1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 097-099

dante inferno 1

e ha natura sì malvagia e ria,
che mai non empie la bramosa voglia,
e dopo ’l pasto ha più fame che pria.

poetisch-interpretierend
Sie ist von solch bösartiger, schwarzer Natur,
dass sie den gierigen Hunger nie stillen kann —
und nach dem Mahl verlangt sie mehr als zuvor.

bildbetont und modern
Ihr Wesen ist durch und durch verderbt:
Nie wird sie satt von ihrer Gier,
und je mehr sie frisst, desto hungriger wird sie.

nah am Rhythmus, leicht archaisch
So boshaft ist ihr ganzes Tun,
dass sie das lüsterne Verlangen nie erfüllt;
nach jedem Mahl dürstet sie stärker noch als zuvor.

I. Kontext im Canto

Die Verse beschreiben die Wölfin (la lupa), eines der drei Tiere (Panther, Löwe, Wölfin), die Dante im dunklen Wald den Weg versperren. Sie symbolisiert allgemein die Unersättlichkeit, konkret oft Habgier (avarizia), teilweise auch luxuria (Wollust) – zwei der sieben Todsünden. Die Wölfin steht für eine destruktive, nie befriedigte Gier, die nicht nur das Individuum, sondern auch die gesellschaftliche Ordnung bedroht.

II. Philologische und semantische Analyse

97: "e ha natura sì malvagia e ria"
• natura bezeichnet hier nicht nur ein Wesen, sondern auch eine innere Disposition oder moralische Konstitution.
• malvagia e ria ist eine Verstärkung – beide bedeuten "böse", aber ria trägt auch den Beiklang von „hinterlistig“ oder „verderbt“.
• Die Alliteration „malvagia e ria“ unterstreicht den klanglichen Eindruck von Bösartigkeit – die Sprache selbst stößt ab.
98: "che mai non empie la bramosa voglia"
• mai non empie = „nie füllt sie (sie)“ – doppelte Negation im Italienischen bedeutet absolute Verneinung: nie wird sie satt.
• bramosa voglia = „gieriges Verlangen“: eine Tautologie, die den übermäßigen Charakter der Gier betont.
• Die Gier ist hier nicht nur ein Trieb, sondern eine selbstverzehrende Kraft – ein permanenter Mangelzustand.
99: "e dopo ’l pasto ha più fame che pria"
• Diese paradoxale Aussage – nach dem Essen mehr Hunger – deutet auf eine dämonische Umkehrung der Natur hin: Essen führt nicht zur Sättigung, sondern steigert die Leere.
• più fame che pria = „mehr Hunger als vorher“ – der Superlativ zeigt, dass der Kreislauf sich nicht nur wiederholt, sondern eskaliert.

III. Allegorische und moralische Bedeutung

Die Wölfin ist Allegorie für eine Sünde, die keinen natürlichen Maßstab kennt – sie ist grenzenlos und steigerungsfähig. Im Kontext mittelalterlicher Theologie könnte man sagen:
• Sie entstellt das Verhältnis zur Schöpfung: Das Streben nach mehr (sei es Besitz, Genuss oder Macht) ist aus dem Lot geraten.
• Ihre Gier ist satanisch entartet, weil sie nie Ruhe findet – ein Zustand, der laut Augustinus das Gegenteil des bonum ist, das zur Ruhe in Gott führt.
• Der Zustand der Wölfin steht also im radikalen Gegensatz zur göttlichen Ordnung: Während Gott als das summum bonum ruhevoll und erfüllend ist, ist die Wölfin ein negativum infinitum, eine sich verzehrende Leere.

IV. Theologisch-historischer Hintergrund

Dante schreibt in einer Zeit, in der besonders Habgier und Korruption der Kirche (vor allem Rom und die Kurie) ein großes Thema sind. Die Wölfin steht daher auch für:
• weltliche Verkommenheit, vor allem in kirchlicher oder politischer Gestalt.
• die Gefahr für das Gemeinwesen – Gier ist nicht nur eine persönliche, sondern auch eine gesellschaftliche Krankheit.
• Vergil wird später erklären, dass gegen dieses Tier ein Retter kommen wird, der sie in die Hölle zurückjagt – ein veltro, oft messianisch gedeutet (z. B. als Symbol für Gerechtigkeit oder Reform).

V. Poetische Funktion im Canto

Diese drei Verse bilden den Höhepunkt der Beschreibung der Wölfin. Der crescendo-artige Aufbau –
• böses Wesen,
• unstillbare Gier,
• wachsende Gier trotz Nahrung –
• führt zur Eskalation und zur Verzweiflung Dantes, der sich im Anschluss zurückzieht (“e caddi come l’uom cui sonno piglia”).
• Die Metaphorik ist suggestiv und erschütternd – Dante spürbar am Rand der Vernichtung, nicht durch Gewalt, sondern durch ein metaphysisches Grauen: das Prinzip des Nie-genug, das ihn verschlingen will.

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