Der Tragödie Erster Theil
Nacht. (4)
In einem hochgewölbten, engen, gothischen Zimmer Faust unruhig auf seinem Sessel am Pulte.
Faust.
Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur!454
»Welch Schauspiel!«
Der Ausruf bringt eine Mischung aus Staunen und Ergriffenheit zum Ausdruck. »Schauspiel« verweist auf ein sinnlich erfahrbares, vielleicht auch überwältigendes Bild – etwa der Anblick des Sternenhimmels, der Natur oder einer inneren Vision. Es hat eine Doppeldeutigkeit: Einerseits das »Schauspiel« als Naturphänomen oder metaphysisches Zeichen, andererseits als Theater – also als etwas Gestelltes, nicht Wirkliches.
»aber ach!«
Ein emotionaler Seufzer, der in seiner Melancholie die Kluft zwischen Schein und Wirklichkeit markiert. Faust erkennt, dass das Erlebte oder Gesehene zwar beeindruckend ist, aber nicht die erhoffte Wahrheit oder Erfüllung bringt.
»ein Schauspiel nur!«
Das nur ist entscheidend: Es degradiert das großartige Schauspiel zum bloßen Eindruck, zur Erscheinung ohne Substanz. Faust leidet daran, dass die äußere Schönheit der Welt ihm nicht das innerliche Einssein mit der Natur oder dem Göttlichen vermittelt. Er sieht, aber er durchdringt nicht.
Deutung: Dieser Vers bringt ein zentrales Motiv des »Faust« auf den Punkt – das Sehnen nach einer Erfahrung, die nicht bloß Erscheinung, sondern Wesen ist. Faust durchschaut den Schein, aber ihm bleibt das Sein verschlossen.
Wo faß’ ich dich, unendliche Natur?455
»Wo faß’ ich dich«
Das Verb »fassen« ist vieldeutig. Es kann bedeuten: begreifen, festhalten, durchdringen. In Fausts Kontext geht es nicht nur um intellektuelles Erfassen, sondern um existentielle Aneignung – eine mystische Vereinigung mit dem All.
Das »Wo« zeigt, dass Faust in einem Zustand der Orientierungslosigkeit ist. Er weiß nicht, an welchem Punkt er Zugang finden könnte zur inneren Wahrheit der Natur. Es ist die Frage des modernen Menschen, der das Transzendente sucht, aber keinen Weg mehr kennt.
»unendliche Natur«
Ein erhabenes Bild: Die Natur ist nicht einfach Materie, sondern ein unendliches, fast göttliches Prinzip. Sie steht für das All, das Absolute, vielleicht auch für das Göttliche selbst. In der Tradition der Romantik und des deutschen Idealismus wird Natur nicht als bloße Ansammlung von Dingen gesehen, sondern als lebendiger Organismus, als Ausdruck des Universalen.
Deutung: Faust steht vor der Unendlichkeit der Natur und fühlt sich ohnmächtig, ihren innersten Sinn zu erfassen. Seine Frage ist Ausdruck einer metaphysischen Verzweiflung und eines tiefen, fast mystischen Verlangens.
Zusammenfassend 454-455
Diese beiden Verse stehen in einem zentralen Moment der Szene, nachdem Faust in seinem Studierzimmer zunächst verschiedene wissenschaftliche Disziplinen als unzureichend erfahren hat. In der Stille der Nacht wendet er sich der Natur und dem Metaphysischen zu.
Diese zwei Verse sind ein kondensierter Ausdruck von Fausts Grundproblem: Er sieht die Schönheit der Welt, aber sie bleibt ihm äußerlich. Er will nicht nur schauen, sondern eins werden mit dem, was ist – aber er findet keinen Zugang. Das Sehen allein reicht ihm nicht, weil es die Trennung zwischen Subjekt und Objekt nicht überwindet. Er sehnt sich nach einer transrationalen Vereinigung mit der »unendlichen Natur«, die hier fast religiös aufgeladen ist.
Die Struktur der Verse – Ausruf, Seufzer, Frage – zeigt eine innere Bewegung von staunender Bewunderung über enttäuschte Erkenntnis hin zu existenzieller Suchbewegung. Goethes Sprache arbeitet hier mit rhetorischen Mitteln wie Antithese (Schauspiel / nur), Exklamation und Apostrophe, um Fausts innere Zerrissenheit sprachlich zu gestalten.
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,456
»Euch Brüste, wo?«
Diese Anrufung ist leidenschaftlich, beinahe verzweifelt. Faust richtet sich nicht an konkrete Personen, sondern an eine metaphysische Größe: die »Brüste« stehen hier symbolisch für mütterliche, nährende Urkräfte – eine Quelle des Seins. Sie sind nicht körperlich zu verstehen, sondern mythologisch und mystisch: ein Archetyp der Weltmutter, der Magna Mater, der Natur, die Leben spendet.
Die Frage »wo?« ist existenziell. Sie deutet darauf hin, dass Faust sich abgeschnitten fühlt von der Lebenskraft, die ihn einst nährte. Die Brüste als Bild verweisen auf Unio mystica, auf den Wunsch nach einer unmittelbaren, innigen Verbindung mit dem Ursprung – ähnlich wie das gestillte Kind mit der Mutter verbunden ist. Dieses Bild kommt auch in mystischer Literatur vor, etwa bei Meister Eckhart, wenn das Göttliche als »mütterlich« oder »gebärend« bezeichnet wird.
