1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 088-090

dante inferno 1

Vedi la bestia per cu’ io mi volsi;
aiutami da lei, famoso saggio,
ch’ella mi fa tremar le vene e i polsi».

poetisch-nah
„Sieh dort das Tier, das mich zur Flucht gezwungen!
Hilf mir, o Weiser, rette mich vor ihm –
denn es lässt meine Adern und mein Herz erbeben!“

ausdrucksstark-emotional
„Dort ist die Bestie, die mich zur Umkehr trieb –
hilf mir, du berühmter Weiser,
sie lässt mich zittern bis in jede Faser meines Körpers!“

psychologisch-introspektiv
„Sieh die Bestie, vor der ich zurückwich –
hilf mir, du kluger Meister,
denn sie lässt mich bis ins Innerste erzittern.“

1. Kontext innerhalb des Gesangs

Diese Verse sind Teil der Begegnung zwischen Dante, dem Pilger, und Vergil. Dante hat sich im dunklen Wald verirrt und ist auf eine „Bestie“ (in diesem Fall die Lupa, die gierige Wölfin) gestoßen, vor der er voller Angst flieht. Die Zeilen stellen seinen flehentlichen Ruf an Vergil dar, ihm Schutz und Führung zu gewähren.

2. Literarische und rhetorische Mittel

Apostrophe („Vedi la bestia“)
Dante wendet sich direkt an Vergil mit einem dramatischen Ausruf – eine rhetorische Figur, die Spannung erzeugt und emotionale Dringlichkeit vermittelt.
Metonymie / Physiologische Symbolik („le vene e i polsi“)
Die Formulierung „vene e polsi“ (Adern und Pulsadern) steht für den gesamten physischen und seelischen Zustand des Menschen. Die Angst wird körperlich spürbar gemacht – ein Effekt, der typisch ist für die mittelalterliche Symbolik von Leib und Seele als Einheit.
Alliteration („vene e i polsi“)
Die Konsonanz verstärkt den rhythmischen Fluss und verleiht dem Vers einen klanglichen Nachdruck, der die innere Erschütterung des Dichters noch greifbarer macht.

3. Theologische und allegorische Dimension

Die Bestie steht nicht nur für eine reale Bedrohung, sondern allegorisch für eine moralische oder spirituelle Schwäche. Die Wölfin symbolisiert im Kontext von Canto I die Habgier (Avaritia) – eine der drei großen Laster neben Hochmut (Löwe) und Wollust (Panther).
• Das „tremar le vene e i polsi“ verweist auf den Zustand der spirituellen Lähmung. Der Mensch ist durch die Sünde nicht nur moralisch, sondern auch existenziell erschüttert.

4. Beziehung zu Vergil

• Vergil wird angerufen als „famoso saggio“ – „berühmter Weiser“. Dies ist nicht nur eine literarische Hommage an den antiken Dichter, sondern reflektiert auch das mittelalterliche Bild von Vergil als symbolischer Vertreter der Vernunft und der philosophischen Weisheit.
• Dante erkennt hier implizit, dass er aus eigener Kraft nicht in der Lage ist, die geistige Krise (verkörpert durch die Bestie) zu überwinden. Er braucht Führung durch Ratio – Vergil als geistiger Führer.

5. Psychologischer Gehalt

Die Szene ist ein psychologisches Bild der existenziellen Angst. Die körperliche Reaktion (Zittern) verweist auf eine tiefe seelische Erschütterung. Die Bestie ist nicht einfach nur äußere Gefahr – sie ist eine Konfrontation mit sich selbst, mit der eigenen Schwäche.

6. Sprachliche Struktur und Dynamik

Die Struktur der drei Verse steigert sich:
88: Wahrnehmung der Gefahr („Vedi la bestia…“)
89: Bitte um Hilfe („aiutami da lei…“)
90: Offenbarung des inneren Zustands („… mi fa tremar…“)
• Die Dynamik geht von außen nach innen: von der äußeren Begegnung zur inneren Erschütterung.

7. Vergleich mit klassischen Vorbildern

In der antiken Literatur gibt es Parallelen zu Helden, die von göttlichen oder weisen Führern gerettet werden (z. B. Aeneas mit Sibylle/Vergil als Führer durch die Unterwelt).
• Dante übernimmt diese Topik, transformiert sie jedoch christlich-allegorisch: Der Held muss durch Selbsterkenntnis und Buße zur Erlösung gelangen, nicht durch Tapferkeit allein.

Fazit

Die Verse 88–90 markieren einen dramatischen Wendepunkt: Der Pilger erkennt seine Hilflosigkeit und sucht Zuflucht bei der Ratio (Vergil). Die Bestie ist mehr als Tier – sie ist Symbol für innere Zerrissenheit, für ein durch Sünde und Begierde gefährdetes Leben. Die Bitte um Hilfe ist zugleich der erste Schritt zur Erlösung: Die Anerkennung der eigenen Schwäche und das Vertrauen in eine höhere Führung.

Inferno Gesang 01 Verse 085-87 | Inferno Gesang 01 Verse 091-93

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