Clemens Brentano
14. Juli 1834
Ich weiß wohl, was dich bannt in mir,
Die Lebensglut in meiner Brust,
Die süße zauberhafte Zier,
Der bangen tiefgeheimen Lust,
Die aus mir strahlet, ruft zu dir,
Schließ mich in einen Felsen ein,
Ruft doch arm Lind durch Mark und Bein:
Komm, lebe, liebe, stirb an mir,
Leg' dir diesen Fels auf deine Brust,
Du mußt, mußt.
Analyse
• Clemens Brentanos Gedicht vom 14. Juli 1834, entstanden kurz vor seinem Tod, lässt sich als ein lyrisches Vermächtnis lesen, in dem sich persönliche Passion, romantische Metaphysik und religiöse Sehnsucht auf dichteste Weise überlagern. Die wenigen Verse enthalten eine außerordentliche emotionale und symbolische Dichte, die bei näherer Betrachtung in mehrere Ebenen auffaltbar ist.
• Es ist ein letztes Aufleuchten der romantischen Vision, in der menschliche Liebe und göttliche Erfahrung untrennbar verschränkt sind. Es ist ein Text an der Schwelle: zwischen Leben und Tod, Fleisch und Geist, Sinnlichkeit und Askese. In seiner Bildlichkeit und seinem Tonfall evoziert es sowohl die brennende Leidenschaft der romantischen Liebe als auch die verzehrende Glut des göttlichen Feuers. Der Text spricht nicht über Liebe — er ist Liebe als Ereignis, das keine Mitte kennt und keine Rückkehr erlaubt.
• Es gehört in vielerlei Hinsicht zur poetischen Welt der Spätromantik. Es verbindet ekstatische Bildsprache mit leidenschaftlicher Innerlichkeit, einer sprachlichen Dringlichkeit und einem mythisch-symbolischen Liebesverständnis, das sich in der deutschen Romantik häufig findet.
• Insgesamt ist Brentanos Gedicht ein kurzer, aber außerordentlich dichter Ausdruck romantischer Liebespoesie, in der Individualität, Schicksal, Natur und Transzendenz auf fast mystische Weise verschmelzen. Die sprachliche Unbedingtheit, die emotionale Dringlichkeit und die symbolischen Verdichtungen sind charakteristisch für sein Werk und die poetische Weltsicht der Romantik im Übergang zur Innerlichkeit und Ekstase der späteren Jahrzehnte.
• Ein dichterisch verdichteter Monolog, in dem eine Stimme – vermutlich die des poetischen Ichs – in leidenschaftlicher Unmittelbarkeit von der Faszination, Gewalt und Unentrinnbarkeit einer tiefen Liebesempfindung spricht. Der Text lässt sich sowohl semantisch als auch psychologisch und literaturgeschichtlich als Ausdruck romantischer Dialektik zwischen Ekstase und Zerstörung, zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Selbst und anderem deuten.
• Dieses späte Gedicht von Brentano ist ein kondensiertes Beispiel für die romantische Radikalisierung des Liebesmotivs: Liebe als metaphysischer Sog, der Leben, Lust und Tod unauflöslich ineinander bindet. Semantisch bewegt es sich in einer symbolischen Sphäre voller Doppeldeutigkeiten; psychologisch legt es eine obsessive, geradezu manische Leidenschaft offen; literarisch verknüpft es zentrale Topoi der Romantik mit mystischen und mythologischen Bildfeldern. Es bleibt offen, ob das lyrische Ich verführt, warnt oder fleht – aber sicher ist: Es fordert alles.
• Es entfaltet eine leidenschaftlich-metaphysische Vision von Liebe, Tod und innerer Notwendigkeit. Die Sprache oszilliert zwischen romantischer Sehnsucht, existenzieller Dringlichkeit und mystischer Verschmelzung.
• Brentanos Gedicht wirkt wie ein komprimierter Ausbruch mystischer, existenzieller Wahrheit in der Sprache des Eros. In ihm wird die Liebe nicht verklärt, sondern bis an ihren tödlichen Ernst gedacht — der Geliebte wird zum Träger einer göttlich-unentrinnbaren Notwendigkeit, deren Anerkennung keine Erlösung, aber vielleicht Wahrheit bringt.
