«O de li altri poeti onore e lume,
vagliami ’l lungo studio e ’l grande amore
che m’ha fatto cercar lo tuo volume.
poetisch-ehrerbietend
O du, Ehre und Licht aller Dichter,
möge mir mein langes Studium und die tiefe Liebe nützen,
die mich trieben, dein Werk zu suchen.
modern-literarisch
O du Licht und Ruhm der Dichterwelt,
möge mir das helfen, was ich mit Liebe und Mühe lernte,
als ich dein Werk suchte und erforschte.
Nähe zum Original, philosophisch
O du Ehre und Leuchte der übrigen Dichter,
möge mir das lange Studium und die große Liebe nützen,
die mich dazu trieben, dein Buch zu erforschen.
1. Adressat: Vergil
Dante spricht hier Vergil an, der ihm als Führer im Inferno erscheint. Dieser Abschnitt markiert einen Höhepunkt des Canto I, in dem sich Dante von Angst zur Bitte und Verehrung steigert. Es handelt sich um einen feierlichen, ehrfurchtsvollen Appell.
2. Vers 82: «O de li altri poeti onore e lume»
• "onore e lume" („Ehre und Licht“) ist eine klassische Doppelmetapher.
• "Onore": Vergil ist der Inbegriff dichterischer Würde, Ruhm, Vorbildfunktion.
• "Lume": Licht im Sinne von Erkenntnis, geistiger Führung, Inspiration.
• Die Formulierung erinnert an mittelalterliche Anrufungen von Autoritäten (Auctoritas), besonders in scholastischen und poetischen Traditionen.
• Implizit: Dante erkennt Vergil nicht nur als poetisches, sondern als moralisches Licht – jemand, der Orientierung gibt, wenn alle anderen (in der Wildnis verlorenen) Wege versagen.
3. Vers 83: «vagliami ’l lungo studio e ’l grande amore»
Die Bitte Dantes lautet: Möge mir etwas nützen („vagliami“), was ich in mir trage.
• Zwei Voraussetzungen werden genannt:
• "lungo studio": Das lange Studium, das sich sowohl auf literarisch-akademische Studien von Vergils Werk bezieht als auch auf die kontemplative Suche nach Wahrheit.
• "grande amore": Die Liebe – hier doppeldeutig: einerseits Liebe zu Vergils Werk, andererseits die caritas, die strebend nach dem Guten ist.
• Zusammen ist das ein mittelalterliches Ideal: Vereinigung von Ratio (Studium) und Amor (Leidenschaft für das Wahre und Gute).
4. Vers 84: «che m’ha fatto cercar lo tuo volume»
Die Folge dieser Liebe und des Studiums: Dante suchte Vergils Buch („lo tuo volume“).
• Der Ausdruck "volume" ist bewusst gewählt:
• Bedeutet nicht nur Buch, sondern kann im scholastischen Kontext auf das Gesamtwerk (insbesondere die Aeneis) oder auf das Buch des Schicksals und der Weltordnung anspielen.
• Es verweist auf die geistige Suche Dantes nach Ordnung in einer desorientierten Welt.
• Im Subtext: Dante steht in einer Schüler-Lehrer-Beziehung zu Vergil – eine Art humanistisch inspirierte imitatio.
Theologische, literarische und poetologische Bedeutung
Theologisch
Obwohl Vergil kein Christ ist, stilisiert Dante ihn hier als eine Art praeparatio evangelica: ein heidnischer Prophet, dessen Weisheit dem göttlichen Plan nicht widerspricht, sondern ihn sogar vorbereitet (ähnlich wie Boethius oder Cicero in der Scholastik manchmal interpretiert wurden).
Literarisch
Dante stellt sich als Nachfolger Vergils dar. Diese Verse begründen literarisch seine Autorität:
• Er hat nicht nur bewundert, sondern verstanden und geliebt.
• Er ist kein bloßer Nachahmer, sondern ein wissender Interpret.
Poetologisch
Diese Verse gehören zur poetologischen Selbstreflexion der Commedia:
• Der Dichter wird als jemand definiert, der in der Dunkelheit (Wald) Orientierung sucht, im Studium und in der Liebe zur Dichtung.
• Die Auseinandersetzung mit literarischer Tradition ist nicht antiquarisch, sondern existentiell notwendig.