ove udirai le disperate strida,
vedrai li antichi spiriti dolenti,
che la seconda morte ciascun grida;
poetisch-dramatisch
Dort wirst du hören die verzweifelten Schreie,
wirst sehen die alten, leidenden Geister,
die alle nach dem zweiten Tod verlangen.
bildlich-existenzial
Dort hörst du das Wehklagen hoffnungsloser Seelen,
dort siehst du die uralten Geister voller Schmerz,
die alle nach dem endlichen Tod rufen.
philosophisch-präzise
Dort wirst du verzweifelte Schreie vernehmen,
du wirst die uralten, gequälten Seelen schauen,
die nach der zweiten, endgültigen Vernichtung rufen.
1. Kontext innerhalb von Canto I
Diese Verse gehören zu Virgils Warnung an Dante, kurz bevor sie den Abstieg in die Hölle beginnen. Dante ist erschüttert und zögert – Virgil beschreibt, was ihn im Inferno erwartet, um ihn vorzubereiten. Diese Zeilen schildern die Schwelle zum Jenseitsreich, eine Vision des Schreckens, die dem Leser das Entsetzen der Verdammten vor Augen führt.
2. Sprachlich-rhetorische Analyse
"ove udirai le disperate strida"
– ove („wo“) markiert einen Ortswechsel: Der Übergang vom Diesseits ins Jenseits.
– udirai (Futur von „hören“) kündigt eine sinnliche Erfahrung an – das Hören steht im Zentrum.
– le disperate strida (verzweifelte Schreie) sind akustische Signaturen der Verlorenen. Strida ist lautmalerisch (Onomatopoesie), schrill und schmerzlich – das Wort evoziert körperlichen wie seelischen Schmerz.
"vedrai li antichi spiriti dolenti"
– vedrai (du wirst sehen): Wechsel vom auditiven zum visuellen Eindruck – ein weiteres Sinneserlebnis.
– li antichi spiriti dolenti: "die alten, leidenden Geister". Antichi verweist nicht nur auf ihr Alter, sondern auch auf ihr mythologisches oder historisches Gewicht (z. B. Figuren aus der Antike). Dolenti (Schmerzensreiche) bringt ihre ewige Qual auf den Punkt.
– Diese "alten Geister" sind Symbole der gefallenen Menschheit – sie repräsentieren ein Kollektiv der Verlorenen.
"che la seconda morte ciascun grida;"
– Dies ist der theologisch tiefgründigste Vers.
– la seconda morte (der zweite Tod): ein biblischer Begriff aus der Apokalypse des Johannes (Offb 2,11; 20,14), der die endgültige Trennung von Gott bedeutet – ewige Verdammnis.
– ciascun grida: Jeder einzelne ruft danach – das ist paradox, denn sie schreien nicht aus Hoffnung, sondern aus dem Wunsch nach Erlösung durch Vernichtung.
– Die Klage um den „zweiten Tod“ zeigt: Selbst die ewige Existenz ist für sie unerträglich – sie begehren das Nicht-Sein.
3. Theologisch-existenzielle Bedeutung
"Zweite Tod":
In der christlichen Eschatologie unterscheidet man zwischen dem ersten (physischen) Tod und dem zweiten Tod – dem ewigen Ausschluss aus der göttlichen Gnade. Dantes Hölle ist kein Ort bloßer Strafe, sondern ein metaphysischer Zustand der Gottverlassenheit.
Der Schrei nach Vernichtung:
Hier wird ein zutiefst nihilistischer Wunsch formuliert – die Sehnsucht nach Auslöschung. Das ist für Dante das Schlimmste: Das Geschöpf, das sein Sein von Gott empfangen hat, will dieses Geschenk rückgängig machen.
Kontrast zu christlicher Hoffnung:
Die Hölle ist der Raum, in dem keine Hoffnung mehr besteht (lasciate ogni speranza, voi ch’entrate). Diese Verse konkretisieren diese Hoffnungslosigkeit: Die Seelen wollen nicht erlöst, sondern ausgelöscht werden.
4. Literarisch-symbolische Deutung
Der Beginn der „negativen Mystik“:
Während die Divina Commedia auf die Vision Gottes zielt (Paradiso XXXIII), beginnt sie mit der Vision des radikal Abwesenden – dem Ort, an dem die Gottesfinsternis absolut ist.
• Die disperate strida sind das Gegenstück zum späteren mystischen Schweigen im Paradies.
Der „zweite Tod“ als Gegenteil der Auferstehung:
Die Commedia ist eine Reise vom Tod zum Leben (per me si va tra la perduta gente, I, 3). Hier stehen wir noch am Anfang: Das Leben ist verwirrt, der Tod doppelt – physisch und geistlich.
5. Wirkung und Position im Werk
Diese drei Verse bilden den ersten dramatischen Höhepunkt im Inferno. Sie etablieren die Tonlage der gesamten Commedia: keine allegorische Reise ohne seelische Konfrontation. Dante zeigt sich als Seher, der mit allen Sinnen erlebt – hören, sehen, erschüttert werden. Die Einführung der „zweiten“ Todessphäre dient nicht nur der Dramaturgie, sondern legt ein theologisches Fundament: Wer sich von der göttlichen Ordnung entfernt, fällt nicht nur ins Leiden – sondern in einen Zustand existenzieller Verzweiflung.