Luther 1545 Vnd die Erde war wüst vnd leer / vnd es war finster auff der Tieffe / Vnd der Geist Gottes schwebet auff dem Wasser.
Luther 1912 Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.
he וְהָאָ֗רֶץ הָיְתָ֥ה תֹ֙הוּ֙ וָבֹ֔הוּ וְחֹ֖שֶׁךְ עַל־פְּנֵ֣י תְהֹ֑ום וְר֣וּחַ אֱלֹהִ֔ים מְרַחֶ֖פֶת עַל־פְּנֵ֥י הַמָּֽיִם׃
gr ἡ δὲ γῆ ἦν ἀόρατος καὶ ἀκατασκεύαστος, καὶ σκότος ἐπάνω τῆς ἀβύσσου, καὶ πνεῦμα θεοῦ ἐπεφέρετο ἐπάνω τοῦ ὕδατος.
la terra autem erat inanis et vacua et tenebrae super faciem abyssi et spiritus Dei ferebatur super aquas
Parallelstellen zu Genesis (1Mose) 1:2
1Mo 1:2 Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.
Hiob 26:14 Siehe, also geht sein Tun, und nur ein geringes Wörtlein davon haben wir vernommen. Wer will aber den Donner seiner Macht verstehen?
Ps 33:6 Der Himmel ist durch das Wort des HERRN gemacht und all sein Heer durch den Geist seines Mundes.
Ps 104:30 Du lässest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen, und du erneuest die Gestalt der Erde.
Jes 40:12 Wer mißt die Wasser mit der hohlen Hand und faßt den Himmel mit der Spanne und begreift den Staub der Erde mit einem Dreiling und wägt die Berge mit einem Gewicht und die Hügel mit einer Waage?
Hiob 26:7 Er breitet aus die Mitternacht über das Leere und hängt die Erde an nichts.
Jes 45:18 Denn so spricht der HERR, der den Himmel geschaffen hat, der Gott, der die Erde bereitet hat und hat sie gemacht und zugerichtet, und sie nicht gemacht hat, daß sie leer soll sein, sondern sie bereitet hat, daß man darauf wohnen solle: Ich bin der HERR, und ist keiner mehr.
Jer 4:23 Ich schaute das Land an, siehe, das war wüst und öde, und den Himmel, und er war finster.
Nahum 2:10 So raubet nun Silber! raubet Gold! denn hier ist der Schätze kein Ende und die Menge aller köstlichen Kleinode.
Analysen
Biblisches Hebräisch: Masoretischer Text (MT)
Wort-für-Wort Analyse:
וְהָיְתָה (wə-hāyətāh) – „und war“
→ Imperfekt 3. f. sg. von היה (hāyāh) im waw-consecutivum.
הָאָרֶץ (hāʾāreṣ) – „die Erde“
→ Definierter Artikel + Substantiv „Erde“, fem. sg.
תֹּהוּ וָבֹהוּ (tōhū wā-vōhū) – „wüst und leer“
→ Zwei seltene Wörter, oft als Alliteration betrachtet.
→ Tōhū = „Chaos“, „Ödnis“, „Unordnung“; Vōhū = „Leere“, „Leere ohne Form“.
→ Kommt in Jes 34,11 ähnlich vor.
וְחֹשֶׁךְ (wə-ḥōšeḵ) – „und Finsternis“
→ Substantiv „Dunkelheit“, maskulin.
עַל־פְּנֵי תְהוֹם (ʿal-pənê təhōm) – „über der Tiefe“
→ ʿal = „auf, über“ + pənê = „Angesicht“ (idiomatisch „Oberfläche“)
→ təhōm = „Urflut“, „Tiefe“, oft mit Chaosgewässer verbunden (vgl. babylonisches Tiamat).
וְרוּחַ אֱלֹהִים (wə-rūaḥ ʾĕlōhîm) – „und der Geist Gottes“
→ rūaḥ = „Geist“, „Wind“, „Atem“; hier mehrdeutig.
→ ʾĕlōhîm = „Gott“, wörtl. Pluralform, aber im Singular gemeint.
מְרַחֶפֶת (məraḥefet) – „schwebte“
→ Piʿel-Form (intensiv): „vibrieren“, „flattern“, „schweben“.
→ Wird sonst nur in Dtn 32,11 gebraucht (Adler, der über Jungen schwebt).