Historisch-kultureller Kontext
• Das Gedicht stammt aus der Spätzeit der deutschen Romantik, einer Epoche, die sich von der Aufklärung absetzte und das Gefühl, das Unbewusste, das Mystische und das Göttliche in der Welt betonte. Brentano war eine zentrale Gestalt der Heidelberger Romantik, in enger Verbindung mit Achim von Arnim und den Gebrüdern Grimm. Ab den 1810er Jahren erlebte er einen tiefgreifenden religiösen Wandel: Nach einer intensiven Phase erotischer und dichterischer Leidenschaft wandte er sich einer stark mystisch geprägten Frömmigkeit zu, insbesondere beeinflusst durch seine Verbindung zur Nonne und Mystikerin Anna Katharina Emmerick, deren Visionen er aufzeichnete.
• Das Gedicht steht im Spannungsfeld dieser Lebensbewegungen: Zwischen sinnlicher Leidenschaft und mystischer Todessehnsucht, zwischen poetischer Verführung und religiösem Ernst. Es lässt sich als letzter Widerhall einer romantischen Konzeption von Liebe lesen, die in ihrer Absolutheit schon an die Schwelle der Transzendenz rührt.
Inhaltliche Analyse und Gliederung
Das Gedicht besteht aus neun Versen, die formal keine klare Strophenstruktur aufweisen, aber eine thematische Gliederung erkennen lassen:
1. Versgruppe (V. 1–5): Die magnetische Wirkung des Ich
»Ich weiß wohl, was dich bannt in mir,
Die Lebensglut in meiner Brust,
Die süße zauberhafte Zier,
Der bangen tiefgeheimen Lust,
Die aus mir strahlet, ruft zu dir,«
Hier spricht ein lyrisches Ich, das sich seiner Macht über ein "Du" bewusst ist. Es beschreibt sich als Quelle einer glühenden, fast überirdischen Anziehung: "Lebensglut", "Zier", "tiefgeheime Lust" — eine Mischung aus Erotik, Magie und spirituellem Leuchten. Das »strahlen« impliziert nicht nur Schönheit, sondern auch das metaphysische Licht, wie es in der Mystik häufig auftritt.
2. Versgruppe (V. 6–7): Der paradoxale Rückzug
»Schließ mich in einen Felsen ein,
Ruft doch arm Lind durch Mark und Bein:«
Ein Bruch. Die vorher entfaltete Anziehung wird konterkariert durch einen Wunsch nach Einsperrung, nach Einkapselung im »Felsen« — ein archetypisches Bild der Askese, des Rückzugs oder gar des Grabes. Doch selbst dort ruft das »Lind«, eine sanfte, weiche Stimme oder Wesen, durch Mark und Bein. Es ist nicht klar, ob »Lind« für das Du steht oder ein inneres Sehnen des Ich bezeichnet. Die Stimme durchdringt die Materie, durchkreuzt die Grenze zwischen Tod und Leben.
3. Schlussgruppe (V. 8–9): Die finale Hingabe
»Komm, lebe, liebe, stirb an mir,
Leg' dir diesen Fels auf deine Brust,
Du mußt, mußt.«
Diese letzten drei Verse steigern sich zu einer fast ekstatischen Beschwörung. Das imperative »Komm« leitet ein finales Dreigestirn ein: Leben, Lieben, Sterben — nicht getrennt, sondern als eine untrennbare Erfahrung der Liebe verstanden. In der paradoxen Formel, sich den »Fels auf die Brust« zu legen, liegt die mystische Vorstellung, dass Liebe zur Welt- und Selbstverneinung drängt: zum Leiden, zum Tod, aber auch zur Vereinigung. Das doppelte »Du mußt« hebt jede Willensfreiheit auf — Liebe ist hier ein göttliches oder dämonisches Gesetz.
