkeit, Transzendenz und Überschreitung gesellschaftlicher und religiöser Konventionen. Die Hauptfigur ist eine Symbolgestalt des romantischen Ichs: zerrissen, tief, ironisch, irrational, sehnsüchtig.
c) Kritik an moralischem Pharisäertum
Die Zeilen:
> „Die mit Anstand und Moral / Nie verschuldet einen Fehl, / Auch nichts Gutes that zumal“
zeigen eine scharfe Kritik an bürgerlicher Tugend, die nicht durch Leidenschaft, Liebe und Selbstverleugnung zur Tat geführt hat. Arnim steht hier in einer Linie mit Jesus’ Kritik an den Pharisäern (vgl. Mt 23).

Schlussbetrachtung

Achim von Arnims Gedicht ist eine poetische Parabel über den paradoxen Weg zur Gnade: Nicht durch Reinheit, sondern durch gebrochene Liebe, durch Torheit, Schuld und radikale Demut erkennt der Mensch Gott. Der Einsiedler wird zum Narren – und gerade dadurch zum Heiligen.
> „Er hört in sich / Nun dich, nur dich! / Er schauet Gott, / Und wird in Gott verbleiben.“
• Dies ist das Ziel – die innere Gottesgeburt im Sinne der deutschen Mystik, jenseits aller religiösen Formen. Das Gedicht steht damit als ein eigenwilliges, tiefgründiges Dokument der romantischen Religiosität, das sowohl als Kritik als auch als spirituelle Vision gelesen werden kann.

Stationen des Einsiedlers – Deutung und Struktur

Der Text gliedert sich in verschiedene Lebensstationen des Einsiedlers, die von asketischer Abgeschiedenheit bis zur paradoxen Heiligkeit führen. Die Entwicklung folgt keinem linearen Weg, sondern wirkt wie eine mystische Spirale: immer neue Erfahrungen führen zu tieferer Selbsterkenntnis und göttlicher Durchdringung.
1. Die erste Askese (V. 1–8):
> „Dreißig Jahr im hohlen Gramm / saß der alte Einsiedler \[…]“
• Ein klassisches Eremitenbild: Dreißig Jahre asketische Meditation führen zur reinen Andacht, bis der Heilige selbst „in heil'gem Schein“ vergeht. Doch statt Vollendung erfolgt Demut und Neubeginn – ein Hinweis auf die Unmöglichkeit menschlicher Perfektion.
2. Umkehr in die Welt (V. 9–36):
> „Sonntags ging er in die Stadt \[…]“
• Die Heiligkeit drängt den Einsiedler zurück in die profane Welt. Doch sein Wirken ist grotesk und subversiv: Er bewirft unfromme Prediger mit faulen Äpfeln, isst dem jüdischen Fleischer alles Fleisch weg, bringt Räuber zur Umkehr. Hier tritt eine christusähnliche Verkehrung der Verhältnisse zutage: Sünde als Weg zur Gnade.
3. Teufelsaustreibung und Komödiantentum (V. 37–56):
> „Einen Teufel trieb er aus \[…] / Hofnarr wurd’ er alsobald \[…]“
• Er wird zum Hofnarren – ein Archetyp des divina stultitia („göttlichen Narren“). Er bekehrt durch Spiel und Ironie. Der Narr, der zugleich Lehrer ist, weist auf die mystische Einsicht hin, dass Wahrheit oft paradox erscheint.
4. Tod, Nachruhm und Verkennung (V. 57–72):
> „Alles das ganz heimlich hielt, / bis er endlich heimlich starb \[…]“
• Der Tod erfolgt unbemerkt, wie ein verborgenes Aufgehen in Gott. Die Nachwelt verehrt ihn – aber auf oberflächliche Weise. Der letzte Hauch Wind löscht die Kerzen: wahre Heiligkeit entzieht sich Kult und Dogma.
5. Ekstatischer Schlussgesang (V. 73–112):
Diese letzten Strophen sind ein hymnischer Ausbruch. In fünf Reflexionen wird gefragt, wer Gott wahrhaft erkennt: nur der, der durch Leidenschaft, Nacht, Verzweiflung, Liebe und Zerschmetterung gegangen ist. Der letzte Vers gipfelt in der Vereinigung:
> „Er schauet Gott, / und wird in Gott verbleiben.“

