1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 085-087

dante inferno 1

Tu se’ lo mio maestro e ’l mio autore;
tu se’ solo colui da cu’ io tolsi
lo bello stilo che m’ha fatto onore.

poetisch-ehrerbietend
Du bist mein Lehrer und mein Schöpfer;
du allein bist der, von dem ich entlehnte
den edlen Stil, der mir Ehre brachte.

literarisch-elegant
Du bist mein Meister und mein Vorbild;
nur dir verdanke ich den schönen Stil,
der mich mit Ruhm erfüllt hat.

persönlich-intim
Du bist mein Lehrer und der, der mich geformt hat;
du allein hast mir den edlen Ausdruck gegeben,
der mir Ansehen verschafft hat.

1. Philologische Aspekte

„Maestro“ und „autore“
Das italienische Wort maestro (Lehrer, Meister) verweist auf persönliche Anleitung, Bildung und Weisung. Autore (Autor, Urheber) hingegen verweist auf schöpferische Herkunft — sowohl im literarischen als auch im existenziellen Sinne. Dante stellt damit Vergil als seinen geistigen Vater dar, nicht nur als Lehrer, sondern als Ursprung seines poetischen Selbst.
„Tolsi“ (von togliere, „nehmen“)
Das Präteritum „tolsi“ suggeriert eine bewusste Aneignung, kein passives Erbe: Dante hat aktiv von Vergil genommen, nicht nur imitiert. Die Formulierung „da cu’ io tolsi“ betont die kreative Aneignung – wie ein Schüler, der über das Vorbild hinauswächst, aber es niemals vergisst.
„Lo bello stilo“
Diese Formulierung verweist auf den stilus rhetoricus, speziell den hohen Stil (stile elevato) der klassischen Epik, den Dante im Kontrast zur volkstümlichen Dichtung (z. B. Troubadour-Lyrik) beansprucht. Es ist der Stil Homers, Vergils – und jetzt Dantes.
„Che m’ha fatto onore“
Diese Wendung enthält eine doppelbödige Aussage: Sie verweist sowohl auf Dantes literarischen Ruhm (etwa durch die Vita Nuova oder die begonnene Commedia) als auch auf die Ehre, Teil einer erhabenen Tradition zu sein. Es ist eine Aussage über literarische Selbstverortung und moralische Dignität.

2. Literarisch-intertextuelle Dimension

Vergil als Mentor und Ideal
Vergil ist hier nicht nur historische Figur, sondern poetologische Allegorie: der Inbegriff der klassischen Rationalität, Mäßigung und Formvollendung. Dante ehrt Vergil als seinen inspirierenden Autor – wie Augustus ihn vielleicht als seinen politischen Dichter sah.
Augustinisches Motiv der "Zwei Lehrer"
In der augustinischen Tradition gibt es die Gegenüberstellung zwischen dem äußeren Lehrer (Vergil) und dem inneren Lehrer (Christus/Offenbarung). Diese Szene kündigt indirekt an, dass Vergil Dante nur bis zur Schwelle der Gnade führen kann (bis zum Paradiso nicht). Dante sieht Vergil als natürliches Licht, das durch die Vernunft leitet – aber am Ende ungenügend bleibt.
Poetologische Selbstbehauptung
Mit der Betonung „che m’ha fatto onore“ erhebt sich Dante zugleich über andere Dichter seiner Zeit, etwa die Dolce Stil Novo-Vertreter. Während sie das Stilistische ästhetisieren, sieht Dante darin eine ethische, ja fast sakrale Aufgabe.

3. Poetisch-thematische Tiefe

Rückblick und Vorblick
Diese Zeilen sind retrospektiv: Dante steht am Beginn seines Wegs in der Commedia, aber schaut bereits zurück auf seinen literarischen Werdegang. Es ist ein Moment der Selbsterkenntnis, in dem sich biographische Erinnerung mit metaphysischem Erwachen überschneidet.
Verehrung und Übergabe
Diese Stelle ist ein ritus initiationis: Dante erkennt in Vergil sein Urbild an – aber gleichzeitig ist das der Moment, in dem er sich bereitmacht, dieses Bild zu übertreffen. Die Anerkennung des Meisters ist Voraussetzung dafür, selbst Meister zu werden.
Ethisch-pädagogische Linie
Dantes Betonung von Stil als Träger von Ehre macht deutlich, dass in seiner poetischen Ethik Form und Inhalt untrennbar sind. Der bello stilo ist nicht nur schön, sondern wahrhaftig, gerecht und würdig – ein Mittel der moralischen Erkenntnis.

Fazit

Diese drei Verse sind nicht nur Ausdruck tiefer Bewunderung für Vergil, sondern ein poetologisches Credo. Dante positioniert sich im Kontinuum der lateinischen Epik, anerkennt seine Herkunft, und kündigt zugleich an, dass er in der Divina Commedia etwas Größeres versucht: eine Synthese von Klassik und christlicher Offenbarung. Der „bello stilo“ wird zum ethischen Instrument – und Dante selbst zum novus poeta, der über seine Vorbilder hinausgeht, weil er Himmel und Hölle zugleich durchschreitet.

Inferno Gesang 1 Verse 82-84 | Inferno Gesang 1 Verse 88-90

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