→ Poetisches Bild des behutsamen, schwebenden Gottesgeistes.
עַל־פְּנֵי הַמָּיִם (ʿal-pənê hammāyim) – „über dem Wasser“
→ hammāyim = „die Wasser“ (Pluralform, wie oft im Hebräischen).
Exegetische Besonderheiten:
Der Vers beschreibt nicht die Erschaffung der Erde, sondern ihren anfänglichen chaotischen Zustand.
• Der „Geist Gottes“ wird als aktive, ordnende Präsenz eingeführt – mit zartem, dynamischem Bild (מרחפת).
• Die Tiefe (תְּהוֹם) evoziert altorientalische Chaosmythen, wird aber hier vom Geist Gottes dominiert, nicht bekämpft.
Biblisches Griechisch: Septuaginta (LXX)
ἡ δὲ γῆ ἦν – „Die Erde aber war“
→ δὲ markiert hier eine neue, erklärende Aussage.
ἀόρατος – „unsichtbar“
→ wtl. „nicht sichtbar“ – Übersetzung von תֹּהוּ?
καὶ ἀκατασκεύαστος – „ungeordnet / ungestaltet“
→ wtl. „nicht vorbereitet“, „nicht eingerichtet“ – Übersetzung von וָבֹהוּ.
σκότος – „Finsternis“
ἐπάνω τῆς ἀβύσσου – „über dem Abgrund“
→ ἄβυσσος = griech. Äquivalent zu תְּהוֹם, oft mit „Unterwelt“ oder „chaotischer Tiefe“ assoziiert.
πνεῦμα θεοῦ – „Geist Gottes“
→ πνεῦμα = Wind, Geist, Hauch – polyvalent wie rūaḥ.
ἐπεφέρετο – „bewegte sich über“
→ Imperfekt von ἐπιφέρω, mit Bedeutungen wie „tragen“, „schweben“, „ausbreiten“; hier reflexiv-dynamisch gebraucht.
ἐπάνω τοῦ ὕδατος – „über dem Wasser“
Exegetische Besonderheiten:
• Die Septuaginta interpretiert תֹּהוּ וָבֹהוּ stärker rationalisierend als „unsichtbar und unfertig“ (ἀόρατος καὶ ἀκατασκεύαστος).
• Das griechische πνεῦμα verbindet Geist mit Luftbewegung – es lässt göttliche Präsenz dynamisch erscheinen, aber eher intellektuell als mythisch.
Biblisches Lateinisch: Vulgata
Wort-für-Wort Analyse:
Terra autem erat – „Die Erde aber war“
inanis et vacua – „leer und nichtig“
→ inanis = „leer“, „bedeutungslos“; vacua = „leer“, „unbesetzt“
→ Doppelte Leerheit – Übersetzung von תֹּהוּ וָבֹהוּ
tenebrae erant – „Finsternis war“
super faciem abyssi – „über der Oberfläche des Abgrunds“
→ abyssus = Lat. Lehnwort von ἄβυσσος = Tiefe/Urflut
spiritus Dei – „der Geist Gottes“
ferebatur – „bewegte sich“, „trug sich“, „wurde getragen“
→ Passiv Imperfekt von ferre, hier im Sinne von dynamischem Schweben oder Tragen
super aquas – „über dem Wasser“
Exegetische Besonderheiten:
Die Vulgata gibt den hebräischen Rhythmus syntaktisch klar und wörtlich wieder.
• Spiritus ist mehrdeutig wie rūaḥ und πνεῦμα, kann auch als „Heiliger Geist“ gelesen werden (im christlichen Sinn).
• Ferebatur ist weniger anschaulich als מְרַחֶפֶת, aber immer noch dynamisch.
Exegetische Schlussfolgerung
• Die hebräische Urform betont kosmisches Chaos, das durch Gottes schöpferischen Geist in Bewegung kommt.
• Die griechische und lateinische Übersetzung glätten zum Teil den mythisch-symbolischen Charakter: Das „schwebende“ Bild wird sachlicher.
• Der Geist Gottes wird durch alle drei Traditionen hindurch als präexistent, dynamisch und ordnend verstanden – eine zentrale Figur des kosmischen Übergangs vom Chaos zur Ordnung.
