1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 070-072

dante inferno 1

Nacqui sub Iulio, ancor che fosse tardi,
e vissi a Roma sotto ’l buono Augusto
nel tempo de li dèi falsi e bugiardi.

poetisch-elegant
Ich ward geboren unter Julius’ Stern, wenn auch spät,
und lebte zu Roms Zeit des edlen Augustus,
da noch die falschen, trügenden Götter verehrt wurden.

wörtlich-nah
Ich wurde geboren unter Julius, wenn auch spät,
und lebte in Rom unter dem guten Augustus,
in der Zeit der trügerischen und falschen Götter.

dramatisierend-historisch
Geboren ward ich unter Julius – wenn auch gegen das Ende –,
lebte in Rom, als Augustus gerecht regierte,
in jener Ära, da noch trügerische Götzen das Volk täuschten.

Philologisch-sprachlich

• "sub Iulio" – lateinisches Idiom („unter Julius“), meint den Zeitraum der Herrschaft Julius Cäsars. Doch „ancor che fosse tardi“ zeigt an, dass Vergil zwar in dieser Ära geboren wurde, aber spät – Cäsar wurde 44 v. Chr. ermordet, Vergil wurde 70 v. Chr. geboren. Hier scheint Dante poetische Freiheit zu nutzen: entweder verwechselt er die chronologische Reihenfolge oder meint symbolisch das Ende dieser Epoche.
• "buono Augusto" – Augustus (Octavian) wird als „der Gute“ bezeichnet. Dante nimmt damit Bezug auf die pax augusta und idealisiert die römische Ordnung.
• "dèi falsi e bugiardi" – „falsche und lügenhafte Götter“: ein typisch mittelalterlich-christliches Verdikt über die antiken Götter, hier vollständig unter der Perspektive christlicher Wahrheit verurteilt. „bugiardi“ (Lügner) betont die Täuschung durch heidnische Religion.

Historisch

• Vergil (70–19 v. Chr.) wurde tatsächlich zu Lebzeiten Julius Cäsars geboren, lebte aber den Großteil seines Lebens unter Augustus. Er war ein zentraler Dichter des augusteischen Zeitalters und propagierte in der Aeneis die ideologische Legitimation für Augustus’ Herrschaft.
• Dante setzt den Sprecher bewusst in diese Zeit, um Vergil als Repräsentanten des höchsten vorchristlichen Humanismus zu präsentieren – ein virtuous pagan, der im Limbo wohnt.

Theologisch

• Die „Zeit der falschen und lügenhaften Götter“ verweist auf den Zustand der Welt vor der Offenbarung Christi. Dante folgt hier der christlichen Überzeugung, dass alle Religionen vor Christus im Irrtum lebten, selbst wenn sie tugendhafte Ethik lehrten (wie etwa Stoizismus oder platonische Philosophie).
• Dies spiegelt Augustinus' Position wider: die heidnischen Religionen sind nicht nur falsch, sondern dämonisch inspiriert (De civitate Dei). Dennoch ist Augustus bei Dante „gut“ – eine Ambivalenz, die Dantes Verhältnis zur paganitas zeigt: ethisch schätzenswert, aber theologisch unzureichend.

Literarisch-symbolisch

Diese Passage positioniert Vergil zwischen zwei Welten:
• Einerseits: Römischer Glanz, philosophische Tugend, poetische Größe.
• Andererseits: Verdammte Zeit, da ohne christliche Wahrheit.
• Vergil als Führer Dantes verkörpert die ratio, die Vernunft. Sie kann den Menschen bis zum Purgatorium führen, aber nicht bis zur visionären Schau Gottes (dafür braucht es Beatrice, Gnade, Theologie).
• Der Verweis auf „dèi falsi e bugiardi“ bereitet somit auch die Übergabe des Menschen von Philosophie zu Theologie vor – ein zentrales Motiv der gesamten Commedia.

Fazit

Diese drei Verse verdichten auf engem Raum:
• Dantes Bewunderung für Vergil,
• seine christlich geprägte Sicht auf die Antike,
• die Spannung zwischen ethischer Größe und theologischer Verlorenheit,
• sowie die chronologische Positionierung Vergils als Mittlerfigur zwischen Heidentum und Christentum.

Inferno Gesang 1 Verse 67-69 | Inferno Gesang 1 Verse 73-75

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