»Ihr Quellen alles Lebens«
Die Metapher wird vertieft: Brüste = Quellen. Es handelt sich um ein synästhetisches, beinahe pantheistisches Bild. Die Quelle ist Ursprung, Ursprung allen Lebens, unerschöpflich, geheimnisvoll. Faust sehnt sich danach, nicht bloß zu wissen, sondern wirklich zu leben, zu fühlen, zu erfahren. Die Sprache ist religiös aufgeladen: die Quelle ist in vielen Kulturen ein heiliger Ort, Zeichen der Gnade, des Ursprungs, des Lebens.
An denen Himmel und Erde hängt, –457
Die zweite Verszeile verstärkt die kosmische Dimension des ersten Verses. Faust steigert die Bedeutung der angesprochenen »Quellen«: an ihnen »hängt« nicht nur das Leben des Einzelnen, sondern die Ordnung der ganzen Schöpfung – »Himmel und Erde«.
»An denen Himmel und Erde hängt«
Das ist eine hyperbolische, theologisch aufgeladene Aussage. Sie erinnert an biblische Formulierungen (z. B. Sprüche 3,19–20 oder Psalm 104), aber auch an antike Kosmogonien, in denen alles aus einem Urquell hervorgeht. Das Verb »hängen« ist besonders eindrucksvoll: Es evoziert ein Bild der Abhängigkeit, der Verbundenheit, der Schwerkraft des Seins – als wäre das gesamte Universum in einem zarten, geheimnisvollen Gleichgewicht, das von diesen Lebensquellen getragen wird.
Man könnte diesen Vers auch als Ausdruck von Goethes »naturmystischem« Denken lesen: Der Mensch steht nicht isoliert da, sondern eingebettet in ein großes kosmisches Gefüge – und Faust, der sich vom Leben abgetrennt fühlt, spürt das Vakuum dieser Trennung umso schmerzlicher.
Zusammenfassend 456-457
In diesen beiden Versen verdichtet Goethe Fausts innere Krise: die Unzufriedenheit mit bloßem Wissen, das Fehlen wirklicher Lebensverbindung, die Sehnsucht nach einem Ursprung, der nicht intellektuell, sondern existentiell, mystisch und ganzheitlich erfahren werden will.
Die Sprache ist hochsymbolisch, archaisch, mit Anklängen an antike, christliche und mystische Vorstellungen. Faust sucht nicht nur Sinn – er sucht Rückbindung (re-ligio) an den Ursprung des Seins. Dass er die Quellen nicht findet, betont seine Entfremdung. Es ist der Wendepunkt: aus der Scholastik in die existenzielle Suche.
Dahin die welke Brust sich drängt –458
Der Vers beginnt mit dem Demonstrativadverb »dahin«, das auf etwas zuvor Bezeichnetes verweist – hier sind es »Natur«, »Geisterwelt«, vielleicht auch »Quellen ewiger Wahrheit«, auf die Faust seine Sehnsucht richtet. Es ist eine Bewegung hin zu einem Ort oder Zustand, der außerhalb des gegenwärtigen Erfahrungsraums liegt. Dieses »Dahin« ist von existenzieller Dringlichkeit aufgeladen.
Die »welke Brust« ist eine kraftvolle Metapher. »Welken« ist ein Begriff aus der Pflanzenwelt und bezeichnet das Absterben des Lebendigen, das Vergehen von Frische, Kraft, Blüte. Faust spricht also nicht nur von körperlicher Schwäche, sondern von einem inneren Austrocknen, einem Mangel an Lebenssinn, Vitalität und Erfüllung. Seine Brust – traditionell Sitz des Gefühls und des Atems – ist verwelkt, weil ihr die geistige Nahrung fehlt.
Das reflexive Verb »sich drängt« gibt dieser Szene eine innere Bewegung: Fausts Inneres drängt zur Wahrheit, zur Erleuchtung, zur Tiefe des Seins – doch diese Bewegung ist schmerzhaft, ungerichtet, möglicherweise vergeblich. Es klingt das Bild eines ausgedörrten, sehnsüchtigen Inneren an, das sich nach einem jenseitigen Quellpunkt sehnt.
Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht’ ich so vergebens?459
Hier richtet sich Faust in apostrophischer Weise an höhere Kräfte – womöglich an die Natur, die Geister, die göttliche Sphäre. Das Personalpronomen »ihr« adressiert das Andere, das ihn zwar umgibt, aber ihm zugleich entrückt bleibt.
Mit den beiden Verben »quellt« und »tränkt« wird das Motiv des Wassers eingeführt – Quellen, die »quellen«, stehen traditionell für Leben, Erkenntnis, Erneuerung, auch für göttliche Inspiration. Sie sind ein archetypisches Symbol für Überfluss, Gnade und das, was nicht aus menschlicher Leistung entspringt. Diese Kräfte fließen, spenden, nähren – doch Faust, der sich nach dieser Labung sehnt, bleibt ausgeschlossen.
