Poeta fui, e cantai di quel giusto
figliuol d’Anchise che venne di Troia,
poi che ’l superbo Ilïón fu combusto.
literarisch-elegant
Ich war ein Dichter und besang den gerechten
Sohn des Anchises, der aus dem zerstörten Troja kam,
nachdem das stolze Ilion in Flammen aufging.
etwas moderner, fließend
Ein Dichter war ich, und ich sang vom rechtschaffenen
Sohn des Anchises, der aus Troja floh,
als das hochmütige Ilion brannte.
betont bildhaft und emotional
Ich war Dichter – und sang von jenem edlen Mann,
Anchises’ Sohn, der Troja entkam,
nachdem das stolze Ilion in Asche lag.
1. Literarischer Kontext
Diese Verse sind Teil von Dantes Begegnung mit Vergil im ersten Gesang des Inferno. Der Sprecher, Dante selbst, ist vom rechten Weg abgekommen und wird von wilden Tieren bedroht. Da erscheint Vergil – der große römische Dichter – und stellt sich hier selbst vor. In diesen drei Versen nennt Vergil seine poetische Identität und verweist auf sein Hauptwerk: die Aeneis.
2. Poetologische Selbstverortung
• „Poeta fui“ – „Ich war ein Dichter“ – ist eine lapidare, fast lapidar-stolze Selbstdefinition. Es ist mehr als biographisch: Vergil identifiziert sich nicht nur mit seinem Beruf, sondern mit einer kulturellen und ethischen Mission – der des epischen Sängers der römischen Ursprünge.
• „Cantai di quel giusto figliuol d’Anchise“ – Er beschreibt Aeneas nicht nur als Held, sondern als „giusto“ – gerecht, rechtschaffen. Diese moralische Wertung ist entscheidend: Aeneas verkörpert pietas, die römische Tugend der Treue zu Göttern, Familie und Vaterland. Dante betont hier jene Tugenden, die das Fundament seiner eigenen ethischen und politischen Ordnung bilden.
3. Historisch-mythologischer Gehalt
• „Quel figliuol d’Anchise che venne di Troia“ – Das ist Aeneas, Sohn des trojanischen Adligen Anchises und der Göttin Venus. In der römischen Mythologie flieht Aeneas nach dem Fall Trojas (Ilïón) und legt so den Grundstein für die Gründung Roms – über Umwege durch Italien und die Latinische Heirat.
• „Poi che ’l superbo Ilïón fu combusto“ – „Ilion“, ein alter Name für Troja, wird als „superbo“, stolz oder hochmütig, bezeichnet – eine Wertung, die den Fall der Stadt als Strafe für Hybris inszeniert, im Sinne antiker Tragödien und göttlicher Gerechtigkeit. Auch hier spiegelt sich ein zentrales Thema der Commedia: die moralische Ordnung des Universums.
4. Theologisch-symbolische Bedeutung
In der gesamten Divina Commedia dient Vergil als Repräsentant der menschlichen Vernunft (ragione). Dass er der Sänger des „giusto“ Aeneas ist, zeigt, dass diese Vernunft auch ethisch orientiert ist – nicht bloß intellektuell. Der Fall Trojas steht als Bild für das Ende einer Ordnung und den Beginn einer neuen: der römischen Zivilisation, die Dante als Voraussetzung für das Christentum sieht.
• Vergil ist also nicht nur poeta, sondern auch ein profeta im weiteren Sinn – einer, der das Kommen der göttlichen Ordnung vorbereitet, obwohl er selbst nicht Teil ihrer endgültigen Offenbarung (d. h. des christlichen Heils) ist.
5. Sprachlich-stilistische Aspekte
Die Sprache ist einfach, aber majestätisch. Die Alliteration von „figliuol d’Anchise che venne di Troia“ bringt rhythmische Ruhe und Feierlichkeit. Der Ausdruck „fu combusto“ (wurde verbrannt) am Ende wirkt stark und endgültig. Die Wörter tragen epischen Ton, aber durch den knappen Stil entsteht auch eine liturgische Würde, die typisch für Dantes Dichtung ist.