Philosophisch-theologische Deutung
Das Gedicht lässt sich als radikale Theologisierung der romantischen Liebe lesen. Brentano imaginiert die Beziehung zwischen Ich und Du nicht nur als zwischenmenschlich, sondern als ein Geschehen, das die Grenzen von Subjektivität, Materie und Geist übersteigt. Mehrere Konzepte aus Mystik und Theologie klingen an:
1. Die Liebe als transzendierender Akt
Die Zeile »lebe, liebe, stirb an mir« evoziert Vorstellungen der mystischen Hochzeit, wie sie etwa bei Johannes vom Kreuz oder Mechthild von Magdeburg vorkommt: Die Liebe führt zur völligen Selbsthingabe, ja zum Tod des Egos, um in der göttlichen Einheit aufzugehen. Das »an mir« unterstreicht, dass das lyrische Ich hier nicht bloß Objekt der Liebe ist, sondern Medium oder Kanal einer höheren Instanz.
2. Der Fels als Bild der Ambivalenz
Der Fels steht in der christlichen Symbolik für Stabilität (vgl. Petrus als »Fels der Kirche«) wie auch für Grab (Stein des Grabes Jesu). In der Wendung »Leg dir diesen Fels auf deine Brust« kommt beides zusammen: Das Gewicht der Liebe ist zugleich Leben und Tod. Es erinnert an die mittelalterliche Vorstellung, dass Gottes Liebe »süß« und »bitter« zugleich sei (amor dulcis et amarus).
3. Zwang und Gnade
Das doppelte »Du mußt« trägt die Spannung zwischen erotischem Zwang und göttlichem Ruf. In der Mystik wird das Verhältnis zur Gottheit oft als etwas erlebt, dem man sich nicht entziehen kann — Gnade wird zur Notwendigkeit. Brentano scheint diesen göttlichen Imperativ auf das Menschliche, ja Erotische zu übertragen, wodurch eine Art erotische Theologie entsteht.
Strukturelle Mittel und Rhetorik
• Das Gedicht besteht aus acht Versen, deren Metrum nicht streng durchgehalten wird, aber überwiegend eine alternierende Taktung mit vier Hebungen aufweist. Es gibt keine festgelegte Reimform; das Gedicht bewegt sich frei zwischen Paar- und Kreuzreimen, wobei einzelne Binnenreime (z. B. »Brust« – »Lust«) die klangliche Dichte erhöhen. Diese formale Beweglichkeit unterstreicht die Leidenschaft und emotionale Unruhe des lyrischen Ichs.
• Rhetorisch dominieren direkte Anreden (»Ich weiß wohl, was dich bannt in mir«), imperativische Wendungen (»Schließ mich in einen Felsen ein«, »Komm, lebe, liebe, stirb an mir«) sowie Steigerungsfiguren, die auf eine dramatische Intensivierung der Gefühlslage abzielen. Das Gedicht arbeitet mit der Technik der Anakoluthe, also abrupten, grammatisch nicht abgeschlossenen oder bewusst verschobenen Satzgefügen, die die emotionale Aufgewühltheit der Stimme betonen.
• Auffällig ist die letzte Zeile: »Du mußt, mußt.« Sie steht isoliert da, ohne erklärendes Objekt, als reiner Ausdruck eines inneren Zwangs oder Schicksals. Dies ist ein klassisches Mittel romantischer Rhetorik, das Suggestion und Affekt über Logik stellt.
Sprache und Stilmittel
• Brentanos Sprache ist emphatisch, bildreich und durchzogen von Metaphern, die das Motiv der Liebe mit Natur- und Elementarsymbolen verbinden. Besonders auffällig ist das Bild des »Felsens«, der sowohl Gefängnis als auch Ort innigster Vereinigung sein kann – er evoziert das Motiv des Grabes ebenso wie das der Vereinigung zweier Seelen in der Stille der Ewigkeit.
• Die Personifikation (»Lind« ruft durch »Mark und Bein«) verleiht dem inneren Erleben eine fast geisterhafte Außenstimme. Dieses »Lind« ist nicht klar zu deuten – möglicherweise ein Neologismus oder ein poetisches Synonym für einen Seelenhauch, eine Anrufung des Windes oder eine mystische Kraft. Dadurch entsteht eine suggestive, beinahe unheimliche Stimmung.
