sì ch'a bene sperar m'era cagione
di quella fiera a la gaetta pelle
l'ora del tempo e la dolce stagione;
ma non sì che paura non mi desse
la vista che m'apparve d'un leone.
Poetisch-lyrisch
So ließ mich hoffen voller Zuversicht
das Tier mit seinem schimmernden Gesicht,
die Stunde mild, die Jahreszeit so lind –
doch nicht so sehr, dass nicht vor Angst entglitt
mir Mut beim Anblick eines Löwenkind.
Literarisch-präzise
So gab mir Grund zur Hoffnung jene Bestie
mit ihrem Fell, so heiter anzusehen,
die Stunde auch und jene milde Jahreszeit.
Doch nicht genug, um mir nicht Furcht zu geben –
denn da erschien ein Löwe meinem Blick.
Modern-deutend
Ich schöpfte Mut, ja fast schon Zuversicht,
als ich das Tier mit seinem hellen Fell erblickte,
und Zeit und Jahreszeit schienen mir günstig.
Doch nicht genug – denn plötzlich trat mir
ein Löwe entgegen – und die Angst war zurück.
PHILOLOGISCHE ANALYSE
"sì ch’a bene sperar m’era cagione":
• sì che („so dass“) leitet eine Folge ein. bene sperar („gutes Hoffen“) ist eine Formulierung des dolce stil novo mit moralischer und spiritueller Konnotation. m’era cagione heißt wörtlich „war mir ein Grund“.
"fiera a la gaetta pelle":
• fiera = Wildtier, Bestie; gaetta ist selten und bedeutet „gefleckt“, „bunt“, „glänzend“, oft in Verbindung mit äußerlicher Schönheit oder Täuschung. Manche Kommentatoren sehen eine Ableitung aus gaietta (freudig, glänzend) oder sogar ein okzitanisches Lehnwort.
"l’ora del tempo e la dolce stagione":
• doppelte Zeitmarkierung – l’ora (Morgenstunde) und la dolce stagione (Frühling) – beide symbolträchtig: Erneuerung, Hoffnung, neues Leben.
"ma non sì che paura non mi desse":
• Doppelte Verneinung: non sì... non mi desse = „aber nicht so, dass es mir nicht Angst machte“ → Ausdruck innerer Ambivalenz: Hoffnung und Angst zugleich.
"la vista che m’apparve d’un leone":
• vista = die Erscheinung/der Anblick; m’apparve = erschien mir; der leone tritt nun als zweite Bestie nach der lonza auf, mit klar kontrastierender Wirkung.
Philologische Analyse
Sprachliche Präzision:
• Dante nutzt das Altitalienische mit großer Klarheit. Die „fiera a la gaetta pelle“ („Tier mit gesprenkelter Haut“) bezeichnet einen Leoparden, Symbol für Sinnlichkeit und Lust. „Gaetta pelle“ leitet sich von gattus (mittelalterl. lat. für „Katze“) her, betont also die Geschmeidigkeit, Schönheit und Gefahr des Tieres.
Metrum und Stil:
• Die Verse stehen im klassischen Endecasillabo-Metrum (elfsilbige Verse). Dante nutzt präzise rhythmische Betonungen, um innere Spannungen (Hoffnung und Furcht) deutlich zu vermitteln.
Lexikalische Doppelstruktur:
• Dante verbindet bewusst Hoffnung („bene sperar“) mit Angst („paura“), sodass eine subtile Ambivalenz entsteht. Diese Doppelstruktur betont den inneren Konflikt des Erzählers.
Allegorische Bedeutung
• Die drei Tiere in Canto 1 – Leopard, Löwe, Wölfin – symbolisieren drei fundamentale moralische Hindernisse auf dem Weg zur Erlösung:
• Leopard (gesprenkelte Haut): Symbol der Begierde und fleischlichen Lust.
• Löwe („leone“): Symbolisiert Stolz, Hochmut und weltliche Macht, die einschüchtert und Angst erzeugt.
