«Or se’ tu quel Virgilio e quella fonte
che spandi di parlar sì largo fiume?»,
rispuos’io lui con vergognosa fronte.
poetisch-ehrfürchtig
„Bist du denn jener Virgil, jener Born,
dem ein so weiter Strom von Rede entfließt?“
sprach ich zu ihm mit einer scheuen Stirn.
klar und zeitgenössisch
„Du bist also wirklich Virgil – die Quelle,
aus der so reiche Sprache strömt?“
sagte ich zu ihm, beschämt und ehrfürchtig.
ausdrucksstark und emotional
„Bist du denn jener große Virgil,
die Quelle, aus der so mächtig Sprache fließt?“
entgegnete ich ihm mit beschämtem Blick.
1. Kontext
Diese Stelle markiert einen entscheidenden Wendepunkt in Canto I: Dante, der sich in der „dunklen Waldmitte“ verloren hat, begegnet zum ersten Mal Virgil – den er als Autor, Mentor und geistige Autorität zutiefst verehrt. Diese Begegnung leitet den Beginn seiner spirituellen Reise ein.
2. Philologische Ebene
Vers 79: „Or se’ tu quel Virgilio e quella fonte“
• „Or“ (nun) hat eine starke emphatische Wirkung – der Moment der Erkenntnis.
• „quel Virgilio“ – das demonstrative Pronomen quel zeigt: es handelt sich nicht um irgendeinen Virgil, sondern den Virgil, den legendären.
• „quella fonte“ – die Metapher der „Quelle“ für einen Dichter geht auf eine lange Tradition zurück (z. B. Ovid, Horaz): die Quelle als Ursprung der Inspiration, der Poesie und der Weisheit.
Vers 80: „che spandi di parlar sì largo fiume?“
• „spandi“ – wörtlich: „du ergießt“ – das Bild ist dynamisch, lebendig.
• „di parlar sì largo fiume“ – ein poetisches Bild: der Redestrom als Fluss, der kraftvoll und weit fließt. Die Anspielung verweist auf die stilistische Größe und rhetorische Weite von Virgils Werk, v. a. der Aeneis.
Vers 81: „rispuos’io lui con vergognosa fronte.“
• „rispuos’io“ – archaische Form von „risposi io“, betont das persönliche Echo.
• „vergognosa fronte“ – die beschämte Stirn ist Zeichen tiefer Demut, vielleicht auch der Unwürdigkeit, sich an so große Autorität zu wenden.
3. Literarisch-poetische Ebene
• Diese Verse spiegeln die Funktion Virgils als auctoritas und dux wider. Dante schreibt sich selbst hier als Jünger ein, als jemand, der im Angesicht seines verehrten Meisters errötet – ein klassischer Topos mittelalterlicher Demut und literarischer Selbstverortung.
• Die Metapher des „weiten Stroms“ (largo fiume) ist auch eine Anspielung auf die rhetorische Fülle und Eleganz der Aeneis, die für Dante stilistisch und inhaltlich ein Ideal darstellt. Das Bild hat überdies eine alttestamentliche Konnotation: Wasser als Lebensspender und göttliches Wort.
4. Theologisch-symbolische Ebene
• Virgil wird zur allegorischen Figur der ratio, der natürlichen menschlichen Vernunft. In diesen Versen offenbart sich nicht nur Dante Alighieris persönliche Verehrung, sondern auch die Voraussetzung seiner geistigen Reise: Er muss sich der Vernunft unterordnen, um den Weg aus der selva oscura zu finden.
• Dantes Scham (vergognosa fronte) hat auch eine spirituelle Dimension: Er erkennt die Distanz zwischen dem Irdischen und dem Erhabenen. Die Ehrfurcht gegenüber Virgil ist zugleich Ausdruck seines Wissens um eigene moralische und intellektuelle Schwäche – ein Moment der Buße und Umkehr.
5. Historische und intertextuelle Anspielungen
• Virgil als „fonte“ ist nicht nur dichterische Metapher, sondern verweist auch auf die Ars poetica des Horaz, wo große Dichter als Quellen gelten.
• Die Bildlichkeit erinnert an spätantike und mittelalterliche Autoren wie Boethius, der philosophische Rede ebenfalls als Quellfluss beschreibt.
• Außerdem ist es ein Akt der literarischen Kanonisierung: Dante setzt Virgil in die Rolle eines wahren Propheten der Dichtung – ein christianisierter Klassiker.
6. Psychologische Dimension
Dante beschreibt hier ein zutiefst menschliches Gefühl: das Erschrecken, die Bewunderung und das Staunen beim Zusammentreffen mit einem verehrten Ideal. Die „beschämte Stirn“ kann auch als Moment der Selbsterkenntnis gelesen werden – eine Spiegelung des inneren Zustands des Pilgers, der sich von einer höheren Autorität geführt weiß.