Das Verb »schmachten« bedeutet ein intensives, oft schmerzliches Verlangen – hier verbunden mit der Frage, ob all sein Sehnen vergebens, also umsonst, gewesen ist. Die rhetorische Frage steigert Fausts existentielle Verzweiflung: Wie kann es sein, dass die Fülle da ist, dass sie quillt und tränkt – und doch bleibt mein Durst ungestillt?
Damit wird ein zentrales Motiv des gesamten Werkes berührt: die Spannung zwischen dem Vorhandensein des Göttlichen oder Vollkommenen in der Welt und der Unfähigkeit des Menschen, es zu erlangen. Faust sieht sich selbst als »verwüstetes Gefäß« in einer Welt des Überflusses. Diese Diskrepanz zwischen innerer Leere und äußerer Fülle ist der Schmerzpunkt seiner Seele.
Zusammenfassend 458-459
Diese beiden Verse stehen am Übergang zwischen Fausts Verzweiflung über die Grenzen des rationalen Wissens und seinem sehnsuchtsvollen Drang nach transzendenter Erkenntnis und innerer Erfüllung.
In ihnen verdichtet Goethe Fausts metaphysisches Grundproblem: Der Mensch lebt in einer Welt, die offenbar reich an Sinn, Energie und geistiger Tiefe ist – aber er selbst bleibt hungrig, dürstend, abgeschnitten. Die Verse klingen wie ein Stoßseufzer aus der Tiefe eines dürstenden Ichs, das sich dem Ursprung entgegenstreckt, ohne Antwort zu erhalten. Sprachlich kondensiert Goethe diese Erfahrung in vegetabilen Metaphern (welken, quellen, tränken) und einer rhythmisch-dramatischen Bewegung, die Fausts seelisches Ringen unmittelbar spürbar macht.
Er schlägt unwillig das Buch um, und erblickt das Zeichen des Erdgeistes.
Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!460
Faust bezieht sich hier auf das magische Zeichen, das er verwendet hat, um den Erdgeist zu beschwören. Das Wort »Zeichen« kann dabei sowohl ein konkretes magisches Symbol als auch im weiteren Sinne das metaphysische Zeichen der Präsenz des Geistes bedeuten.
»Wie anders« ist eine erschrockene, zugleich verwunderte und bewundernde Ausrufung. Das Adverbial drückt eine radikale Veränderung im subjektiven Empfinden Fausts aus. Er hatte vom Zeichen eine gewisse Wirkung erwartet – aber es wirkt nun »anders«, d.h. stärker, tiefer, vielleicht auch erschreckender, als gedacht.
»wirkt … auf mich ein«: Die Formulierung legt nahe, dass Faust nicht mehr Herr der Lage ist. Das Zeichen ist kein Werkzeug mehr, das er kontrolliert – es entfaltet vielmehr eine eigenmächtige, fast gewaltsame Wirkung auf ihn. Das betont die Grenzen seiner Macht und kündet bereits vom Scheitern seiner Hybris, sich mit übersinnlichen Kräften zu messen.
Der Vers hat fünf Hebungen (klassischer jambischer Fünfheber mit männlicher Kadenz), was den aufgewühlten, abrupten Ton noch verstärkt. Der Rhythmus bleibt relativ regelmäßig, doch durch den Ausrufcharakter gewinnt er emotionale Spannung.
Du, Geist der Erde, bist mir näher;461
Hier wendet sich Faust unmittelbar an den beschworenen Geist – ein Zeichen seiner wachsenden inneren Nähe zu dem, was er so lange suchte.
»Du«: Die direkte Ansprache des Geistes schafft eine persönliche Beziehung. Faust geht in einen Dialog, nicht mehr in ein bloßes Beschwörungsritual.
»Geist der Erde«: Der Erdgeist steht für das immanente Prinzip des Werdens, des Schaffens, der Naturkräfte – im Gegensatz zu einem abstrakten, himmlischen oder jenseitigen Gott. Faust sehnt sich nach einer diesseitigen Erfüllung, nach Verbindung mit dem schöpferischen Prinzip der Welt.
»bist mir näher«: Das ist der zentrale Moment der Verse: Faust empfindet eine plötzliche Unmittelbarkeit, eine Nähe zum Geheimnis des Seins. Diese Nähe ist sowohl eine intellektuelle Annäherung als auch eine existenzielle Berührung. Der Geist, den er zuvor nur theoretisch oder spekulativ zu erfassen hoffte, steht ihm nun real gegenüber. Es ist ein Moment der Gnade, aber auch der Überforderung.
Zusammenfassend 460-461
Diese beiden Verse stehen in einem zentralen Moment der ersten Begegnung Fausts mit dem Erdgeist. Sie markieren eine innere Erschütterung und eine existentielle Umwendung im Bewusstsein Fausts.
Die emotionale Bewegung zwischen Vers 460 und 461 geht von der äußeren Wirkung (»wirkt … ein«) hin zu einer inneren Beziehung (»bist mir näher«). Es ist ein Umschlagspunkt: das Zeichen wirkt nicht nur auf Faust, sondern bringt ihn in eine Beziehung mit einer transzendenten Macht – jedoch nicht im Sinne religiöser Erhebung, sondern einer pantheistisch-erdgebundenen Begegnung.