• Die Klimax (»Komm, lebe, liebe, stirb an mir«) führt in vier Stufen von der Einladung zum Leben bis zum Tod – eine klassische romantische Geste, in der die Liebe so absolut gedacht wird, dass sie den Tod nicht nur umfasst, sondern geradezu fordert. Das »an mir« verstärkt die existentielle Nähe, ja Verschmelzung von Ich und Du.
Gattungs- und Stilkontext
• Das Gedicht steht im Kontext der Spätromantik, in der religiöse Schwärmerei, Todessehnsucht und eine metaphysisch überhöhte Liebesauffassung zentrale Themen sind. Brentano, als Teil des romantischen Kreises um die Gebrüder Grimm, Achim von Arnim und Bettine von Arnim, war nicht nur Dichter, sondern auch Mystiker und Katholik mit tiefem Interesse an Visionen und Offenbarungen (z. B. seine Bearbeitung der Visionen der Anna Katharina Emmerick).
• Diese Verse lassen sich als Teil der romantischen Liebes- und Todesmystik verstehen, wie sie auch in der Literatur Novalis' oder in den Ekstasen einer Karoline von Günderrode begegnet. Die Liebe ist hier nicht psychologisch oder bürgerlich aufgefasst, sondern als Naturgewalt, als ein inneres »Müssen«, das bis zur Selbstaufgabe reicht.
• Auch motivisch lässt sich eine Nähe zur Volksliedtradition erkennen – in der Reduktion auf zentrale Gefühle, in der Repetition (»mußt, mußt«) und der Formulierung einfacher, klangvoller Zeilen. Das macht Brentano zu einem der Meister der romantischen Synthese von Kunst- und Volksdichtung.
Semantische Analyse
Die zentrale semantische Bewegung des Gedichts verläuft von einer Selbstbeschreibung (»Ich weiß wohl, was dich bannt in mir«) über eine emphatische Einladung oder Verführung (»Komm, lebe, liebe, stirb an mir«) hin zu einer Art imperativischem Zwang (»Du mußt, mußt«). Es handelt sich um eine suggestive Rede, die zwischen Selbstoffenbarung und magischer Beschwörung schwankt.
»Ich weiß wohl, was dich bannt in mir«:
Das lyrische Ich nimmt sich selbst als etwas Bannendes wahr – es besitzt eine magnetische Kraft. Der Ausdruck »bannt« hat eine doppelte Konnotation: zum einen im Sinne von »fesseln«, zum anderen aber auch im Sinne von »verzaubern« oder gar »verfluchen«.
»Die Lebensglut in meiner Brust«:
Dies verweist auf eine vitale, fast überbordende Lebenskraft, eine innere Hitze, die Leidenschaft, Energie, aber auch Zerstörungspotenzial in sich birgt.
»Die süße zauberhafte Zier«:
Hier wird der äußere Reiz des Ichs hervorgehoben – Schönheit nicht nur als Oberfläche, sondern als eine verführerisch-magische Qualität.
»Der bangen tiefgeheimen Lust«:
Diese Zeile bringt eine existentielle Tiefe hinein: Die Lust ist nicht rein erotisch, sondern »bange« – sie hat etwas Unheimliches, etwas, das Angst macht, das vielleicht Schuld oder Gefahr in sich trägt. Das Adjektiv »tiefgeheim« evoziert den Eindruck eines verborgenen Urtriebs oder Geheimnisses.
»Die aus mir strahlet, ruft zu dir«:
Das Ich sieht sich selbst als ein Zentrum der Ausstrahlung – eine Energieform, die nicht kontrolliert, sondern erfahren und erlitten werden muss.
»Schließ mich in einen Felsen ein«:
Diese Wendung wirkt wie eine Umkehrung: Das Ich will eingesperrt werden, aber der Felsen wird zugleich zur Metapher für den anderen – es scheint die Vereinigung mit dem Anderen durch Selbstaufgabe zu wünschen. Zugleich evoziert der Felsen mythologische Vorstellungen (etwa Prometheus, Sisyphos, oder christlich: die Grabeshöhle).
