E io a lui: «Poeta, io ti richeggio
per quello Dio che tu non conoscesti,
acciò ch’io fugga questo male e peggio,
literarisch-elegant
Und ich zu ihm: „Dichter, ich beschwöre dich
bei jenem Gott, den du nicht kanntest,
dass du mich bewahrst vor diesem Leid und Schlimmerem.“
modern und flüssig
Ich sagte zu ihm: „Dichter, bitte,
bei dem Gott, den du nie erkannt hast –
hilf mir, diesem Elend und noch schlimmerem zu entkommen!“
formal-nüchtern
Ich sprach zu ihm: „Dichter, ich bitte dich
bei dem Gott, den du nicht erkannt hast,
damit ich diesem Übel und noch größerem entgehe.“
1. Sprecher und Kontext
Der Sprecher ist Dante selbst, der in der ersten Gesang des Inferno verloren im „dunklen Wald“ ist. Er begegnet Vergil, den er hier direkt anspricht und um Hilfe bittet. Die Szene ist eine Schwelle: vom Irrweg zur Läuterung.
Vers 130: "E io a lui: «Poeta, io ti richeggio"
• „Poeta“: eine ehrfürchtige Anrede – Vergil wird als der Dichter par excellence angesprochen. Es ist sowohl persönliche Anrede als auch poetologische Metareflexion.
• „Richeggio“ (archaisch für richiedo): bedeutet „ich bitte, ich flehe an“. Der Ton ist inständig, fast flehentlich.
Vers 131: "per quello Dio che tu non conoscesti"
Dies ist ein theologischer Stachel:
• Vergil war Heide und konnte das Christentum nicht kennen – daher „den du nicht erkannt hast“.
• Dante appelliert paradox an etwas, das für Vergil unerreichbar war – eine Bitte im Namen eines Gottes, an den Vergil nicht glaubte (oder nicht glauben konnte).
• Der Ausdruck hat eine bittere Gnade: Vergil darf als Führer helfen, aber selbst nicht ins Paradies gelangen.
• Diese Zeile berührt die Grenze zwischen natürlicher und offenbarter Theologie – Vergil als Symbol des natürlichen Verstandes ohne göttliche Offenbarung.
Vers 132: "acciò ch’io fugga questo male e peggio"
• „questo male“: das aktuelle Übel, der Zustand der Verwirrung, Verlorenheit und Sündhaftigkeit.
• „e peggio“: das größere Übel, gemeint ist die ewige Verdammnis – die Hölle.
• Das ist die existentiale Not des Menschen bei Dante: nicht nur Leiden, sondern das Risiko ewiger Trennung von Gott.
Poetische und theologische Bedeutung
• Theologisch: Der Akt des Rufens nach Führung im Namen Gottes zeigt die Sehnsucht der menschlichen Seele nach Erlösung – auch wenn sie noch nicht „würdig“ ist. Es ist Gnade, dass Hilfe kommt.
• Poetologisch: Dante ruft den klassischen Dichter an, um eine christliche Reise zu beginnen – das ganze Werk ist ein Zusammenspiel von antiker Weisheit und christlicher Wahrheit.
• Psychologisch: Der Mensch (Dante) erkennt seine Ohnmacht und bittet um Führung. Es ist der archetypische Beginn jeder spirituellen Pilgerreise.