Insgesamt zeigen diese Verse Fausts innere Erschütterung im Moment der Konfrontation mit dem Erdgeist. Sie enthüllen eine entscheidende Wendung im Drama: die Vergeblichkeit der bloßen Gelehrsamkeit und die existentielle Sehnsucht nach echter, durchlebter Weltverbundenheit – eine Bewegung von der abstrakten Erkenntnis zur konkreten Erfahrung des »Werdens«.
Schon fühl’ ich meine Kräfte höher,462
In diesem Vers äußert Faust ein plötzliches Gefühl gesteigerter Vitalität und Lebenskraft. Das Wort »schon« deutet an, dass die Wirkung unmittelbar eintritt – fast übergangslos nach der Betrachtung des Makrokosmos. Die »Kräfte« sind nicht rein physisch gemeint, sondern umfassen Intellekt, Empfindung und Geist. Das Verb »fühl’« betont den subjektiven, körpernahen Charakter dieser Erfahrung: Es ist keine theoretische Erkenntnis, sondern ein leiblich spürbares Erleben von Erhöhung. Die Wendung »meine Kräfte höher« verweist auf eine innere Steigerung, eine Art Enthusiasmus – im ursprünglichen Sinne als »Gott-in-mir-Sein« (griech. enthousiasmos).
Faust scheint hier von einer übermenschlichen Energie erfasst zu werden, als würde er an eine höhere Wirklichkeit angeschlossen. Diese Zeile markiert einen Übergang von der niedergeschlagenen, skeptischen Haltung, mit der er die Szene begonnen hat, zu einem Moment ekstatischer Selbstermächtigung.
Schon glüh’ ich wie von neuem Wein,463
Der nächste Vers führt dieses Empfinden fort, nun mit einem leidenschaftlichen, fast sinnlichen Bild. Das Glühen ist ein inneres Brennen, ein Feuer, das seine Seele durchströmt. Die Analogie zum »neuen Wein« ist vielschichtig: Neuer Wein ist gärend, unruhig, voller Energie. In der Antike und im Mittelalter galt er oft als Symbol der göttlichen Inspiration oder des ekstatischen Rausches. Goethe greift hier diese Konnotationen auf und verbindet sie mit der Vorstellung dichterischer, prophetischer oder mystischer Begeisterung.
Zugleich deutet der Wein auf eine gewisse Gefährlichkeit: Neuer Wein kann berauschen, kann Kontrolle und Rationalität überlagern – womit Goethe eine Ambivalenz andeutet. Faust steht an der Schwelle zu einer Erfahrung, die ihn aus sich selbst herausführt, die ihn »trunken« machen könnte – im positiven Sinne einer Erleuchtung, aber auch mit dem Risiko eines unkontrollierten Selbstverlusts.
Zusammenfassend 462-463
Die beiden Verse bilden eine rhythmisch und inhaltlich intensive Steigerung: Vom »Fühlen« zum »Glühen«, von »Kräften« zu »Wein«, vom Innerlichen zum Bildhaften. Sie inszenieren den Moment einer spirituellen Erhebung, die den Menschen über sein gewöhnliches Dasein hinausträgt – ein zentrales Motiv in Goethes Faust, das sowohl in die Richtung der klassischen Aufklärung wie auch der romantischen Schwärmerei weist.
Es ist ein dichterischer Moment der Vergeistigung und zugleich Vorahnung des kommenden Pakts mit Mephisto – denn die Erhöhung, die Faust hier fühlt, reicht noch nicht aus. Der Rausch des »neuen Weins« macht ihn empfänglich für tiefere Versuchungen.
Ich fühle Muth, mich in die Welt zu wagen,464
»Ich fühle Muth«
Der Vers beginnt mit einem Ich-Ausdruck, der Selbstvergewisserung: Faust spürt etwas – keine rationale Einsicht, sondern ein inneres Gefühl, das im Gegensatz steht zur intellektuellen Überforderung des vorhergehenden Fragments. Das Wort »Muth« ist hier im emphatischen Sinn zu verstehen: nicht bloß Tapferkeit, sondern eine existentielle Entschlossenheit, eine Rückkehr zum aktiven Leben. Das Gefühl ist eine erste Regung zur Überwindung der bisherigen Isolation.
»mich in die Welt zu wagen«
»Wagen« impliziert Risiko, Ungewissheit, aber auch Entschlossenheit. Die »Welt« steht hier für das konkrete, irdische Dasein – in Gegensatz zur metaphysischen Spekulation, von der Faust sich zunehmend enttäuscht zeigt. Diese Wendung hin zur Welt ist der erste Schritt in Richtung jener »Tat«, die Mephisto später als Gegensatz zum bloßen »Wort« herausstellt. Faust erkennt die Notwendigkeit, das Leben nicht theoretisch zu analysieren, sondern es konkret zu leben.
Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen465
»Der Erde Weh,«
Diese Formulierung steht für das Leid, die Begrenztheit, die Tragik des menschlichen Daseins. Faust nimmt nicht nur das Glück, sondern auch das Leiden in den Blick – eine klare Abkehr vom naiven Idealismus. Das »Weh« ist kein Hindernis, sondern Teil dessen, was getragen werden muss. Hier klingt ein tragischer Humanismus an: Leben heißt, auch das Elend anzunehmen.
