1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 118-120

dante inferno 1

e vederai color che son contenti
nel foco, perché speran di venire
quando che sia a le beate genti.

poetisch-elegisch
Und du wirst Seelen sehen, die im Feuer
doch heiteren Herzens harren – denn sie hoffen,
einst aufgenommen zu werden von den Seligen.

existenziell-religiös
Du wirst Menschen sehen, die im Feuer leiden
und dennoch frohgemut sind – im Vertrauen,
dass sie einst zu den Seligen gelangen werden.

philosophiebetont
Du wirst jene erblicken, die im Flammenlicht
zufrieden sind, weil ihre Hoffnung ruht
auf dem Eintritt zu den Glückseligen – wann auch immer.

1. Literarischer Kontext

Diese Verse gehören zur Rede des Vergil an Dante, als er ihm den Weg durch das Jenseits erklärt. Dante steht noch am Beginn seiner Reise und befindet sich am Abhang zum Abstieg ins Inferno. Vergil kündigt an, was Dante auf seiner Reise sehen wird, darunter Seelen, die im „Feuer“ sind, aber dennoch Hoffnung auf das Paradies hegen.
• Es handelt sich hier nicht um Sünder der Hölle, sondern um die Seelen im Fegefeuer (Purgatorio), genauer gesagt: um jene, die vorläufig noch büßen, aber auf das Heil hoffen dürfen. Dies ist eine prophetische Vorschau – ein Stilmittel, das Dante oft nutzt, um den inneren Zusammenhang seiner Commedia zu betonen.

2. Theologische Deutung

Der Vers spricht eine zentrale Idee der mittelalterlichen Eschatologie an: die Reinigung durch das Purgatorium (Fegefeuer). Im Gegensatz zur ewigen Verdammnis in der Hölle ist das Feuer hier nicht strafend, sondern reinigend – ein Feuer der Hoffnung.
• „color che son contenti nel foco“ – Das Paradox: Sie sind „zufrieden“ (contenti) im Feuer. Ihre Freude resultiert aus der sicheren Hoffnung auf die endgültige Seligkeit. Dies verweist auf das augustinisch-thomistische Konzept von Hoffnung als „virtus theologica“.
• „perché speran di venire…“ – Ihre Hoffnung ist teleologisch auf das telos der Glückseligkeit ausgerichtet. Ihre Freude speist sich aus einem Wissen, dass ihre Leiden begrenzt und sinnvoll sind.
• „quando che sia“ – Interessant ist die Offenheit der Zeitangabe: wann auch immer – diese Seelen kennen kein genaues Datum der Erlösung, aber sie zweifeln nicht daran, dass sie kommen wird. Dies legt eine tiefe Lehre über Geduld, Vertrauen und den Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit nahe.

3. Poetische Strukturen

Die Terzine ist in klassischer Terzinenform (aba bcb), was eine harmonische rhythmische Struktur erlaubt.
• Die Spannung liegt zwischen den Gegensätzen: Feuer vs. Freude, Leid vs. Hoffnung, zeitliches Ausharren vs. ewiges Ziel.
• Das Wort „contenti“ steht am Ende von Vers 118 und schafft durch seine ungewöhnliche Position eine emphatische Wendung – die paradoxe Zufriedenheit im Feuer wird besonders hervorgehoben.

4. Philosophisch-anthropologische Dimension

Diese Passage stellt eine frühe danteske Anthropologie vor: Der Mensch ist ein Wesen, das Hoffnung kultivieren kann, sogar unter Bedingungen des Leidens. Das „Feuer“ ist nicht bloß physisch zu verstehen – es steht auch für das innere Läuterungsleid, das der Seele ermöglicht, sich von den Folgen der Sünde zu reinigen.
• Im Sinne der aristotelisch-thomistischen Ethik wäre das Glück dieser Seelen eine formale Glückseligkeit durch die Tugend der Hoffnung, nicht durch äußere Umstände.

5. Historischer und systematischer Hintergrund

Im Jahr 1300, dem Zeitpunkt der Handlung, war die Lehre vom Fegefeuer theologisch bereits entwickelt, aber noch nicht dogmatisch abgeschlossen. Erst das Konzil von Lyon (1274) und das Konzil von Ferrara-Florenz (1439) formulierten es schärfer.
• Dantes Darstellung knüpft an die volkstümliche und scholastische Vorstellung an, dass das Purgatorium ein Ort ist, an dem Zeit vergeht, aber mit der sicheren Aussicht auf das Heil.
• Zugleich steht diese Szene in Spannung zur antiken Welt, die Vergil repräsentiert – im römischen Jenseitsglauben gibt es keine endgültige Hoffnung nach dem Tod. Dante überführt Vergil in die christliche Sichtweise und damit in eine metaphysisch orientierte Zeitstruktur: Hoffnung im Leiden wird möglich durch Christus.

Fazit

Diese drei Verse bilden einen theologischen Kontrapunkt zum Inferno: Noch bevor Dante die Hölle betritt, erfährt er, dass es Seelen gibt, die im Feuer „zufrieden“ sind – eine provokante Vorstellung, die das christliche Hoffnungsmotiv in größter Intensität zur Geltung bringt. Die Szene ist ein Vorgriff auf das Purgatorio, aber auch eine Lektion über die tiefere Logik göttlicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.

Inferno Gesang 01 Verse 115-117 | Inferno Gesang 01 Verse 121-123

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