Auf der Erde ist es schwül

Achim von Arnim

Auf der Erde ist es schwül,
In den Wassern ist es kühl,
Sonne, Mond und alle Sterne
Stürzen sich hinein so gerne,
Denn im Wasser wird's so klar,
Wie's auf Erden traurig war.
-
Ruhig schlaft ihr bei uns ein
In der Wasser grünem Schein,
Höret keine Kinder schrein,
Fühlet keine Liebespein,
Liebet ohne Eifersucht,
Findet alles, was ihr sucht.
-
Was verloren in dem Meer,
Stehet da im Haus umher,
Alter Zeiten Schätz und Kunst
Brauchet ihr durch unsre Gunst,
Jeder Sturm bringt neue Gäst'
Zu dem ew'gen Freudenfest.
-
Wenn wir tanzen in dem Kreis,
Wirbelt sich die Welle weiß,
Wenn wir unten lustig sind,
Stürmet über uns der Wind,
Stürmt in unsrer Haare Glanz,
Und das kühlet in dem Tanz.

Analyse

Achim von Arnim (1781–1831), einer der zentralen Vertreter der deutschen Romantik, verfasste dieses Gedicht vermutlich als Teil seines Interesses an Mythen, Volksliedern und der symbolisch aufgeladenen Natur. Das Gedicht entfaltet eine eigentümliche Unterwasserwelt, in der sich eine romantische Utopie jenseits der leidvollen Wirklichkeit eröffnet.
• Ein poetisches Sinnbild romantischer Sehnsucht nach einer besseren, harmonischeren Welt jenseits des realen Lebens. Das Wasser wird zum Symbol für Reinheit, Erinnerung, Liebe und Transzendenz – ein mythischer Ort des Friedens und der ewigen Freude. Dabei verbindet das Gedicht Naturmystik, Liebesutopie und Todessehnsucht zu einem typisch romantischen Kosmos.
• Es kreist um eine geheimnisvolle, mythopoetisch überformte Wasserwelt, die der realen Welt der Erde als alternative Sphäre gegenübersteht.
• Arnims Gedicht erschafft eine metaphorische Gegenwelt, die sowohl religionsphilosophisch als ein jenseitiger, fast paradiesischer Ort gelesen werden kann, als auch psychologisch als Ausdruck einer tiefen menschlichen Sehnsucht nach Rückkehr, Ruhe, Erlösung und Einheit. Das Wasser wird zur Chiffre für eine transzendente Ordnung jenseits von irdischer Zerrissenheit – als Spiegel des verlorenen Paradieses und zugleich als archetypischer Ort psychischer Ganzheit.

Formale Analyse

• Versmaß & Reim: Das Gedicht besteht aus sechs vierzeiligen Strophen mit regelmäßigem Paarreim (aa bb). Die Rhythmik ist eher frei, doch es dominiert ein lockerer vierhebiger Trochäus, der dem Gedicht einen fließenden, wellenartigen Klang verleiht – passend zum Thema Wasser.
Sprache & Stilmittel:
• Personifikation: Sonne, Mond und Sterne „stürzen sich hinein“, als hätten sie ein eigenes Begehren.
• Symbolik: Wasser = Ort der Reinigung, Klarheit, Geborgenheit.
• Kontraste: „traurig“ (Erde) vs. „klar“ (Wasser); „Kinder schrein / Liebespein“ (Erde) vs. „Liebe ohne Eifersucht“ (Wasser).

Inhaltliche Deutung

1. Strophe 1–2: Erde vs. Wasser – Kontrast von Leid und Frieden
> „Auf der Erde ist es schwül, / In den Wassern ist es kühl“
• Die erste Strophe eröffnet mit einem Stimmungsbild: Die Erde ist drückend, schwül – ein Ort der Last. Das Wasser hingegen ist kühl und erfrischend.
• Sonne, Mond und Sterne – sonst Zeichen des Himmels – sehnen sich nach dem Wasser: ein kosmisches Verlangen nach Abstieg, nach Läuterung.
> „Denn im Wasser wird’s so klar, / Wie’s auf Erden traurig war.“
• Die Umkehrung: Was oben strahlte, sucht unten Klarheit. Dies deutet auf eine tiefere Wahrheit oder Reinheit im Unterbewussten, Traumhaften – typisch romantisch.
2. Strophen 3–4: Das Unterwasserreich als utopischer Ort
• Der „grüne Schein“ des Wassers verspricht Ruhe, Kinderschreie und „Liebespein“ verstummen – das Leid der menschlichen Existenz wird ausgelöscht.
• Stattdessen: „Liebet ohne Eifersucht“ – eine ideale Liebe, frei von Besitzdenken und Qual. Eine romantische Wunschvorstellung eines harmonischen Daseins.
> „Findet alles, was ihr sucht“ – totale Erfüllung, wie sie in der Diesseitigkeit nie erreichbar scheint.
3. Strophe 5: Das Wasser als Bewahrer der Geschichte
> „Was verloren in dem Meer, / Stehet da im Haus umher“
• Eine Art „archaisches Museum“ unter dem Meer: Vergangenes, Verlorenes, Kunst und „alter Zeiten Schatz“ leben weiter.
• Wasser ist nicht nur Reinigungsort, sondern Speicher kultureller Tiefe. In diesem Kontext erinnert es an mythische Unterwelten (z. B. Atlantis, Nibelungenhort).
> „Jeder Sturm bringt neue Gäst’“ – das Wasser ist nicht tot, sondern aufnahmebereit, dynamisch. Der Tod (Schiffbruch) bringt neue Seelen zum „ew’gen Freudenfest“.
4. Strophe 6: Tanz, Wellen und kosmisches Spiel
• Die Wasserwesen tanzen im Kreis (vielleicht Nixen, Undinen). Ihr Tanz löst weiße Gischt aus: die Wellen werden Ausdruck der Freude.
• Gleichzeitig tobt über ihnen der Wind – doch dieser beeinflusst nicht das frohe Treiben, sondern spielt mit ihrem „Haare Glanz“: ein fast erotisches, vitales Bild.

