1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 064-066

dante inferno 1

Quando vidi costui nel gran diserto,
«Miserere di me», gridai a lui,
«qual che tu sii, od ombra od omo certo!».

poetisch-ehrfürchtig
Als ich ihn sah in jener öden Weite,
rief ich: „Erbarme dich mein, was immer du seist –
ein Schatten oder wahrhaft ein lebender Mann!“

dramatisch-existenziell
Da ich ihn erblickte in der weiten Einöde,
schrie ich: „Erbarme dich meiner!
Wer du auch bist – ein Geist oder ein wirklicher Mensch!“

schlicht-modernisiert
Als ich ihn in der großen Wüste sah,
rief ich: „Hab Erbarmen mit mir,
wer auch immer du bist – ein Schatten oder ein echter Mensch!“

Philologisch und sprachlich

• „Quando vidi costui“ – „costui“ (dieser hier) ist betont präsentisch, zeigt auf jemanden, der greifbar und unmittelbar da ist.
• „gran diserto“ – nicht nur physisch als Einöde, sondern allegorisch als geistige Verlassenheit oder moralische Ödnis zu verstehen.
• „Miserere di me“ – direkt aus dem lateinischen Psalm 51 (50), ein klassischer Bußpsalm: „Erbarme dich meiner, o Gott“ (lat. Miserere mei, Deus). Hier mit liturgischem Gewicht.
• „qual che tu sii“ – bewusst unbestimmt: Der Sprecher weiß nicht, mit wem er es zu tun hat.
• „ombra od omo certo“ – „Schatten oder wirklicher Mensch“: ein Motiv des Zwielichts zwischen Leben und Tod, Realität und Erscheinung.

Literarisch-symbolisch

• Kontext: Dante trifft in seiner Selva oscura (dunkler Wald) auf die Erscheinung eines Mannes – es ist Vergil. Der Wald symbolisiert die Irre, Sünde, Orientierungslosigkeit. Das Auftreten Vergils ist Wendepunkt.
• Vergil erscheint als Führer, als Retterfigur, aber zunächst ist seine Identität unklar. Dante sieht ihn zunächst wie ein numinoses Wesen: vage, zwischen Leben und Tod.
• Die Anrufung ist eine klassische Topos des Hilferufs in der antiken wie christlichen Literatur (vgl. Aeneas an seine Götter, Bußpsalmen in der Bibel).

Theologisch

• Die Formulierung „Miserere di me“ verweist auf das christliche Bußbewusstsein. Dante erkennt in seiner Lage seine eigene Schuld und ruft nach Gnade – der erste Schritt zur Erlösung.
• Die Unsicherheit über Vergils Natur („ombra od omo certo“) verweist auf das Zwischenreich, in dem Vergil als heidnischer Geist existiert: nicht verdammt, aber ohne Heil. Diese Ambiguität spielt auf die theologische Spannung zwischen Gnade und Vernunft an.
• Vergil ist zwar tot, aber von Gott (über Beatrice) als Werkzeug der Rettung gesandt – dies verweist auf die augustinische Lehre, dass auch natürliche Tugend zur Vorbereitung auf die Gnade dienen kann.
4. Historisch-kulturell
„Miserere“ war im Mittelalter sowohl bekannt aus der Liturgie als auch aus der privaten Bußpraxis (Gebete, Psalmen).
Dantes Zitierung verbindet das klassische Bildungsgut (Vergil als lateinischer Autor) mit christlicher Frömmigkeit.
Die Figur des Vergil als Retter erscheint im Kontrast zur antiken Tradition: In der Aeneis ist er Führer in die Unterwelt – hier aber wird er Führer auf dem Weg zur Erlösung.

Poetisch-kompositorisch

• Der Rhythmus des Verses 65 („Miserere di me“) ist kurz, klagend, abrupt – ein stilistisches Abbild der Verzweiflung.
• Das Spiel mit Gegensätzen: Leben/Tod, Klarheit/Ungewissheit, Sünde/Erbarmen – ist typisch für die Commedia als dramatisch-theologisches Werk.
• Die drei Verse markieren den Übergang von Furcht zur Hoffnung: Der Wanderer ruft nicht mehr „Weh mir!“, sondern fleht um Gnade – ein erster Akt der Willensumkehr (conversio).

Inferno Gesang 1 Verse 61-63 | Inferno Gesang 1 Verse 67-69

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