»der Erde Glück zu tragen«
Das »Glück« steht für das Positive, die Freude, die sinnliche Erfahrung – aber ebenfalls im Kontext einer Welt, die vergänglich und konflikthaft ist. »Tragen« ist dabei das zentrale Verb beider Verse: Es umfasst nicht bloß »erleben« oder »genießen«, sondern auch Verantwortung und Teilnahme. Faust will nicht nur empfangen, sondern das Glück – wie das Weh – mittragen, miterleben, vielleicht sogar mitgestalten.
Zusammenfassend 464-465
Zusammenfassend lässt sich sagen: In diesen beiden Versen kündigt sich Fausts neuer Lebensentwurf an – weg von der einsamen Gelehrtenexistenz, hin zur Welt und zum tätigen Leben. Zugleich wird deutlich, dass dieses Leben kein paradiesisches ist, sondern eines voller Spannungen und Gegensätze, die getragen werden müssen. Goethes Sprache ist hier rhythmisch ruhig, doch semantisch tief: In der knappen Formulierung liegt ein ganzer ethisch-existenzieller Entschluss verborgen – Faust will nicht mehr bloß „erkennen“, sondern leben.
Mit Stürmen mich herumzuschlagen466
Der Vers beginnt mit einer aktiven, fast martialischen Vorstellung: »mit Stürmen sich herumschlagen« heißt, sich den Naturgewalten auszusetzen, ja sich mit ihnen zu messen. Das Verb herumschlagen suggeriert sowohl einen existenziellen Kampf als auch eine gewisse Lust am Konflikt. Faust sucht bewusst das Extreme. Der »Sturm« kann als Bild für das Leben in seiner Ungebändigtheit gelesen werden, als Sinnbild für emotionale, geistige und körperliche Herausforderungen, die Faust der bloßen Theorie und dem gelehrten Stillstand entgegensetzen will. Auch das Motiv des Sturmes evoziert Prometheus- oder Odysseus-Bilder: der Mensch, der sich dem Chaos stellt, nicht nur erduldet, sondern aktiv hineingreift.
Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen467
Dieser Vers vertieft und dramatisiert das Bild aus dem ersten. Der »Schiffbruch« ist eine klassische Metapher für den totalen Zusammenbruch, für das Scheitern jeglicher Kontrolle. Doch Fausts Haltung ist nicht die des Verzweifelten, sondern die des Furchtlosen: nicht zu zagen heißt, keine Angst zu haben, nicht zu verzagen. Besonders bemerkenswert ist die Formulierung »in des Schiffbruchs Knirschen«: Das Knirschen erinnert akustisch an zerberstendes Holz, an das grausame Geräusch des Untergangs – ein Klangbild, das Gefahr, Tod und Auflösung evoziert. Faust aber stellt sich vor, mitten in diesem apokalyptischen Moment zu stehen – und keine Furcht zu zeigen. Das ist mehr als Mut: es ist ein fast übermenschlicher Wille zur Transgression, zur Grenzüberschreitung.
Zusammenfassend 466-467
Die Verse im Kontext von Fausts innerer Zerrissenheit und seinem Drang, sich aus der Begrenztheit des Gelehrtentums zu befreien und echtes, gelebtes Leben zu erfahren – koste es, was es wolle. Die Verse sind Teil eines längeren Monologs, in dem Faust seine Unzufriedenheit mit der bloßen Theorie und seinem Leben als Wissenschaftler artikuliert.
Beide Verse entfalten ein zentrales Motiv des Faust: die Sehnsucht nach Totalität und Unmittelbarkeit, nach der existenziellen Bewährung in Grenzerfahrungen. Faust will nicht länger ein stiller Beobachter, ein bloßer Theoretiker sein. Er sucht das, was man in der Mystik als experientia bezeichnet – die unmittelbare, oft schmerzvolle Erfahrung. Diese Verse antizipieren den Pakt mit Mephisto: Faust will alles, selbst unter dem Preis des Untergangs. Die Begriffe »Sturm« und »Schiffbruch« evozieren zudem das klassische Bild des Lebens als Seereise, wobei Faust nicht Sicherheit sucht, sondern das Chaos – solange es ihn über sich selbst hinausführt.
Die Form ist durch das Enjambement dynamisch, die beiden Verse sind klanglich eng miteinander verwoben (z. B. durch die Alliteration Schiffbruchs – Knirschen und den Gleichklang von zagen – schlagen), was die Bewegung und Erregung sprachlich nachzeichnet.
Es wölkt sich über mir –468
Dieser Vers eröffnet mit einer Naturmetapher, die eine dramatische innere Bewegung widerspiegelt. Das »Wölken« steht nicht nur für reale Wetterveränderung, sondern fungiert als Spiegelung von Fausts seelischem Zustand: ein Verdunkeln, ein Umschlagen der Stimmung, eine Eintrübung der Hoffnung. Die Wolken über ihm lassen den Himmel nicht mehr offen erscheinen, sie kündigen Bedrohung an – außen wie innen. Zugleich schwingt eine göttliche Distanzierung mit: Der Himmel, der in früheren Versen als erhaben und voller Sternenglanz beschrieben wurde, zieht sich zurück.
