Questi non ciberà terra né peltro,
ma sapïenza, amore e virtute,
e sua nazion sarà tra feltro e feltro.
poetisch-literarisch
Nicht von Gold noch Erdengut lebt dieser,
sondern von Weisheit, Liebe, Tugend rein,
geboren wird er, wo das Grobe webt aus Flachs sein Kleid.
modern und flüssig
Er nährt sich nicht von Silber oder Besitz,
sondern von Einsicht, Mitgefühl und Stärke.
Und seine Heimat liegt dort, wo Filz auf Filz sich schichtet.
mystisch-symbolisch
Er wird nicht von Münzen noch Metall gesättigt,
sondern von Weisheit, Liebe und Tugend.
Und zwischen Filz und Filz wird er geboren sein.
Kontext
Diese Verse beschreiben den geheimnisvollen Retter oder Führer, den Vergil ankündigt, um Dante aus dem finsteren Wald (Symbol der Sünde) zu führen. Es ist ein prophetischer Moment im Inferno, mit tiefen politischen, theologischen und eschatologischen Implikationen.
Vers 103: „Questi non ciberà terra né peltro“
• Wörtlich: „Dieser wird sich nicht nähren von Erde noch Zinn.“
• Bedeutung: „Terra“ (Erde) steht hier metaphorisch für Besitz, Land, materiellen Reichtum. „Peltro“ (Zinn) war im Mittelalter ein billiges Ersatzmetall, auch Symbol für wertlosen Reichtum. In einigen Lesarten kann „peltro“ auch Silber (oder silberähnliches Metall) meinen.
• Interpretation: Der kommende Führer lebt nicht für materielle Dinge – ein direkter Kontrast zur gierigen, korrupten Welt, die Dante anklagt. Er ist ein Idealbild des spirituellen Menschen oder Herrschers.
Vers 104: „ma sapïenza, amore e virtute“
Dreiklang der Ideale:
• Sapienza (Weisheit): intellektuelle Tugend, Nähe zur göttlichen Vernunft.
• Amore (Liebe): christlich verstanden als caritas, selbstlose Liebe, nicht sinnliche Begierde.
• Virtute (Tugend): moralische Kraft, möglicherweise auch politisch konnotiert im Sinne der klassischen virtus (Tapferkeit, Führung).
• Theologische Tiefe: Diese drei Begriffe reflektieren auch trinitarische oder augustinische Modelle der Seele (Verstand – Wille – Gedächtnis), ebenso wie platonisch-christliche Vorstellungen des guten Lebens.
Vers 105: „e sua nazion sarà tra feltro e feltro“
Wörtlich: „Und sein Ursprung wird zwischen Filz und Filz sein.“
• Ambiguität und Deutungsspielräume:
• „feltro“ (Filz) war ein grober Stoff, oft mit Armut, Einfachheit, Askese assoziiert.
• Mögliche Lesarten:
• Sozialpolitisch: Der Retter kommt aus einfachen Verhältnissen, nicht aus einer dekadenten Aristokratie – eine Nähe zur franziskanischen Armutsethik.
• Geographisch: Manche Kommentatoren deuten „feltro e feltro“ als symbolische Umschreibung einer bestimmten Region Italiens (z. B. Feltre oder Montefeltro), doch diese Lesart bleibt spekulativ.
• Apokalyptisch-messianisch: Die doppelte Nennung könnte Anfang und Ende umspannen – wie Alpha und Omega – oder auch die geistliche Kleidung Christi oder eines Heiligen andeuten.
• Stilistisch: Die Wiederholung („feltro e feltro“) erzeugt eine klangliche Geschlossenheit und verstärkt das Mysterium.
Zusammengefasste Wirkung dieser Passage
Diese drei Verse enthalten eine dichte, fast apokalyptisch anmutende Charakterisierung des erhofften Führers:
• Negativ: Abwendung vom Materiellen (terra, peltro).
• Positiv: Zuwendung zu geistigen Gütern (sapienza, amore, virtute).
• Geheimnisvoll: Herkunft aus dem Unscheinbaren (feltro), also eine Kritik an der gegenwärtigen Ordnung und eine Vision einer neuen, gereinigten Führung.
• Ob Dante hier Christus, einen neuen Cäsar, Heinrich VII. oder ein symbolisches Ideal beschreibt, bleibt absichtlich offen – und darin liegt ein Teil der anhaltenden Faszination dieser Stelle.