Am Schluß

Achim von Arnim

Mein Stammbuch
2. Am Schluß

Gern seh' ich die Namen der Freunde
In meinem Stammbuch hier an,
Und bete mit dieser Gemeinde.
Dies Kirchlein ich schmücken kann:
Mit Bildern und schönen Zeichen,
Mit manchem herzlichen Wort,
Vor dem die Zeichen weichen,
Und auch der einsame Ort.
Und bis die Augen erblinden,
Und bis der Tag mir versinkt,
Soll keiner vor mir verschwinden,
Der mir je freundlich gewinkt;
Er mag noch wandeln und wirken,
Und schauen das ewige Licht,
Er mag in andern Bezirken
Verhüllen das bleiche Gesicht.
Daß hier auf Erden die Treue
Ein moosiger Eichenstamm,
Braucht viele Jahre zur Weihe,
Und stürzt in schneller Flamm',
Die Flamme steiget zur Bläue,
Und über die Bläue hinaus,
Da findet auf Sternen die Treue
Ein glänzend gezimmertes Haus.
Es treiben wohl Hirten die Heerde,
So weit der Himmel ist blau,
Und meinen sich eigen die Erde,
Glänzt himmlisch die blühende Au,
Es treiben auch Fischer den Nachen,
So weit die Meere sind blau
Und spielen am Todesrachen
Wie Fische in Netzes Bau;
Auch Jäger kennen nicht Gränzen,
So weit der Wald sie verbirgt,
Mit bunten Federn sich kränzen
Von Vögeln, die jubelnd erwürgt;
Doch hör', der Hirt ist gepfändet,
Der Fischer versenkt in das Meer,
Der Jäger ist heimgesendet,
Ihn drückte der Raub zu schwer.
Nur treue Liebe sie dringet
Noch über das Blau hinaus,
Sich über die Meere erschwinget,
Und über der Wälder Gebraus,
Und zu den Sternen sich hebet,
Und freuet sich da der Welt,
Was war, was wird, was lebet,
Ist vor ihr ausgestellt.

Analyse

Achim von Arnims Gedicht „Mein Stammbuch – 2. Am Schluß“ ist ein poetisch verdichtetes, symbolisch aufgeladenes Bekenntnis zur Treue, Freundschaft und einer transzendenten, ewigen Liebe, die alle irdischen Grenzen überwindet. Die Reflexion über das Stammbuch dient als Ausgangspunkt für tiefere Überlegungen zu Vergänglichkeit, Erinnerung und ewiger Verbundenheit.
Eine tief bewegte Meditation über das Andenken, die Liebe und die Treue. Es beginnt als persönliches Bekenntnis in einem Stammbuch und endet als universaler Hymnus auf die Liebe als transzendierende Kraft, die alles Irdische überwindet. Die poetischen Bilder – oft aus der Natur und dem Kosmos – schaffen eine Brücke zwischen menschlichem Gedenken und göttlicher Ewigkeit.

Formale Analyse

• Versmaß und Reim: Das Gedicht ist in vierhebigen alternierenden Versen mit Kreuzreimen (abab) geschrieben. Diese klare Form steht im Kontrast zur thematischen Weite und Tiefe des Inhalts.
• Strophenbau: 9 Strophen à 4 Verse (Quartette), meist in jambischem Rhythmus, was dem Gedicht eine sanfte, feierlich-nachdenkliche Melodie gibt.

