1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 052-054

dante inferno 1

questa mi porse tanto di gravezza
con la paura ch'uscia di sua vista,
ch'io perdei la speranza de l'altezza.

Poetisch-existential
Diese bedrückte mich so schwer
und die Angst, die aus ihrem Blick quoll,
ließ mich die Hoffnung auf die Höhe verlieren.

Modern-psychologisch
Sie lastete so schwer auf mir,
und der Schrecken, der von ihrem Anblick ausging,
raubte mir jeden Mut zum Aufstieg.

Wörtlich-nahe
Sie brachte mir so große Schwere
durch die Furcht, die aus ihrem Anblick kam,
dass ich die Hoffnung auf die Höhe verlor.

Philologische Aspekte

• "Questa" – bezieht sich auf das Tier in der vorherigen Zeile: la lonza, il leone, oder la lupa? In Vers 49 wird die "lupa" (Wölfin) als letztes Tier erwähnt. Daher ist „questa“ eindeutig die Wölfin – Symbol der Habgier (avarizia) oder unersättlichen Begierde.
"mi porse tanto di gravezza"
• – wörtlich: „reichte mir so viel Schwere“, also: „belastete mich so stark“
• – porse ist eine Form von porgere, was im übertragenen Sinn eine Wirkung oder ein Erleben bezeichnet: nicht physisch gereicht, sondern metaphysisch auferlegt.
"con la paura ch’uscia di sua vista"
• – „mit der Angst, die aus ihrem Anblick ausströmte“
• – uscire di vista: das Sehen selbst löst Angst aus. Die Angst kommt nicht aus dem Tier selbst, sondern aus seiner Erscheinung – ein fast epiphanisches Grauen.
"ch’io perdei la speranza de l’altezza"
• – altezza: wörtlich „die Höhe“, allegorisch die spirituelle Erhebung, die Erlösung, vielleicht sogar Gott selbst oder die selige Schau.
• – perdei: archaische Form von perderei – „ich verlor“.
• – speranza: Hoffnung (vgl. Paulus, Römer 8:24). Dante verliert nicht nur Mut, sondern theologische Hoffnung (eine der drei göttlichen Tugenden).

Theologische Deutung

• Die Wölfin steht traditionell für die Habgier – eine Sünde, die Dante für besonders zerstörerisch hält.
• Ihre bloße Erscheinung zerstört im Menschen die Fähigkeit zur Transzendenz.
• Verlust der „Hoffnung auf die Höhe“ bedeutet: Der Pilger zweifelt an seiner Fähigkeit, zur salus (Rettung) zu gelangen – ein geistlicher Abstieg.
• Im Hintergrund steht vielleicht Augustinus' Gedanke, dass ungeordnete Begierde (concupiscentia) das Herz nach unten zieht.

Poetisch-allegorische Interpretation

• Die „altezza“ ist nicht nur der Hügel am Anfang des Canto (symbolisch: das Heil), sondern die metaphysische Höhe: Gott, Tugend, Erkenntnis.
• Die Angst ist nicht bloß emotionale Furcht, sondern eine Art dämonische Ehrfurcht, ein Schauder, der lähmt.
• Die Bewegung des Pilgers wird von der Wölfin „gewichtsartig“ (gravitational) gestoppt: Ein Bild für das Gefangensein in den unteren, triebhaften Regionen der Seele.
• Im allegorischen Sinne: Der Mensch, durch die Begierde betäubt und geängstigt, verliert sein Ziel – die kontemplative „altezza“.
Philosophisch-anthropologische Dimension
• Dante beschreibt den Zustand des modernen Menschen (bereits 1300!) als einen, der durch äußere Erscheinungen (vista) in die Angst geführt wird.
• Diese Angst (paura) hat epistemologische Konsequenzen: Man sieht, aber erkennt nicht.
• Der Wille (speranza) ist geschwächt – das aristotelisch-thomistische Zusammenspiel von Vernunft, Wille und Vorstellungskraft gerät aus dem Gleichgewicht.
• Man könnte sagen: Die „vista“ erzeugt ein falsches Bild, das die intentionale Ausrichtung des Geistes zersetzt.

Inferno Gesang 1 Verse 49-51 | Inferno Gesang 1 Verse 55-57

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