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Inferno 01 / 058-60

dante inferno 1

tal mi fece la bestia sanza pace,
che, venendomi ’ncontro, a poco a poco
mi ripigneva là dove ’l sol tace.

poetisch-klassisch
So machte mich das Tier voll Unrast sein,
das langsam auf mich zukam – Schritt für Schritt –
und rückwärts trieb, wo nie ein Sonnenstrahl erscheint.

philologisch genau
So sehr erschreckte mich das ruhelose Tier,
das mir entgegenschritt, langsam, Schritt um Schritt,
dass es mich zurücktrieb dorthin, wo die Sonne schweigt.

moderne poetisch
So tief erschütterte mich das rastlose Tier,
das mir entgegenkam, langsam, unerbittlich,
dass es mich zurücktrieb in das Reich der Sonnenfinsternis.

Vers 58: „tal mi fece la bestia sanza pace“

> „So machte mich das Tier ohne Frieden.“
Philologische Beobachtungen:
• „tal“ („so“, „auf solche Weise“) verweist auf einen inneren Zustand – Schrecken, Lähmung, seelische Unruhe.
• „la bestia sanza pace“ („das Tier ohne Frieden“): Der Ausdruck kennzeichnet die Wolfin (Vers 49) – Symbol der Gier, Unersättlichkeit, innerer Unruhe.
• „sanza“ = archaisches „senza“ (ohne); betont das radikale Fehlen von „pace“, nicht nur äußerlich, sondern metaphysisch.
Theologische Dimension:
• Die Wolfin als Allegorie der Sünde der Habgier (vgl. Summa Theologiae II-II.118).
• Ihr „Unfriede“ ist teuflisch: sie bringt Unordnung ins Seelenleben, sie steht für das, was Augustinus als privatio pacis Dei beschreibt – das Fehlen des göttlichen Friedens.

Vers 59: „che, venendomi ’ncontro, a poco a poco“

> „die, mir entgegenschreitend, langsam, nach und nach“
Poetische Struktur:
• Alliteration in „poco a poco“ evoziert rhythmisch das zögerliche, fast rituelle Näherkommen.
• „venendomi ’ncontro“: Präsenz des Tieres wird dramatisch, es ist kein plötzlicher Angriff, sondern ein gradueller, psychologisch lähmender Prozess.
Psychologisch-symbolisch:
• Die Sünde (Gier) kommt nicht abrupt, sondern verführt stufenweise.
• In Übereinstimmung mit den Theorien Gregors des Großen zur Versuchung: „Suggerit, delectat, consentit“ – sie beginnt im Inneren, wächst langsam, bis zur Kapitulation.

Vers 60: „mi ripigneva là dove ’l sol tace“

> „trieb sie mich zurück dorthin, wo die Sonne schweigt.“
Philologische Tiefe:
• „ripigneva“: Imperfekt von „ripignere“ – „zurückstoßen“, impliziert eine Kraft von außen, gegen den Willen.
• „là dove ’l sol tace“ – poetisches Umschreiben der Hölle.
• „tace“ (schweigt) ist eine personifizierende Metapher: die Sonne spricht sonst durch Licht, Leben, Wärme – hier: Entzug aller göttlichen Eigenschaften.
Allegorische Interpretation:
• Rückkehr in die Zustände der Verirrung, der Sünde, der Gottesferne.
• Der Ort „wo die Sonne schweigt“ ist auch ein Ort ohne Logos – das Gegenteil des Johannesevangeliums, wo Christus als Licht der Welt erscheint (Joh 8,12).

Zusammenschau und Gesamtdeutung

• Ethisch | Die Gier entreißt den Menschen der sittlichen Ordnung und dem inneren Frieden.
• Theologisch | Gier als Wurzel schwerer Sünde (vgl. 1 Tim 6,10), treibt zur Gottesferne zurück.
• Psychologisch | Das Tier wirkt durch lähmende Angst, schrittweise Versuchung – Symbol für die Dynamik innerer Zerrissenheit.
• Poetisch | Rhythmus, Metaphern und Klang (z.B. Alliteration, Dissonanz „tace“) verstärken das Bild einer existenziellen Abwärtsbewegung.
• Topographisch | Beginn der eigentlichen Höllenreise: Licht – Dunkelheit; Aufstieg – Rückstoß; Hoffnung – Verzweiflung.

Inferno Gesang 1 Verse 55-57 | Inferno Gesang 1 Verse 61-63

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