Molti son li animali a cui s’ammoglia,
e più saranno ancora, infin che ’l veltro
verrà, che la farà morir con doglia.
poetisch-bildhaft
Viele sind die Bestien, mit denen sie sich vermählt,
und noch mehr werden es sein, bis der Windhund kommt,
der sie mit Schmerz den Tod erfahren lässt.
theologisch-allegorisch betont
Zahlreich sind die Tiere, mit denen sie sich verbündet,
doch noch zahlreicher werden sie, bis der Windhund erscheint,
der sie qualvoll zu Fall bringt.
modern-interpretativ
Viele Kreaturen schließen sich ihr an,
und es werden noch mehr, bis der Windhund naht,
der ihr ein Ende bereitet – unter Schmerzen.
1. Kontext und Aufbau
Diese Verse erscheinen am Ende von Canto I der Divina Commedia. Dante befindet sich in einem finsteren Wald und begegnet drei Tieren – Leopard (Lust), Löwe (Hochmut), Wölfin (Gier). Die Wölfin ist besonders bedrohlich: Sie treibt ihn zurück und steht sinnbildlich für maßlose Habgier oder den allgemeinen moralischen Verfall der Welt. Der "Veltro" (Windhund) wird als messianischer Erlöser angekündigt, der diese verderbte Weltordnung stürzt.
2. Philologische Analyse
"Molti son li animali a cui s’ammoglia"
– "ammogliare" bedeutet wörtlich „heiraten“ oder „sich verbinden mit“. Dante nutzt bewusst ein Ehebündnis als Metapher für die Verbindung zwischen der Wölfin und den vielen „Tieren“ – also Laster oder verderbte Menschen/Mächte.
– animali: gemeint sind symbolisch nicht wörtlich Tiere, sondern menschliche Laster, degenerierte Triebe oder sündhafte Seelen.
"e più saranno ancora"
– Der moralische Zerfall ist nicht abgeschlossen, er wird sogar zunehmen – ein pessimistischer Ausblick auf die nahe Zukunft.
"infin che ’l veltro verrà"
– "Veltro": ein altertümliches Wort für einen schnellen Windhund (von lat. veltrus). Ambivalent: Ist es ein realer politischer Führer (z. B. Cangrande della Scala)? Christus? Eine allegorische Figur der Gerechtigkeit?
– Wichtig ist, dass dieser „Windhund“ eine Reinigung, ein Gericht oder eine heilende Wende bringt.
"che la farà morir con doglia"
– Wörtlich: „der sie (die Wölfin) mit Schmerz sterben lässt“ – also nicht nur ihre bloße Vernichtung, sondern ein leidvoller, sühneähnlicher Tod.
– Das Verb „far morir“ suggeriert aktives göttliches oder messianisches Eingreifen, nicht bloßen Verfall.
3. Theologische Deutung
Die Wölfin steht für unersättliche Gier (avarizia), oft im Zusammenhang mit der korrupten Kirche und weltlicher Macht (simoniaco). Ihre Vermehrung zeigt die Ausbreitung der Sünde in der Welt.
• Der Veltro ist eine Erlöserfigur, teils politisch, teils messianisch. Dante spielt mit der Erwartungshaltung des Lesers:
• Im mittelalterlichen Kontext könnte dies ein rex iustus sein – ein gerechter Herrscher.
• Aus christlicher Sicht könnte es sich aber auch um eine Art eschatologische Christusgestalt handeln.
• Im Purgatorio und Paradiso kehrt diese Hoffnung immer wieder: Das Böse wird nicht durch gewöhnliche Macht, sondern durch Gerechtigkeit, Liebe und göttliche Ordnung besiegt.
4. Poetische und symbolische Struktur
Diese Verse bilden den Übergang vom persönlichen Leiden zur prophetischen Hoffnung. Die düstere Vision der Tierwelt wird durchbrochen von der Ankündigung eines Retters. Das Motiv des Windhundes besitzt:
• Dynamik: Er „kommt“ – Bewegung gegen Stagnation.
• Gericht: Er „lässt sterben mit Schmerz“ – nicht einfach Gewalt, sondern Sühne.
• Kontrast: Zwischen wimmelnden, sich vermehrenden Lastern und dem einen reinigenden Prinzip.
5. Historisch-politische Implikationen
In der Zeit Dantes war Italien zersplittert, dominiert von korrupten Adelsfamilien, dem Papsttum (das er kritisiert), und dem aufkommenden Imperialgedanken. Der „Veltro“ könnte auf eine historische Person anspielen (z. B. Can Grande della Scala oder Heinrich VII.), der als Hoffnungsträger galt. Doch Dante bleibt vage, bewusst offen für multiple Lesarten – allegorisch, prophetisch, moralisch.
Fazit
Diese Stelle ist ein kompositorischer Angelpunkt: Aus persönlicher Not wird universelle Erwartung. Der „Veltro“ steht zwischen Apokalypse und Erlösung, zwischen Politik und Eschatologie. Dantes Prophetie bleibt mehrdeutig, aber kraftvoll: Die Welt ist gefallen, aber ein reinigendes Prinzip wird kommen – mit Schmerz, aber auch mit Gerechtigkeit.