In tutte parti impera e quivi regge;
quivi è la sua città e l’alto seggio:
oh felice colui cu’ ivi elegge!».
poetisch-feierlich
Überall herrscht er, doch dort thront er in Macht;
dort ist seine Stadt und sein erhabener Sitz:
o selig der, den er dahin erwählt!
theologisch-prägnant
Er gebietet über alles, doch dort regiert er vollends;
dort ist seine Stadt und sein erhabener Thron:
glückselig, wen er dorthin auserwählt!
literarisch-meditativ
In allen Dingen hat er Macht, und dort lenkt er alles;
dort ist seine Stadt, dort sein hoher Thron:
wie selig ist, wen er dort zu sich ruft!
1. Kontextualisierung
Diese Verse sprechen von Gott und seiner Herrschaft im Himmel. Sie sind Teil von Virgils Beschreibung des Ziels der Reise, das Dante mit Hilfe Beatrices erreichen soll: das Paradies, die himmlische Stadt Gottes. Damit schließt sich der Bogen zwischen dem Anfang der Commedia und ihrem Ende.
2. Philologische und rhetorische Beobachtungen
V.127: „In tutte parti impera e quivi regge“
• impera – herrschen, mit imperialer Konnotation; göttliche Allmacht.
• regge – lenken, regieren: die aktive Fürsorge Gottes für die Ordnung der Welt.
• Die Kombination betont die Allgegenwart und zugleich die besondere Präsenz Gottes im „quivi“ – also im Himmel.
V.128: „quivi è la sua città e l’alto seggio“
• la sua città – Anspielung auf die civitas Dei, Augustinus’ Begriff für die himmlische Stadt.
• alto seggio – der höchste Thron: göttliche Majestät und Gericht.
• Die Architektur des Himmels als Ort der absoluten Ordnung.
V.129: „oh felice colui cu’ ivi elegge!“
• felice – Glückseligkeit im thomistischen Sinn (beatitudo perfecta).
• elegge – göttliche Erwählung, soteriologisch zentral: die Gnade als Eintrittskarte in das Paradies.
• cu’ – Zusammenziehung von „colui che“: klassisch toskanische Syntaxform.
3. Theologische Bedeutung
Gottes Allmacht und Transzendenz:
Er wirkt überall, aber der Himmel ist sein wahrer „Wohnsitz“, sein „Sitz“, also der Ort der vollkommenen Ordnung.
Civitas Dei vs. Civitas Terrena:
Augustinus unterscheidet zwischen der irdischen Stadt (sündig, vergänglich) und der göttlichen Stadt (ewig, gerecht). Dante nimmt diesen Gegensatz auf: Das Paradies als Ziel aller rationalen und moralischen Bewegung.
Erwählungstheologie:
Nur wer „auserwählt“ wird, erreicht diesen Ort. Die Gnade ist nicht verdient, sondern Geschenk (Gnadenerwählung vs. Werkgerechtigkeit – ein zentrales Thema der mittelalterlichen Scholastik).
4. Literarische Struktur und Funktion
Dreigliederung (imperium – civitas – electio):
Dante führt vom universalen Herrschaftsanspruch Gottes über dessen Wohnstatt zur individuellen Seligkeit – eine aufsteigende Bewegung.
Motivischer Übergang von Hölle zu Paradies:
Diese Verse sind wie ein erster Lichtblick im Dunkel des finsteren Waldes – sie zeigen auf das Ziel der Läuterung und Erkenntnis.
Virgils letzte prophetische Handlung:
Diese Worte leitet er ein, kurz bevor Beatrice ihre Rolle übernehmen wird. Damit zeigt sich: Die Vernunft kann das Ziel erahnen, aber nicht aus eigener Kraft erreichen.
5. Symbolik und Rezeption
„alto seggio“ als Spiegel des Papstthrons?
Dante konfrontiert kirchliche Macht mit der wahren Autorität Gottes. Seine Hölle ist bevölkert mit entarteten Kirchenmännern – das „alto seggio“ steht dem gegenüber als reiner göttlicher Maßstab.
Mystische Dimension
Die Erwählung ist ein Akt der Liebe, nicht der Logik. Dieser Vers erinnert an Johannes vom Kreuz oder Meister Eckhart: Der Himmel ist Ort reiner Gottesnähe jenseits von Besitz oder Verdienst.