Ed una lupa, che di tutte brame
sembiava carca ne la sua magrezza,
e molte genti fé già viver grame,
Poetisch-literarisch
Und eine Wölfin, die von aller Gier
schien überladen in ihrer Magerkeit
und vielen schon das Leben gram gemacht.
Modern und sinnbetont
Eine Wölfin kam, die trotz ihrer Magerkeit
voll unersättlicher Begierde schien
und vielen das Dasein bitter gemacht hatte.
Wörtlich-treu
Und eine Wölfin, die mit allen Begierden
beladen schien in ihrer Dürre,
und viele Völker hatte sie schon elend leben lassen.
Wörtlicher Sinn & Sprachliche Beobachtungen
• "Ed una lupa" – Und eine Wölfin: Die Wölfin ist das dritte Tier, dem Dante im ersten Gesang begegnet (nach Leopardin und Löwe).
• "che di tutte brame / sembiava carca ne la sua magrezza" – „die von allen Begierden beladen schien in ihrer Magerkeit“:
• Paradoxon: magrezza (Magerkeit) – also äußerliche Schwäche – wird kombiniert mit carca di tutte brame („beladen mit allen Begierden“), was auf unstillbare Gier hinweist.
• "e molte genti fé già viver grame" – „und sie ließ viele Menschen schon elend leben“:
• fé viver grame: archaisch für „ließ elend leben“, d.h. sie stürzte viele ins Unglück.
• genti kann Völker oder Menschengruppen bedeuten – die Wölfin hat eine umfassende soziale Wirkung.
Allegorische Bedeutung
• Die Wölfin steht traditionell für Habgier, Unersättlichkeit, manchmal auch für Lust oder allgemeine sündhafte Begierde (concupiscentia).
• Sie ist das gefährlichste der drei Tiere – unaufhaltsam, nie gesättigt, sie zwingt Dante zur Umkehr.
• Der Ausdruck "di tutte brame" deutet auf die universelle Form der Gier hin – nicht nur materiell, sondern auch geistig und sozial.
Theologische Perspektive
• In der Scholastik, besonders bei Thomas von Aquin, ist cupiditas (ungeordnete Begierde) die Wurzel aller Sünden. Die Wölfin verkörpert diese zentrale Verdorbenheit.
• Im Augustinismus ist Gier (avaritia) ein Zeichen der Abkehr von Gott hin zur Welt – also amor sui usque ad contemptum Dei (Selbstliebe bis zur Verachtung Gottes).
• Sie blockiert den Weg des Pilgers zur Selbsterkenntnis und zur Erlösung.
Poetisch-rhetorische Mittel
• Paradoxon: Magerkeit als Symbol der Gier – eine elegante Darstellung, dass Gier nie satt macht.
• Symboltiertradition: Anlehnung an mittelalterliche Bestiarien (vgl. Physiologus).
• Alliteration & Klang: „brame“, „carca“, „magrezza“, „grame“ – evozieren einen harschen, ausgedörrten Klangteppich → unterstreicht das Zerstörerische.
5. Historisch-politischer Kontext
• Die Wölfin wurde in späteren Jahrhunderten oft als Symbol für Korruption der Kirche (vgl. Petrarca) oder Habgier der Kurie gelesen.
• Bei Dante steht sie teils auch für die Florentinische Gesellschaft seiner Zeit – von Gier, Machtstreben und innerer Zerrissenheit gezeichnet.
6. Vergleich mit antiken & christlichen Symbolen
• In Vergils Aeneis wird die Wölfin („lupa“) als ambivalentes Symbol verwendet (z. B. bei Romulus und Remus), bei Dante aber klar negativ konnotiert.
• In der Bibel sind Wölfe oft Räuber und Verführer (vgl. Matthäus 7,15 – „falsche Propheten in Schafskleidern, inwendig aber reißende Wölfe“).