»Ruft doch arm Lind durch Mark und Bein«:
»Lind« ist ein veraltetes Wort für »sanft« oder »mild«, hier aber vermutlich auch als Eigenname zu lesen – es könnte sich um eine reale oder mythisierte Geliebte handeln, deren Ruf durch den Körper des Ichs fährt. Der Ruf ist paradox: er ist »arm«, also schwach oder leidend, aber wirkt körperlich tief: durch Mark und Bein.
»Komm, lebe, liebe, stirb an mir«:
Diese Zeile kulminiert im romantischen Pathos: Leben und Lieben sind nicht getrennt vom Tod – sie steigern sich in ihn hinein. Das Ich fordert den Anderen auf, sich vollständig hinzugeben – bis zur Selbstaufgabe.
»Leg' dir diesen Fels auf deine Brust«:
Hier wird der Fels, der zuvor noch als Ort der Einkerkerung des Ichs galt, nun zu einer Last, die der Andere auf sich nehmen soll – Symbol einer Liebe, die Gewicht, Schmerz und Tod bedeutet.
»Du mußt, mußt.«
Die Wiederholung des Modalverbs ist eindringlich und schicksalshaft: Es gibt keinen Ausweg. Liebe ist hier kein Akt der Wahl, sondern ein metaphysischer Zwang.
Psychologische Dimension
• Psychologisch artikuliert sich in diesem Gedicht eine obsessive Liebesstruktur, die zwischen ekstatischer Selbstüberhöhung und einer gleichzeitigen Auslöschung des Selbst oszilliert. Das Ich erkennt sich selbst als Quelle der Begierde, aber auch als Zentrum einer zerstörerischen Macht, die den Anderen »ruft«, »bannt« und schließlich zum Tod führt.
• Diese Dynamik lässt sich mit Freud'schen Begriffen als ein Wechselspiel von Eros und Thanatos deuten – Triebkräfte, die im Menschen nicht gegeneinander, sondern ineinander wirken. Die »Lust« ist bange, weil sie mit dem Tod verschwistert ist; das Begehren geht so tief, dass es nicht nur auf Vereinigung zielt, sondern auf völlige Verschmelzung, ja Auslöschung der Subjektgrenzen.
• Das Gedicht exponiert auch narzisstische Züge: das Ich ist sich seiner »Zier« und »Glut« bewusst und erlebt sich als so überwältigend, dass der Andere sich ihm nicht entziehen kann. Die Liebe wird nicht dialogisch gedacht, sondern als monologisch-herausforderndes Schicksal. Diese radikale Selbstsetzung verweist auf eine romantische Ich-Erhöhung, die das Andere zwar ruft, aber letztlich absorbieren will.
Literarische Topoi
1. Magische Verführung:
Die Sprache des Gedichts ist durchsetzt von Formeln, die an Zaubersprüche erinnern – »Lebensglut«, »zauberhafte Zier«, »tiefgeheime Lust«. Diese Elemente gehören zur romantischen Traditionslinie von Novalis bis E.T.A. Hoffmann, wo Liebe oft als okkultes oder übernatürliches Geschehen gefasst wird.
2. Liebe und Tod:
Die Verbindung von »lebe, liebe, stirb an mir« erinnert an den Topos der tödlichen Liebe, der bei Brentano mehrfach begegnet, z. B. in der Loreley-Figur oder in der sakralisierten Liebe zu Bettina von Arnim. Auch hier wird die Liebe zur totalen Hingabe, zur Ekstase – aber eben auch zum Exitus.
3. Der Fels als Symbol:
Der Fels ist ein klassisches Symbol für Dauer, Unbeweglichkeit, aber auch für Begrenzung. Im christlich-mystischen Kontext kann er Grab, Herz oder Altar sein. Bei Brentano kippt das Motiv mehrfach: der Fels als Gefängnis, als Last, als Ort der Vereinigung – ein ambivalentes Bild, das sich nicht eindeutig auflösen lässt.
