ché quello imperador che là sù regna,
perch’i’ fu’ ribellante a la sua legge,
non vuol che ’n sua città per me si vegna.
theologisch-literarisch genau, formal gehalten
Denn jener Kaiser, der dort droben herrscht,
da ich mich gegen sein Gesetz empört,
will nicht, dass man durch mich in seine Stadt gelangt.
poetisch frei, sinngemäß
Der Herrscher droben, des Reich ewig währt –
weil ich sein göttlich Recht einst missachtet –
erlaubt es nicht, dass ich sein Reich betrete.
klar und modern formuliert
Der oberste König dort oben,
hat mir – weil ich gegen sein Gesetz war –
verboten, dass ich in seine Stadt führen darf.
1. Textstruktur und Rhetorik
Vers 124: „ché quello imperador che là sù regna“
• quello imperador: feierlicher Titel für Gott – „jener Kaiser“ evoziert Herrschaft, Souveränität, höchste Autorität.
• là sù regna: „dort oben herrscht“ – klassisch mittelalterlich-cosmologische Vorstellung des Himmels als Ort der höchsten Ordnung (→ Paradies, civitas Dei).
Vers 125: „perch’i’ fu’ ribellante a la sua legge“
• fu’ ribellante: Ausdruck existenzieller Rebellion. Vergil gibt selbst zu, gegen das göttliche Gesetz verstoßen zu haben.
• la sua legge: meint die göttliche Ordnung oder das ewige Gesetz (vgl. Augustinus, Lex aeterna).
• Der Vers drückt Vergils Selbsterkenntnis und die tragische Grenze der reinen Vernunft aus: er ist nicht erlöst.
Vers 126: „non vuol che ’n sua città per me si vegna“
• non vuol: Willensakt Gottes – göttliches Wollen als absolute Instanz.
• sua città: die „Stadt Gottes“, also das Paradies / himmlisches Jerusalem.
• per me si vegna: „durch mich komme man dorthin“ – Vergil ist kein Wegbereiter zum Heil; er kann Dante nur bis zur Schwelle führen.
2. Theologische Bedeutung
Vergils Ausschluss vom Himmel:
Diese Zeilen sind Vergils Eingeständnis, dass er als heidnischer Dichter zwar moralisch groß, aber nicht von göttlicher Gnade durchdrungen ist. Die „città“ verweist auf das himmlische Jerusalem – die Gemeinschaft der Erlösten.
Thema der Gnade vs. Verdienst:
Trotz seiner Tugend ist Vergil vom ewigen Heil ausgeschlossen. Dies reflektiert die mittelalterliche Lehre: ohne Gnade Christi keine Erlösung. Dies steht im Kontrast zur natürlichen Tugend (virtù) des antiken Menschenbildes.
3. Philosophisch-anthropologische Implikationen
Augustinische Zwei-Staaten-Lehre:
Civitas Dei (Stadt Gottes) vs. Civitas terrena. Vergil gehört, trotz aller Größe, der letzteren an – eine Grenze, die Vernunft nicht überschreiten kann.
Thomas von Aquin:
Nach scholastischer Sicht bleibt Vergil im limbus der tugendhaften Heiden. Er erkennt Gott durch Vernunft, aber ohne das Licht der Gnade.
4. Poetische Funktion
Der Vers leitet eine dramatische Grenzziehung ein: Vergil, Dantes Führer, ist nur ein Vermittler bis zur Schwelle des Übernatürlichen.
• Die Tragik des Verses liegt in der Demut Vergils: er erkennt seine Grenze, obwohl er der „größte Geist“ der Antike ist.
• Gleichzeitig wirkt dies als foreshadowing der Ankunft Beatrices – als Symbol der göttlichen Liebe und Gnade, die Vergil fehlt.
5. Historisch-literarischer Kontext
Diese Passage ist Teil der großen mittelalterlichen Synthese: der Versuch, antike Weisheit zu ehren, aber sie zugleich der christlichen Theologie unterzuordnen.
• Sie steht am Anfang der Commedia und legt die anthropologische Struktur des ganzen Werks offen: Ratio (Vergil) führt zur Schwelle; Fides (Beatrice) führt zur Schau Gottes.