Der Mond verbirgt sein Licht –469
Der Mond ist traditionell Symbol für sanftes, reflektiertes Licht, auch für Erkenntnis im Dunkel, oft mit weiblich-mystischer Konnotation. Dass er sein Licht nun »verbirgt«, spricht von einem Verlust dieser tröstenden Präsenz. Es handelt sich nicht bloß um eine Naturerscheinung, sondern um eine symbolische Abwendung: Auch das indirekte Licht der Vernunft oder Intuition, das Faust vielleicht hätte leiten können, entzieht sich. Der Mond als himmlisches Auge scheint sich bewusst dem Geschehen zu entziehen – fast wie ein göttliches Wegsehen. Der Rückzug des Lichtes legt Dunkelheit frei – ein Raum für Tod oder Entscheidung.
Die Lampe schwindet!470
Die Lampe – künstliches, menschengemachtes Licht – steht hier für menschliche Erkenntnis, Wissenschaft, Aufklärung. Sie war Fausts jahrelanger Begleiter bei seinen Studien, das Symbol seiner rationalen Welterforschung. Ihr Schwinden ist doppeldeutig: Zum einen wird sie tatsächlich schwächer, da er sie wohl nicht mehr pflegt; zum anderen schwindet auch ihre metaphysische Bedeutung. Die Lampe als Sinnbild der Aufklärung genügt Faust nicht mehr – sie kann die innere Finsternis nicht bannen. Mit dem Schwinden der Lampe verlöscht auch der Glaube an rein rationale Rettung. Die Szene kippt endgültig in eine existenzielle Düsternis.
Zusammenfassend 468-470
Die drei Verse sind ein Wendepunkt im inneren Zustand Fausts. Sie markieren den Moment kurz vor dem Selbstmordversuch, als er zum Giftbecher greift. Die Sprache ist stark bildlich und symbolisch aufgeladen.
In ihrer Abfolge bilden sie eine Steigerung vom Kosmischen (Wolkenhimmel), über das Mythisch-Natürliche (Mond) bis zum Menschlichen (Lampe). Alle drei Lichtquellen – göttlich, natürlich, menschlich – verschwinden oder ziehen sich zurück. Faust wird in eine radikale Nacht geführt, in eine Leere, in der nur noch der Tod als letzter Ausweg erscheint. Diese Konstellation ist die unmittelbare Vorbereitung des Übergangs zur Ostermorgen-Szene – und der ersten Wende zur Errettung.
Es dampft! – Es zucken rothe Strahlen471
Mit dem abrupten Ausruf beginnt eine atmosphärisch dichte Beschreibung. Das Verb »dampft« verweist auf eine unklare, sich materialisierende Erscheinung – möglicherweise als Resultat von Fausts magischer Beschwörung. Der Dampf steht hier nicht nur für physische Veränderung des Raumes, sondern auch symbolisch für die Grenze zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, dem Diesseits und Jenseits. Es deutet eine Verwandlung der Realität an, ein Eindringen des Übernatürlichen.
Die rot zuckenden Strahlen suggerieren ein bedrohliches, möglicherweise dämonisches Licht. Das Zucken erinnert an Blitze oder elektrische Entladungen, ein Bild für Unruhe und energetische Spannung. Die Farbe Rot steht oft für Gefahr, Leidenschaft oder das Dämonische – sie kontrastiert mit dem Dunkel der Nacht und markiert den Höhepunkt der Beschwörung.
Mir um das Haupt – Es weht472
Dass die Strahlen um das Haupt Fausts erscheinen, hat symbolische Schärfe: Das Haupt als Ort des Denkens, der Ratio, wird nun von irrationalen, ekstatischen Kräften umspielt – eine visuelle Vorwegnahme des inneren Umsturzes.
Ein Schauer vom Gewölb’ herab –473
Hier tritt ein sinnliches Erleben hinzu: ein Windhauch, der einen Schauer verursacht. Das Wort »Schauer« trägt doppelte Bedeutung – es beschreibt sowohl die körperliche Empfindung (Kälte, Schauder), als auch ein seelisches Erzittern angesichts des Erhabenen oder Unheimlichen. Dass dieser Schauer »vom Gewölb’« – also von oben, aus der Höhe des Raumes – herabkommt, verstärkt die sakrale oder dämonische Dimension. Das Gewölbe kann als Himmels- oder Kirchengewölbe gelesen werden – ein Ort der Transzendenz –, aus dem nun jedoch kein Trost, sondern Unheil herabsinkt.
Und faßt mich an!474
Diese Zeile ist kurz, heftig, wie ein Aufschrei. Die dunkle Kraft, die bisher nur als Atmosphäre spürbar war, ergreift Faust nun direkt. Die Berührung ist körperlich, vielleicht sogar gewalttätig – sie markiert den Moment, in dem Fausts innerer Zustand von der äußeren Erscheinung überrannt wird. Das »Anfassen« ist mehr als ein Kontakt: Es bedeutet eine Durchdringung, eine Besitzergreifung, ein Übergang. Hier kulminiert die Szene im unmittelbaren Kontakt zwischen Mensch und jenseitiger Macht – ein Moment des numinosen Schreckens.
Zusammenfassend 471-474
Diese vier Verse stehen an einem Wendepunkt der Szene »Nacht«. Nachdem Faust zunächst aus Enttäuschung über die Grenzen der Wissenschaft gesprochen hat und dann in okkultes Wissen eindringt, beginnt nun die Vision oder Halluzination, die seine Sinne und seinen Geist überwältigt. Die Sprache wird ausdrucksstark, eruptiv und bildhaft. Goethe verdichtet hier – mit wenigen Worten – eine ganze Theologie des Übergangs vom rationalen zum irrationalen Erkenntnisweg, in einer dramatisch aufgeladenen Atmosphäre.
