1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 109-111

dante inferno 1

Questi la caccerà per ogne villa,
fin che l’avrà rimessa ne lo ’nferno,
là onde ’nvidia prima dipartilla.

poetisch-dramatisch
Dieser wird sie aus allen Orten vertreiben,
bis er sie dorthin zurückgeschleudert hat,
ins Höllenreich, aus dem sie einst Neid entfesselte.

nah am wörtlichen Sinn
Er wird sie durch jede Stadt jagen,
bis er sie wieder in die Hölle stößt,
von wo aus einst der Neid sie vertrieb.

interpretierend und modernisiert
Er wird sie durch alle Länder verfolgen,
bis er sie zurück in die Hölle stößt –
dorthin, wo der Neid sie ursprünglich entließ.

Kontext

Diese Verse stammen aus der Prophezeiung des Virgilio an Dante, in der er die Ankunft eines mystischen Erlösers ankündigt, der die lupa (die Gier oder Habsucht) vertreiben wird. Diese lupa steht allegorisch für die unersättliche Gier, die die Menschheit gefangen hält.
V. 109: „Questi la caccerà per ogne villa“
• „Questi“ bezieht sich auf den prophezeiten Retter, der noch nicht näher benannt wird.
• „la“ meint die lupa – das Symbol der Gier.
• „cacciare per ogne villa“ (jagen durch jede Stadt) ist eine hyperbolische Formel für eine universale Reinigung: Dieser Held wird die Gier aus allen Regionen vertreiben.
• Dante spielt hier auf eine eschatologische Erwartung an – der Erlöser wird die Welt vom Übel der Habsucht säubern.
V. 110: „fin che l’avrà rimessa ne lo ’nferno“
Das Verb „rimettere“ („zurückbringen“) in Verbindung mit „ne lo ’nferno“ („in die Hölle“) hat starke theologische Implikationen: Die Gier, die sich auf Erden verbreitet hat, wird wieder an ihren Ursprungsort verbannt.
• Die Reinigung ist nicht nur äußerlich (Vertreibung), sondern auch ontologisch: das Übel wird an seinen ontologischen Ursprung zurückgeworfen – die Hölle.
V. 111: „là onde ’nvidia prima dipartilla“
Diese Zeile ist besonders reichhaltig:
• „’nvidia“ (Neid) ist hier nicht einfach eine menschliche Emotion, sondern eine metaphysische Kraft, die das Übel in die Welt gesetzt hat.
• „dipartilla“ (ausgeschickt, getrennt) verweist auf einen Akt der Auflehnung: Der Neid hat die lupa aus der Hölle entlassen, sie losgelassen.
• Hier offenbart Dante eine fast „mythologische Genealogie“ des Bösen: Nicht der Teufel allein, sondern der „Neid“ ist das Prinzip, das die Gier freisetzte. Dieser Neid ist möglicherweise allegorisch auf Luzifer selbst oder auf die himmlische Rebellion bezogen.

Theologische und allegorische Dimension

• Augustinische Anthropologie: Die lupa steht für die concupiscentia – die ungeordnete Begierde, Ursprung vieler Sünden. Der Retter stellt den Sieg der göttlichen Ordnung über die ungeordnete Liebe dar.
• Thomistische Ordnung: Das Böse hat keine Substanz, sondern ist die Privation des Guten (privatio boni). Der Retter „ordnet“ das Übel wieder seinem „Nicht-Ort“ zu: der Hölle.
• Eschatologische Anspielung: Der Retter könnte als Vorbild für Christus, einen römischen Herrscher oder auch Dante selbst gelesen werden – je nach Deutung.

Poetische Struktur und Wirkung

• Triadische Steigerung: Die drei Verse bauen eine Spannung auf: „jagen“ → „zurückbringen“ → „Ursprung offenbaren“. Das ist ein klassischer rhetorischer Anstieg (climax).
• Anklänge an römische Epik: Die Jagd durch „jede Stadt“ evoziert politische Reinigung (Rom = civitas), während die Rückführung in die Hölle den mythologisch-eschatologischen Schlussakt liefert.

Fazit

Diese drei Verse zeigen Dantes meisterhafte Verbindung von poetischer Bildkraft, theologischer Tiefe und moralischer Vision. Die allegorische Figur der lupa wird zur universalen Bedrohung, deren Überwindung nicht nur politisch oder moralisch, sondern ontologisch-theologisch notwendig ist. Der „Erlöser“ ist mehr als ein Mensch – er ist ein Prinzip der Wiederherstellung göttlicher Ordnung.

Inferno Gesang 01 Verse 106-108 | Inferno Gesang 01 Verse 112-114

Ähnliche Einträge

Dieser Beitrag wurde unter abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.