Vergleichende Analyse

1. Meister Eckhart – „Gott ist in der Seele“
Eckharts mystische Theologie erkennt Gott nur durch radikale Entwerdung (Abkehr vom Ich) und das Loslassen aller Bilder und Vorstellungen. Dies ist vergleichbar mit dem Weg des Einsiedlers, der in „Demut“ von seiner Heiligkeit zurücktritt und das Heilige in der Welt (sogar in der Groteske) sucht.
> „Der Mensch soll so arm sein, dass er auch keinen Platz für Gott hat.“ – Eckhart
• Das Gedicht zeigt diesen Weg: Der Einsiedler verliert jede Selbstgewißheit, sogar seine Heiligkeit, um ganz „leer“ zu werden – erst dann kann „Gott in ihm verbleiben“. Auch das Motiv der „Glocke, worin der Geist gefangen haust“ ist eckhartianisch: die Seele als Ort der göttlichen Möglichkeit, wenn der Mensch sie nicht mit Ich füllt.
2. Angelus Silesius – Die paradoxale Mystik
Silesius schreibt in Der Cherubinische Wandersmann ähnlich pointierte Paradoxien wie:
> „Die Ros’ ist ohn Warum, sie blühet, weil sie blühet, / Sie acht’t nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.“
• Der Einsiedler bei Arnim handelt scheinbar sinnlos, antirational, provozierend – doch darin liegt Gnade. Auch Silesius stellt äußere Moral gegen innere Verklärung. Die Gestalt des Hofnarren könnte direkt aus Silesius’ Welt stammen, in der:
> „Gott liebt sich ohne Maß, so sollst auch du ihn lieben.“
• Das Liebesmotiv bei Arnim – „wem nie mit Liebesmacht \[…] beide glühende Arme gezogen“ – entspricht der unendlichen, selbstvergessenen Liebe, die Silesius als Zugang zu Gott predigt.
3. Novalis – Die romantische Mystik
Novalis denkt die Mystik poetisch und kosmisch: der Mensch wird durch Sehnsucht und Poesie zum Medium des Göttlichen. Seine „Verklärung der Nacht“ als Ort der Wahrheit findet sich bei Arnim wieder:
> „Von stockfinsteren Nächten umzogen…“
• Auch Novalis’ Idee, dass der Dichter und der Narr Zugang zu einer tieferen Realität haben, entspricht Arnims „Hofnarr“, der durch Spiel und Torheit bekehrt. Zudem: der romantische Glaube an das unsichtbar Wirkende.
> „Indem wir träumen, erwachen wir zur höheren Wirklichkeit.“ – Novalis
• Der Einsiedler bei Arnim erkennt diese höhere Wirklichkeit nicht durch Normerfüllung, sondern durch Abstieg in die Nacht der Welt und Seele, durch radikale Grenzerfahrungen.

Fazit – Zwischen Mystik und Romantik

Arnims Einsiedler ist keine Heiligenlegende im klassischen Sinn, sondern ein romantisch-mystisches Manifest. Der Weg zu Gott führt durch Verwirrung, Bruch, Ekstase, Wahnsinn, Liebe und Tod. Im Gegensatz zur systematisch-spekulativen Mystik Eckharts, der aphoristischen Gnadenlehre Silesius’ und der poetischen Transzendenz Novalis’ vereint Arnim deren Motive in ein narratives Gedicht, das voller Ironie und Pathos zugleich ist.
Im Zentrum steht das paradoxe Erkennen:
> Nur wer nicht Gott zu sein meint, kann Gott in sich aufnehmen.
> Nur wer die Welt verliert, wird ihr Heiland.
> Nur wer leidet, hört.
> Nur wer liebt, sieht.

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