Die Stelle Genesis 1:2 – „Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“ – ist ein äußerst dichter und bedeutungsschwerer Vers, der sowohl theologisch als auch systematisch-philosophisch tiefreichende Deutungen ermöglicht. Die Analyse lässt sich strukturieren in:
Theologische Deutung
1. Chaos und Schöpfungsordnung
Der Vers zeigt die Voraussetzung der Schöpfung: ein Zustand des Chaos, Unbestimmtheit und Dunkelheit.
• Gott begegnet diesem Zustand nicht durch Gewalt, sondern durch Geist und Wort (Vers 3: „Es werde Licht“).
• Die Schöpfung ist also ein Akti der Ordnung aus dem Chaos (Creatio per ordinem).
2. Geist Gottes als schöpferisches Prinzip
Der „Geist Gottes“ (ruach) ist nicht personifiziert, sondern Ausdruck der lebenschaffenden Gegenwart Gottes.
• Frühchristliche Ausleger (z. B. Kirchenväter wie Augustinus) sahen hierin bereits einen Hinweis auf den Heiligen Geist als dritte Person der Trinität.
• In der Pneumatologie (Lehre vom Geist) wird dieser Vers oft als präludium spiritus sancti verstanden – der Geist, der Leben, Ordnung, Dynamik in das Nichts bringt.
3. Göttliche Transzendenz und Immanenz
Gott ist nicht Teil der Tiefe, sondern über ihr, „schwebend“ – eine bildhafte Darstellung göttlicher Souveränität über das Chaos.
• Dennoch ist der Geist gegenwärtig, aktiv, vorbereitend – eine Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz Gottes.
Systematisch-philosophische Deutung
1. Ontologische Dimension: Sein aus dem Nichts
Genesis 1:2 beschreibt einen Übergang vom Nicht-Sein (potentia) zum Sein (actus).
• Die Erde ist noch nicht „etwas“, sondern tohu va-bohu – reines Potenzial, das durch göttliches Wirken zur Form wird.
• Dies steht in Verbindung zur Frage der Creatio ex nihilo: Die klassische Lehre der Schöpfung aus dem Nichts (obwohl sie erst in späterer jüdischer und christlicher Philosophie explizit formuliert wird).
2. Kosmologie und Ordnung
Die Schöpfung beginnt mit einer kosmologischen Strukturierung: Licht, Zeit, Raum, Materie – als Prinzipien rationaler Weltordnung.
• Philosophisch betrachtet ist der Geist Gottes der Logos, der ordnende Vernunftgrund (ratio divina), ähnlich wie im stoischen oder johanneischen Sinn („Im Anfang war das Wort“ – Joh 1:1).
3. Symbolik des Wassers und des Geistes
Wasser steht oft für das Ungeformte, Bedrohliche, das Vor-Seiende.
• Der schwebende Geist symbolisiert das Prinzip der Emergenz, ein geistiges, bewegendes Element, das aus dem Unbestimmten Welt hervorruft.
• Hier könnte eine Parallele zu Plotin oder philosophischen Emergenzmodellen gesehen werden: der Geist als das Prinzip, das aus dem Einen das Viele formt.
Vergleichende Perspektiven
1. Babylonischer Kontext (Enuma Elish)
„Tehom“ erinnert an Tiamat, die Urgöttin des Meereschaos.
• Im Gegensatz zur Gewalt der Götterkämpfe in Babylon zeigt Genesis einen friedlichen, geordneten Schöpfungsakt, ohne göttlichen Widerstreit – ein bewusstes theologisches Gegennarrativ.
Mystische Deutung (z. B. Kabbala, Meister Eckhart)
In mystischen Traditionen wird tohu als der Zustand göttlicher Verborgenheit gedeutet – eine „Nacht Gottes“ vor der Offenbarung.
• Der ruach ist das erste Ausströmen des göttlichen Lichtes, die Schechina oder das Wort als Keim aller Wirklichkeit.
Genesis 1:2 ist eine Verdichtung metaphysischer, kosmologischer und spiritueller Ideen:
• Theologisch: Gott als Ursprung der Ordnung, Geist als schöpferisches Prinzip, das dem Chaos entgegentritt.
• Philosophisch: Beginn aller Ontologie – aus dem formlosen Potenzial wird Wirklichkeit durch Geist und Wort.
• Kosmologisch: Die Welt entsteht nicht als Produkt von Zufall oder Kampf, sondern als geordnete, intentionale Schöpfung.
◀ Genesis 1:1 | Genesis 1:3 ▶
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