• Wölfin („lupa“): Symbol der Gier, Habsucht und Unersättlichkeit, die den Weg zur moralischen Besserung blockiert.
• Die Allegorie deutet den spirituellen Zustand des Menschen an: Dante befindet sich in der Mitte seines Lebens (35 Jahre alt, symbolisch die Hälfte der biblischen Lebensdauer von 70 Jahren) und muss sich mit diesen Sünden konfrontieren, um Erlösung zu finden.
Theologische und philosophische Dimension
Augustinische Anthropologie:
• Die Passage spiegelt die augustinische Lehre wider, wonach der Mensch zwischen Hoffnung auf göttliche Gnade („bene sperar“) und der Furcht vor der Sünde schwankt. Der Löwe repräsentiert insbesondere den Stolz (superbia), der nach Augustinus Wurzel aller Sünden ist.
Thomistische Ethik:
• Die Passage impliziert auch eine thomistische Sichtweise, nach der die Vernunft (ratio) und Wille (voluntas) ständig gegen die Triebe kämpfen. Dantes Angst zeigt, dass die rein natürliche Hoffnung („dolce stagione“) nicht ausreicht – göttliche Hilfe (später repräsentiert durch Vergil und Beatrice) ist notwendig.
Poetisch-formale Aspekte
Symbolik der Jahreszeit („dolce stagione“):
• Frühling symbolisiert Neubeginn und Hoffnung. Diese positive Stimmung steht in scharfer Spannung zur unmittelbar folgenden Bedrohung durch die Raubtiere – eine klassische antithetische Struktur.
Stilistische Mittel:
• Dante verwendet Antithesen (Hoffnung vs. Angst), um den seelischen Konflikt effektvoll darzustellen. Die Metapher der Tiere verleiht dem Text eine universelle Aussagekraft, verknüpft konkrete sinnliche Wahrnehmung mit abstrakter Bedeutung.
Historischer und autobiografischer Kontext
Exil und politische Metapher:
• Dante verfasst das Inferno im Exil (1302–1321). Der Löwe als Sinnbild des Stolzes könnte metaphorisch auch auf politische Mächte verweisen, insbesondere auf das politisch übermächtige und bedrohliche Florenz oder den Anspruch imperialer Mächte seiner Zeit (Heiliges Römisches Reich).
Midlife-Crisis als Ausgangspunkt:
• Dante datiert die Handlung symbolisch auf das Jahr 1300, als er selbst 35 Jahre alt war. Er reflektiert somit autobiografisch seine eigenen ethischen, spirituellen und politischen Kämpfe.
Rezeption und Wirkung
Mittelalterliche und frühneuzeitliche Deutungen:
• Kommentatoren wie Boccaccio und Benvenuto da Imola interpretierten die drei Tiere moralisch und politisch. Diese Deutungen prägten lange Zeit das Verständnis der Stelle.
Moderne literarische Rezeption:
• Die Allegorie der Tiere wurde vielfach rezipiert, etwa von T.S. Eliot in „The Waste Land“ (symbolisch übernommene Motive der Unordnung und Verzweiflung) und in zahlreichen Adaptionen und Interpretationen, die Dante als Sinnbild existenzieller und moralischer Krisen nutzen.
Philosophische Aktualität:
• In der Gegenwart ist besonders der allegorisch-symbolische Aspekt beliebt, da Dantes Darstellung einer existenziellen Krise, der Konfrontation mit Ängsten und der Notwendigkeit der Hoffnung, weiterhin modern wirkt.
Zusammenfassend
• Die ausgewählte Passage aus Canto 1 verbindet auf dichter Weise sprachliche Präzision, allegorische Tiefe, philosophisch-theologische Reflexion, poetische Kunstfertigkeit und einen reichen autobiografisch-historischen Kontext. Ihre lebendige Rezeption unterstreicht die zeitlose Aktualität der existenziellen und ethischen Fragen, die Dante hier aufwirft.