Ich fühl’s, du schwebst um mich, erflehter Geist.475
Der Vers beginnt mit Ich fühl’s – eine knappe, ausdrucksstarke Aussage, in der Sinneswahrnehmung mit innerer Gewissheit verschmilzt. Faust glaubt nicht nur an die Gegenwart des Geists – er fühlt sie. Damit erhebt sich die Szene über bloße Spekulation: Es geht nun um erfahrene Präsenz, ein ekstatisches Spüren jenseits rationaler Erkenntnis.
du schwebst um mich — Das Verb schweben ist doppeldeutig: Es evoziert sowohl Leichtigkeit und Transzendenz als auch Unsichtbarkeit und Unbestimmbarkeit. Der Geist bleibt unstet, nicht fassbar, ein Umkreisen ohne konkrete Manifestation. Dieses Schweben ist zugleich bedrohlich und verheißungsvoll.
erflehter Geist – Hier kommt Fausts Sehnsucht nach dem Übersinnlichen besonders deutlich zum Ausdruck. Erflehen enthält den Impuls des Bittenden, des Unterlegenen – Faust, der große Gelehrte, zeigt sich hier demütig gegenüber einer höheren Macht. Zugleich ist die Anrede eine Art Zauberformel: durch die Nennung des erflehten Geists wird dieser sprachlich und magisch beschworen.
Damit kulminiert Fausts Streben in ein visionäres Ergriffensein: Der ersehnte Kontakt scheint endlich zustande zu kommen – zumindest in der subjektiven Wahrnehmung Fausts.
Enthülle dich!476
Ein einziger Imperativ – kraftvoll, fordernd, ekstatisch. Faust fordert nicht mehr nur; er befiehlt fast. Der Imperativ zeigt, dass Faust aus der Rolle des demütigen Beters in eine des aktiv Beschwörenden tritt. In diesem Moment spitzt sich das Verhältnis zwischen Mensch und Geist, zwischen Begrenztem und Transzendentem zu.
Enthülle impliziert, dass der Geist bereits gegenwärtig, aber noch verhüllt, noch verborgen ist. Faust verlangt eine Epiphanie – ein Aufdecken des Unsichtbaren, ein Sichtbarwerden des Numinosen. Es geht um Offenbarung, um das Sich-Zeigen des Wesens, das bisher nur in Andeutungen präsent war.
Zugleich ist in diesem Wunsch die klassische Hybris enthalten: Der Mensch will sich die höhere Welt enthüllen lassen – ein Wunsch, der an die Prometheus-Figur erinnert. Faust drängt damit an die Grenze des Erlaubten und spielt mit einer potenziellen Selbstüberhebung, wie sie im klassischen Drama oft mit tragischen Konsequenzen verbunden ist.
Zusammenfassend 475-476
Diese Zeilen markieren einen entscheidenden Moment: Fausts intensive Anrufung eines höheren Geistes (des sogenannten »Erdgeists«) scheint Wirkung zu zeigen. Nach vielen vergeblichen Versuchen der Erkenntnis und intensiver Beschäftigung mit Magie und Geheimlehren vollzieht sich hier ein Übergang vom bloßen theoretischen Streben zur visionären Erfahrung.
Sie stehen im Zentrum einer spannungsgeladenen Übergangsphase zwischen innerem Ringen und äußerer Vision. Faust hat lange nach einer höheren Wahrheit gesucht, und nun scheint der »erflehte Geist« zu erscheinen. Die Sprache drückt einerseits demütige Sehnsucht aus (erfleht), andererseits machtvolle Forderung (Enthülle dich!). Das Verhältnis von Mensch und Geist bleibt ambivalent: berührend, gefährlich, aufgeladen mit existenzieller Dringlichkeit.
Ha! wie’s in meinem Herzen reißt!477
Dieser Vers beginnt mit dem Ausruf »Ha!«, einem Laut roher, unartikulierter Erregung. Es ist ein Schmerzens- und zugleich Erweckungsschrei, der keine kontrollierte Reflexion mehr ausdrückt, sondern unmittelbares, eruptives Empfinden.
Die Wendung »wie’s in meinem Herzen reißt« ist sowohl bildhaft als auch körperlich eindringlich: Das Verb reißen evoziert nicht bloß Schmerz, sondern Zerrissenheit, Gewalt, etwas Unaufhaltbares. Das Herz als Zentrum des Fühlens und Seins wird nicht einfach »berührt« oder »bewegt«, sondern gewaltsam aufgerissen. Diese Metaphorik spiegelt Fausts innere Zerreißprobe, seine existentielle Unruhe, sein Herausgerissenwerden aus einem bisherigen Zustand.
Zu neuen Gefühlen478
Dieser Vers ist grammatisch ein Nachsatz, ein Weiterführen oder Nachklang des vorherigen: Das Reißen im Herzen führt zu neuen Gefühlen.