Inhaltliche Gliederung und Interpretation

1. Das Stammbuch als Ort der Erinnerung und geistigen Gemeinschaft (Strophe 1)
> „Gern seh’ ich die Namen der Freunde / In meinem Stammbuch hier an“
• Das Stammbuch fungiert als Symbol für bleibende Freundschaft.
• Die „Gemeinde“ ist kein religiöser Begriff im engeren Sinne, sondern verweist auf die Gemeinschaft der Herzen.
• Das „Kirchlein“ ist ein poetisches Bild für den intimen, geheiligten Raum des Gedächtnisses und der Treue.
2. Die Macht der Freundschaft über Zeit und Raum hinweg (Strophen 2–3)
> „Und bis die Augen erblinden … / Soll keiner vor mir verschwinden“
• Der Sprecher verweigert das Vergessen: Jeder Freund bleibt in seinem Innern gegenwärtig.
• Selbst wenn jemand stirbt („verhüllen das bleiche Gesicht“), bleibt die innere Nähe bestehen.
3. Bild der Treue als Eichenstamm (Strophe 4)
> „Daß hier auf Erden die Treue / Ein moosiger Eichenstamm“
• Die Eiche: Symbol für Dauer, Stärke, Beständigkeit.
• Aber: Auf Erden ist auch die stärkste Treue vergänglich – sie kann „in schneller Flamm“ untergehen.
• Doch das Feuer hat eine doppelte Funktion: es vernichtet, aber es verklärt auch. Die Flamme steigt „zur Bläue, und über die Bläue hinaus“ – das verweist auf eine Verwandlung ins Transzendente.
4. Sinnbildliche Tätigkeiten der Menschen – Hirte, Fischer, Jäger (Strophen 5–6)
• Die drei Menschentypen stehen für verschiedene Weisen, die Welt zu beherrschen, zu durchstreifen, zu nutzen:
• Hirte – Symbol für Führung, Fürsorge.
• Fischer – Grenzgänger zwischen Leben und Tod.
• Jäger – Gewalt über das Wilde, Natürliche.
• Sie alle scheitern:
• „gepfändet“, „versenkt“, „heimgesendet“ – Bilder der Vergeblichkeit des menschlichen Strebens.
• „Der Raub“ lastet zu schwer – eine Kritik an Besitzstreben oder Hybris?
5. Schlussstrophe: Überhöhung der treuen Liebe (Strophen 8–9)
> „Nur treue Liebe sie dringet / Noch über das Blau hinaus“
• Alles Menschliche ist begrenzt – nur die Liebe überwindet die Trennung von Erde und Himmel.
• Diese Liebe ist nicht erotisch, sondern geistig-treu, überpersönlich.
• Kosmische Ausdehnung: Liebe überschreitet Himmel, Meer und Wald, erhebt sich zu den Sternen – das ist ein romantischer Topos für das Unendliche und Ewige.
• Der letzte Vers bündelt die eschatologische Dimension: „Was war, was wird, was lebet, / Ist vor ihr ausgestellt.“ – Die Liebe steht über Zeit und Existenz.
Zentrale Motive und Symbole
Stammbuch | Erinnerung, Kontinuität, Zeugnis von Freundschaft
Kirchlein | Heiliger Raum des Herzens, geistige Gemeinschaft
Eichenstamm | Dauer der Treue in irdischer Zeit, aber auch ihre Gefährdung
Flamme / Bläue | Läuterung, Übergang zur Transzendenz
Hirte, Fischer, Jäger | menschliche Rollen im Umgang mit Welt – scheitern alle
Blau | Grenze zwischen Weltlichem und Überweltlichem
Sterne / Haus | Bild des Ewigen, der himmlischen Behausung der Treue

Philosophisch-theologische Deutung

• Von Arnim artikuliert eine romantisch-christliche Eschatologie der Liebe: Wo alles Irdische vergeht, bleibt nur die treue Liebe – sie ist der ewige Wert, der alles umfasst.
• Der Weg der Liebe führt über die Vergänglichkeit hinaus, über Zeit, Raum und Tod.
• Die „Freunde“, die einst ins Stammbuch schrieben, sind so Teil einer communio sanctorum – einer Gemeinschaft, die auch den Tod überdauert.

Bezüge zur Romantik

• Von Arnim steht zentral in der deutschen Frühromantik und bringt typische Themen zur Geltung:
• Erweiterung des Ichs in kosmische Dimensionen.
• Verklärung des Alltäglichen (Stammbuch → Kirchlein).
• Verschmelzung von Innen- und Außenwelt.
• Liebesbegriff als metaphysisches Prinzip.

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