Ma tu perché ritorni a tanta noia?
perché non sali il dilettoso monte
ch’è principio e cagion di tutta gioia?
literarisch-elegant, nah am Sinn
Doch du – warum kehrst du zurück in solch Verderben?
Warum steigst du nicht den freudenvollen Hügel hinauf,
der Ursprung und Quelle jeglicher Wonne ist?
moderner Stil, zugänglich formuliert
Sag, warum gehst du zurück in all das Elend?
Warum steigst du nicht hinauf zum heiteren Berg,
von dem alle Freude ihren Anfang nimmt?
poetisch-allegorisch, symbolisch betont
Warum fliehst du denn zurück in Qual und Pein?
Warum erklimmst du nicht den seligen Berg,
der Ursprung ist und Grund von aller Seligkeit?
1. Kontext und Sprecher
Diese Zeilen stammen aus der Begegnung Dantes mit dem Schatten Vergils. Der römische Dichter tritt als Führer auf und spricht Dante, der verwirrt und verängstigt in einem dunklen Wald (la selva oscura) umherirrt, direkt an. Die Rede ist ein Appell: ein ethischer, intellektueller und spiritueller Weckruf.
2. Sprachlich-poetische Analyse
• „Ma tu perché ritorni“: Der einleitende Kontrast („ma“) zeigt: Der Weg, den Dante wählt, ist nicht der natürliche, erwartete. Das Verb „ritorni“ (du kehrst zurück) deutet eine Regression an – nicht nur räumlich, sondern auch seelisch.
• „a tanta noia“: „Noia“ meint hier nicht nur Langeweile, sondern vielmehr eine tiefe Qual, ein existenzielles Leid. Sie bezeichnet ein Zustand des inneren Chaos, der Verzweiflung.
• „il dilettoso monte“: Der „liebenswürdige“ oder „freudvolle Berg“ ist der symbolische Gegenpol zur düsteren Wildnis: Er steht für das Gute, die Tugend, letztlich die Seligkeit.
• „principio e cagion di tutta gioia“: Der Gipfel wird nicht nur als Anfangspunkt („principio“), sondern auch als Ursache („cagion“) aller Freude dargestellt – was semantisch eine starke Betonung auf die metaphysische Bedeutung des Aufstiegs legt.
3. Allegorische und theologische Deutung
• Der Berg steht allegorisch für die via virtuosa, den Weg der Tugend und kontemplativen Erkenntnis. In christlich-theologischer Perspektive verweist er auf das Heil, das Ziel der göttlichen Ordnung.
• Das Tal / der Wald / die Flucht zurück symbolisieren hingegen die conditio humana in der Sünde, die Verlorenheit ohne göttliche Orientierung.
• Vergil als Sprecher verkörpert die Vernunft (ratio), die dem Menschen den Weg weist, aber allein nicht ausreicht, um zur endgültigen Seligkeit zu gelangen (dazu bedarf es der gratia, vertreten später durch Beatrice).
4. Psychologisch-existenzielle Dimension
• Dantes Rückkehr in die „noia“ verweist auf eine tiefe existenzielle Unsicherheit und Selbstsabotage: Der Mensch fürchtet oft die Anstrengung des Aufstiegs (zur Erkenntnis, zur Reue, zur Läuterung), obwohl er intuitiv weiß, dass nur dieser Weg zur Freude führt.
• Der Appell Vergils erinnert an einen therapeutischen Impuls: Der Mensch muss aus seiner psychischen Lähmung erwachen und aktiv den Weg der Selbsterkenntnis und Besserung gehen.
5. Philosophischer Unterton
In thomistisch-aristotelischer Perspektive kann der „dilettoso monte“ als Symbol des höchsten Guts (summum bonum) verstanden werden – also jenes Ziel, auf das der Mensch seiner Natur nach ausgerichtet ist. Die Frage „Warum steigst du nicht hinauf?“ ist eine ethische Herausforderung: Der Mensch muss gemäß seiner Vernunft handeln, nicht gemäß seiner Leidenschaften oder Ängste.
Zusammenfassung
Dantes Verse 76–78 sind kein bloß rhetorischer Appell, sondern ein Schlüsselmoment der Commedia: Der Mensch wird zur Freiheit gerufen, muss sich aber zwischen Rückzug in die innere Hölle und Aufstieg zur Wahrheit entscheiden. Die metaphorische Landschaft – Wald, Tiere, Berg – ist die Bühne für eine anthropologische, spirituelle und moralische Entscheidung. Die Rede Vergils stellt damit den ersten entscheidenden Wendepunkt des gesamten Werkes dar.