Der Ausdruck »neue Gefühle« markiert eine Schwelle: Es handelt sich nicht mehr um bekannte, gewohnte Affekte, sondern um etwas qualitativ anderes, das Fausts bisherigen Erfahrungsraum überschreitet. Neu meint in diesem Kontext auch erschütternd, übermächtig, transformierend. Es klingt die Möglichkeit einer inneren Verwandlung an – oder gar einer Offenbarung, die aus der Tiefe aufsteigt. Der Vers bleibt in sich offen und fast schwebend: keine Aussage über die Natur dieser Gefühle, nur ihre Neuheit wird betont – was Spannung erzeugt.
All’ meine Sinnen sich erwühlen!479
Hier kulminiert die Erregung. Das Subjekt dieses Verses – alle meine Sinnen – deutet auf die Ganzheit von Fausts Wahrnehmungsapparat, also sein gesamtes Ich, das nicht nur emotional, sondern auch sinnlich erschüttert wird.
Das Verb »erwühlen« ist ein poetisches Neologismus oder ein archaisch-gehobener Ausdruck für ein inneres Aufgewühltsein, ein chaotisches, fast stürmisches In-Bewegung-Geraten. Die Vorsilbe er- betont, dass dieses Aufwühlen nicht von außen kommt, sondern aus dem Innern steigt und sich ausbreitet – ähnlich einer wuchernden Erregung.
Die Reflexivkonstruktion »sich erwühlen« verleiht dem Vorgang eine gewisse Selbstbewegung, ein Moment der Unkontrollierbarkeit, das zu Fausts existenziellem Ringen passt.
Zusammenfassend 477-479
Diese drei Verse schildern einen inneren Durchbruch, einen Moment der intensiven Selbsterfahrung, in dem Fausts bisherige, rationale Weltordnung durch ein kaum benennbares Gefühlserlebnis erschüttert wird. Der Rhythmus wird schneller, die Syntax fragmentarischer, der Ton eruptiver – ein dichter Ausdruck psychischer Erregung.
Im größeren Zusammenhang mit der Szene »Nacht« stehen diese Verse kurz vor Fausts Beschwörung des Erdgeistes, also jenes Moments, in dem er versucht, die Grenzen des menschlichen Wissens zu überschreiten. Die hier analysierten Verse markieren die emotionale Voraussetzung für diesen Übergang: Schmerz, Unruhe, Ergriffenheit – der Durchbruch ins Numinos-Erhabene.
Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben!480
»Ich fühle ganz« – Diese Wortgruppe betont die vollständige Empfindung, das ganze Herz ist involviert. Der Ausdruck des Fühlens verweist auf eine überwältigende, nicht rein rationale Regung, sondern auf ein emotionales Bekenntnis. Das Adverb »ganz« verstärkt die Totalität der Hingabe.
»mein Herz dir hingegeben« – Die Formulierung evoziert das Bild einer Liebeserklärung oder religiösen Weihe, wobei unklar bleibt, wer mit »dir« genau gemeint ist. Im unmittelbaren Kontext ist das »Buch mit geheimnisvollen Zeichen« gemeint, also die magisch-okkulte Schrift, in die Faust sich vertieft hat. Er gibt sich also nicht einem Menschen, sondern einer transzendenten Macht oder Idee hin. Diese Hingabe hat Züge von Mystik oder dämonischer Beschwörung – sie ist total, bewusst und gefährlich.
Du mußt! du mußt! und kostet’ es mein Leben!481
Dieser Vers steigert die Intensität der vorherigen Aussage ins Zwanghafte und Tödliche.
»Du mußt! du mußt!« – Die Wiederholung betont Zwang und Dringlichkeit. Es handelt sich nicht um eine Bitte, sondern um einen imperativen Anspruch an das angesprochene Objekt, wahrscheinlich erneut das magische Buch oder eine übernatürliche Macht. Es klingt fast wie eine Beschwörungsformel, mit der Faust versucht, die andere Instanz zu einer Offenbarung oder Handlung zu zwingen.
»und kostet’ es mein Leben!« – Der Verzicht auf das Hilfsverb (»hat«) und die Ellipse im Konjunktiv II (»kostet’«) steigern die Dramatik: Faust ist bereit, sein Leben zu opfern. Die Formulierung erinnert an religiöse Märtyrerformeln, aber hier steht nicht die Erlösung, sondern die Erkenntnis um jeden Preis im Zentrum. Es ist die tragische Bereitschaft zur Selbstvernichtung im Namen einer höheren, möglicherweise unmöglichen Wahrheit.
Zusammenfassend 480-481
Diese Zeilen markieren einen entscheidenden Moment der inneren Erregung und Entschlossenheit. Eine Vers-für-Vers-Analyse ergibt folgende Einsichten:
Diese beiden Verse zeigen Fausts ekstatische Selbstaufgabe: seine »Herzenshingabe« ist nicht sanft oder rein idealistisch, sondern wird sofort mit existenzieller Gewalt und Zwang aufgeladen. Sie spiegeln zentrale Motive der Faust-Dichtung: Erkenntnishunger, Grenzüberschreitung, mystische oder dämonische Selbstentäußerung, und letztlich das tragische Ringen des modernen Menschen mit seiner Begrenztheit. Faust überschreitet hier bereits den rationalen Bereich des Gelehrten und tritt in den magisch-existentiellen Bereich ein – bereit, alles zu riskieren.