«A te convien tenere altro viaggio»,
rispuose, poi che lagrimar mi vide,
«se vuo’ campar d’esto loco selvaggio;
literarisch-elegant
„Du musst auf einen anderen Weg dich begeben“,
sprach er, als er meine Tränen sah,
„wenn du diesem wilden Ort entkommen willst.“
poetisch-dramatisch
„Ein andrer Pfad ist dir bestimmt“,
sagte er, da er mich weinen sah,
„willst du dem wilden Dunkel hier entrinnen.“
klar und modern
„Du musst einen anderen Weg gehen“,
antwortete er, als er meine Tränen sah,
„wenn du aus diesem wilden Ort entkommen willst.“
1. Sprachlich / Philologisch
„A te convien tenere altro viaggio“
– convien (3. Pers. Sg. von convenire, unpersönlich) = „es geziemt sich“, „es ist nötig“, also eine Verpflichtung oder Notwendigkeit;
– tenere altro viaggio = wörtlich: „einen anderen Weg halten“ → idiomatisch: einen anderen Lebensweg einschlagen, eine andere Richtung verfolgen.
„rispuose, poi che lagrimar mi vide“
– rispuose = dichterische Form von rispose (antwortete), archaisierend;
– poi che = „nachdem“, zeitlich-kausal;
– lagrimar mi vide = wörtl. „das Weinen mich sah“ → poetisch verschränkt: „da er mich weinen sah“.
„se vuo’ campar d’esto loco selvaggio“
– campar = „entkommen“, „am Leben bleiben“ (von campare, ein toskanisches Wort für scampare);
– d’esto = elidierte Form von di questo (von diesem);
– loco selvaggio = „wilder Ort“, beschreibt den finsteren Wald allegorisch als Ort der Sünde und Verlorenheit.
2. Literarisch / Allegorisch
Der Sprecher ist Vergil, der als Symbol der Vernunft, der römischen Weisheit und der klassischen Tugend auftritt.
• Der „andere Weg“ verweist auf den Pfad der Selbsterkenntnis, Buße und göttlichen Führung – die bevorstehende Reise durch Hölle, Fegefeuer und Paradies.
• Der „wilde Ort“ ist nicht nur der Wald am Beginn des Gedichts, sondern auch ein Symbol für moralische Verirrung, Verzweiflung und geistige Verwirrung.
• Die Tränen Dantes zeigen seine erste echte Reue, seine Erkenntnis des eigenen Scheiterns.
3. Theologisch
Die Worte Vergils markieren den Beginn der Gnade durch Vermittlung: Vergil kann Dante nicht erlösen, aber er weist ihm den Weg.
• Der „andere Weg“ ist letztlich der Weg zur göttlichen Wahrheit, aber er beginnt im „descensus ad inferos“, der symbolischen Höllenfahrt, durch die Selbsterkenntnis möglich wird.
• Die Tränen können als Zeichen der contritio cordis gedeutet werden – der wahren Reue, einer Voraussetzung für die göttliche Gnade.
• Der „wilde Ort“ ist ein Bild der status peccati, also des Zustands der Erbsünde oder persönlichen Sünde.
4. Poetisch / Dramaturgisch
Die Szene steht am Wendepunkt des ersten Canto: vom passiven Leiden zur aktiven Reise.
• Das Versmaß (terzina: aba bcb …) gibt der Sprache Rhythmus und Ernst.
• Der Klang und der Aufbau der Zeilen wirken beschwörend: der Gebrauch des Wortes viaggio erinnert an antike Heldenfahrten (z. B. Aeneas, Odysseus).
• Die Tränen sind nicht bloß emotionaler Ausdruck – sie öffnen den Weg zu einem neuen Sprechen: dem „rispuose“ folgt die Stimme der Vernunft, die Dantes Schweigen unterbricht.