4. Romantische Doppelnatur des Ichs:
Wie oft in der Romantik ist das Ich nicht einheitlich, sondern zerrissen – zwischen leuchtender Verführungskraft und düsterer Abgründigkeit. Dieses Spannungsverhältnis ist ein Grundmotiv der deutschen Spätromantik, das Brentano mit radikaler Konsequenz poetisch verdichtet.
Symbole und Motive
• Zentral ist das Motiv der unwiderstehlichen Anziehung — das lyrische Ich weiß um die Macht, die es auf das Du ausübt. Diese Kraft ist nicht bloß körperlich oder erotisch, sondern von metaphysischer Tiefe: »Lebensglut«, »zauberhafte Zier«, »tiefgeheime Lust« – allesamt Chiffren für eine überindividuelle Energie, die nicht nur zur Liebe, sondern auch zum Tod führt.
• Der Fels ist doppeldeutig: Einerseits Schutz, Gefängnis, Ort der Einschließung, andererseits symbolisiert er das Gewicht des Schicksals, das sich auf die Brust legt – das Bild des Erdrückenden, vielleicht sogar des Todes. Doch auch dieses Motiv ist erotisch grundiert: Der Fels als Körper des Anderen, als Gewicht der Liebe selbst, das man auf sich nimmt, das einen fordert, verwandelt und zerstört.
• Das Motiv des »Rufens« — »Ruft doch arm Lind durch Mark und Bein« — evoziert die Dramatik des Begehrens: eine Stimme aus dem Innersten des Seins (Mark und Bein) fordert Leben, Liebe und Tod ein. In dieser Dreieinigkeit spiegelt sich ein romantisches Motiv des Totalen – das Leben ist nur erfüllt durch Liebe, und diese Liebe führt unweigerlich zum Tod. Das Muss am Schluss ist Ausdruck einer fatalistischen Liebe, die keinen Ausweg duldet.
Lexikalik und Wortfelder
• Das Wortfeld ist stark aufgeladen durch Begriffe der Innerlichkeit: Brust, Mark, Bein, Lust, aber auch strahlet, bangen, tiefgeheim – sie verweisen auf ein seelisch-leibliches Erleben. Die Sprache ist hochverdichtet, fast eruptiv, und kreist um Wärme, Druck, Notwendigkeit und Hingabe.
• Typisch für die Romantik ist der Gebrauch intensiver Adjektive und Partizipien: süß, zauberhaft, tiefgeheim, bang, arm, die nicht nüchtern beschreiben, sondern emotionale Atmosphären evozieren. Die Formulierungen wirken suggestiv, beinahe beschwörend, was durch das dreifache Imperativfinale (»komm, lebe, liebe, stirb«) auf einen ekstatischen Höhepunkt getrieben wird.
• Das Wort »mußt« (zweimal wiederholt) bildet den apodiktischen Schlusspunkt. Dieses Wort hat ein hohes affektives Gewicht – nicht bloß Notwendigkeit, sondern Zwang, Anruf, Schicksal.
Metaphysische Implikationen
• Die Liebe erscheint hier nicht als harmonische Beziehung, sondern als eine metaphysische Kraft, die das Subjekt in seinen Grundfesten erschüttert. Brentano zeigt sich hier als ein radikaler Romantiker: Das Ich ist durchdrungen von einer glühenden Transzendenz, die sich durch das Andere realisiert — und doch droht in dieser Realisierung das Selbst unterzugehen.
• Das Gedicht zielt auf eine Einheit von Eros und Thanatos — Leben, Liebe und Tod sind keine Gegensätze, sondern Aspekte eines einzigen Vorgangs: der vollkommenen Hingabe. Das »Du mußt, mußt« ist nicht bloß rhetorisch, sondern offenbart eine ontologische Struktur der Welt, in der Freiheit zur notwendigen Entsprechung wird. Die Liebe ist nicht optional, sondern notwendig, weil sie die Wahrheit des Seins selbst ausdrückt.
• Auch der Fels gewinnt so eine christlich-mystische Qualität: Er wird zur Last, zur Passion, zum Kreuz. Die Liebe ist nicht bloß Gefühl, sondern ein Weg der Passion — in der mystischen Tradition ist der Tod des Ichs oft Voraussetzung für die Vereinigung mit dem Göttlichen.