Romantische Sehnsucht und Transzendenz

• Das Gedicht stellt die Welt unter Wasser als einen romantisch-utopischen Gegenentwurf zur „traurigen“ Welt der Menschen dar.
Das Wasser steht für den Bereich des Unterbewussten, des Traumhaften, aber auch für den Tod. Der „Sprung ins Wasser“ ist daher auch ein symbolischer Übergang aus dem Diesseits in eine höhere Form des Seins.
Der Kontrast zur „traurigen“ Erde zeigt romantische Zivilisationskritik: Die Erde ist Ort der Qual, das Wasser der Erlösung.

Liebesthematik jenseits der Leidenschaften

Im Wasser: Liebe ohne Eifersucht – ein Ideal. Die romantische Idee der reinen, transzendenten Liebe wird hier als realisierbar dargestellt, aber nur jenseits der Wirklichkeit.

Mythos, Erinnerung, Ewigkeit

Das Meer bewahrt „Schätze“, „Kunst“, „alte Zeiten“ – die Vergangenheit ist nicht tot, sondern geborgen. Dies entspricht der romantischen Idee des Gedächtnisses und der Wiederverzauberung der Welt.
• Die Wasserwelt ist eine Art Arche, ein Ort der Sammlung, ähnlich dem romantischen Volkslied- oder Märchenschatz.

Religionsphilosophische Analyse

1. Wasser als Symbol des Transzendenten
• Das Gedicht entfaltet eine Unterwasserwelt, die in scharfem Kontrast zur „traurigen“ Erde steht. Diese Gegenwelt ist nicht nur ein mythischer Ort, sondern hat Züge eines Jenseits, vielleicht sogar eines immanenten Paradieses:
• „Denn im Wasser wird’s so klar, / Wie’s auf Erden traurig war“: Die Unklarheit, das Leid, die Getrübtheit des Diesseits kontrastiert mit der Klarheit der Wasserwelt, die hier eine reinigende, offenbarende Qualität besitzt.
• Diese Klarheit erinnert an platonische Vorstellungen, in denen die sinnlich erfahrbare Welt nur ein Schatten der wahren Wirklichkeit ist.
2. Erlösungsmotiv
• „Ruhig schlaft ihr bei uns ein“ deutet auf ein sanftes Sterben, nicht als Ende, sondern als Übergang zur Ruhe und zu erfüllter Liebe: „Liebet ohne Eifersucht, / Findet alles, was ihr sucht.“
• Das Motiv der eifersuchtsfreien Liebe spielt auf ein erlöstes Sein an, das befreit ist von den Leidenschaften und Qualen des Menschlichen (ähnlich den platonischen Ideen vom reinen Geist oder der christlichen Vorstellung des Himmels).
3. Immanente Eschatologie
• Die Zeile „Was verloren in dem Meer, / Stehet da im Haus umher“ spielt auf eine mystische Rückgewinnung des Verlorenen an – etwa im Sinne des apokatastatischen Denkens (alle Dinge kehren zur göttlichen Ordnung zurück; vgl. Origenes).
• Das Wasser erscheint als ein transzendenter Speicher, in dem nichts verloren geht: „Alter Zeiten Schätz und Kunst“ werden dort bewahrt.

Psychologische Analyse

1. Wasser als Archetyp (C. G. Jung)
• In der jungianischen Psychologie steht das Wasser für das Unbewusste, das Tiefgründige, das Unausgesprochene. Die Wasserwelt Arnims ist eine archetypische Tiefenschicht:
• Der Gegensatz zwischen „Erde“ und „Wasser“ wird zum Symbol des Bewusstseins vs. Unbewusstem.
• Der Reiz des Wassers („Sonne, Mond und alle Sterne / Stürzen sich hinein so gerne“) spiegelt den Drang zur Regression, zur Rückkehr ins Ursprüngliche – etwa zur Mutter, zur Geborgenheit, zur vorbewussten Einheit.
2. Thanatologische Dimension
• Die Wasserwelt hat Züge eines Todesreichs, aber nicht als Ort des Schreckens, sondern als friedlicher Ort der Rückkehr:
• „Ruhig schlaft ihr bei uns ein“ → Der Tod wird hier psychologisch als sanftes Loslassen des Ichs verstanden.
• Der Tod als Entlastung von Schmerz, Schreien, Liebespein – also von den typischen Symptomen des konflikthaften Ich-Bewusstseins.
3. Utopische Wunschwelt
• Das Wasserreich fungiert als Wunschprojektion eines harmonisierten, unkonfliktuösen Zustands:
• Liebe ohne Eifersucht, Freudenfest, Tanz, Kühle → psychologisch interpretiert: eine ideale Welt ohne neurotische Spannungen, ohne Verluste, ohne Trennung.
• Die Vorstellung, dass im Wasser „alles, was ihr sucht“ zu finden sei, verweist auf eine Aufhebung der Mangelstruktur des menschlichen Daseins.

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