Mentre ch’i’ rovinava in basso loco,
dinanzi a li occhi mi si fu offerto
chi per lungo silenzio parea fioco.
poetisch, bildlich
Während ich weiter in den Abgrund stürzte,
trat mir plötzlich einer vor die Augen,
der durch langes Schweigen matt und blass erschien.
wörtlich-nüchtern
Während ich in tieferes Gelände hinabstürzte,
erschien mir vor den Augen
jemand, der durch langes Schweigen schwach schien.
dramatisch, theatralisch
Als ich tiefer und tiefer stürzte,
trat vor meine Augen ein Schatten,
dessen Stimme kaum hörbar war nach so langem Schweigen.
Philologisch / Sprachlich
a. „rovinava“
• Vom Verb rovinare (stürzen, einstürzen), Imperfekt: „ich stürzte fortwährend“ → Hinweis auf einen fortlaufenden Prozess des Fallens.
• Im metaphorischen wie auch topographischen Sinn zu verstehen: geistiger Abstieg + Bewegung in dunkles Gelände.
b. „basso loco“
• Wörtlich: „tiefer Ort“, ein Topos für Unterwelt oder geistige Tiefe (vgl. lat. inferus).
• Bedeutet sowohl geografisch „Tal, Hölle“ als auch seelisch-moralisch „Zustand der Verirrung“.
c. „mi si fu offerto“
• Ungewöhnliche Konstruktion: Passivform mit reflexivem Element („wurde mir dargeboten“).
• Erzeugt eine plötzliche, fast göttlich vermittelte Erscheinung – wie ein „Epiphanie“-Moment.
d. „chi per lungo silenzio parea fioco“
• „chi“ = „jemand, der“ – ein noch nicht identifizierter Schatten (es ist Vergil).
• „fioco“ (blass, schwach, heiser) → Bezug auf Stimme und Präsenz.
• „lungo silenzio“ verweist auf die lange Zeit, die Vergil (seit der Antike) geschwiegen hat – als Stimme der „heidnischen Weisheit“, nun wiedergerufen.
Theologisch / Allegorisch
• Vergils Auftreten geschieht im Moment der maximalen Verwirrung Dantes, was ihn zu einem von der Vorsehung gesandten Führer macht.
• Das „lange Schweigen“ symbolisiert die Pause zwischen Heidentum und Christentum: Vergil, als Stimme der natürlichen Vernunft, ist lange verstummt im christlichen Zeitalter, kehrt aber nun zurück als Vorläufer und Führer zur Wahrheit.
• „fioco“ lässt ihn beinahe gespenstisch erscheinen, nicht nur altersbedingt, sondern weil er aus einer anderen Welt stammt – der der liminalen, nicht erlösten Geister.
Literarisch / Poetologisch
• Die Szene ist stark dramaturgisch inszeniert: Die Spannung des Falls wird durch die plötzliche Erscheinung aufgebrochen.
• „mi si fu offerto“ klingt passivisch und sakral zugleich – als ob nicht Dante, sondern das Schicksal (oder Gott) diesen Helfer gesandt habe.
• Die Wortwahl „fioco“ evoziert nicht nur akustische Schwäche, sondern auch visuelle Blässe – ganz im Sinne mittelalterlicher Darstellung „unerlöster Seelen“.
• Es ist ein Moment der Offenbarung, aber noch voller Geheimnis – die Figur wird erst später (V. 67) als Vergil identifiziert.
Dramaturgisch / Narrativ
• Der Vers steht am Übergang von Dantes persönlicher Verwirrung zur göttlichen Rettung: Die Rettung beginnt nicht mit Klarheit, sondern mit einer undeutlichen, leisen Gestalt.
• Das lange Schweigen suggeriert auch, dass die Zeit der Vernunft vergangen ist, aber jetzt in Dantes Notlage wieder aufgerufen wird.
Symbolisch / Psychologisch
• Die Szene spielt sich auch in Dantes Seele ab: das „rovinare“ steht für den Abstieg in Verzweiflung.
• Die „erscheinende Figur“ ist eine innere Stimme – die Vernunft, die wieder hörbar wird, wenn alles andere versagt hat.
• Das lange Schweigen steht für Dantes Entfremdung von Weisheit und Maß, deren Wiederkehr zuerst unklar, schwach erscheint – aber dennoch wirksam.
Zusammenfassung
• Sprache | Lebendige Metaphorik des Sturzes, altertümlich-passive Wendung der Erscheinung
• Theologie | Epiphanie der natürlichen Vernunft (Vergil), göttlich gesandter Führer
• Poesie | Wechsel von dynamischer Bewegung zu stiller Offenbarung
• Psychologie | Symbol des inneren Gewissens oder Maßes, das in der Verirrung wieder hörbar wird